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»Mitteleuropäisches Land sucht fitte Profis (keine Klatsch-Luschen!) zum Regieren. Alter und Geschlecht spielen keine Rolle. Bitte schicken Sie Ihre Bewerbungsunterlagen an: Bundestag, Berlin, Germany.«

Die Bewerbungsgespräche könnten die volksnahen Fernsehmoderatoren Christiansen, Raab, Schmidt und Maischberger übernehmen. Sie sollten aber streng nach den üblichen Regeln ablaufen.

»Was haben Sie früher regiert? Wie sind Ihre Gehaltsvorstellungen, und wo sehen Sie sich in fünf Jahren?«

»Ich war zwei Legislaturperioden als Verteidigungsminister in Südamerika tätig und leitete die Große Koalition auf Madagaskar. Nun möchte ich mich der Herausforderung stellen, in einem industriellen Land die Finanzpolitik zu übernehmen.«

Das Volk wird das nötige Geld zusammenlegen und den einen oder anderen einstellen. Bestimmt wird sich ein so gekaufter Bundeskanzler viel mehr Mühe geben als ein herkömmlicher. Es können auch zehn Vietnamesen oder fünf Polen sein, die den Job zusammen erledigen, preiswert und effizient. Niemand wird sich ihre Namen merken können, die Politik wird aus dem Fernsehen zurück in die Amtsstuben kehren.

Noch besser wäre die Mehrstaatlichkeit in Deutschland. Das ist meine persönliche politische Vision. Sie würde bedeuten, dass alle Kandidaten ihren eigenen Staat auf dem freiem Markt anbieten, wie es zum Beispiel die Telefongesellschaften mit ihren DSL-Angeboten längst machen. Auch Politiker würden ihre Kunden in harter Konkurrenz erkämpfen müssen. Und wenn sie klug genug sind, werden sie ihren Staaten nicht solche uninspirierten Kürzel wie »BRD« oder »DDR« geben, sondern hübsche Frauennamen. Dann wird man auf Wahlkampfplakaten lesen können: »Der Staat Alice mit Schwerpunkt Ökologie, Bildung und Kultur! Dafür ohne Grenzschutz und ohne Armee, für nur 4,99 Euro im Monat!«

Ich warte auf den Staat Alice. Ich glaube fest, dass er kommt.

Каминер В. .: Meine russischen Nachbarn / 107

Hunde

Andrej hat anscheinend einen Weg in eine erfüllte Zweisamkeit gefunden. Er will sich nun einen großen Hund anschaffen und mit ihm eine Mensch-Tier-Gemeinschaft gründen. Ich bezeichnete sein Vorhaben als die berühmte »Berliner Lösung«: Jeder zweite wohnt in unserer Gegend mit einem großen Hund zusammen, der ihm die Eltern, die Kinder und die Frau gleichermaßen ersetzt. Der Hund ist eine preiswerte Familienalternative. In unserer Heimat waren die Hunde ein Luxus. Es waren überwiegend exotische Tiere, die genau wie ein Auto, ein Pelzmantel oder eine ausländische Möbelgarnitur etwas über den Wohlstand der Familie verrieten. Nicht jeder konnte sich einen so teuren Spaß erlauben. Aber wenn, dann musste es schon ein ganz besonderer Hund sein.

Meine Moskauer Nachbarn aus dem ersten Stock gehörten zu diesen Leuten, die sich für etwas Besonderes hielten. Beide waren Biochemiker, und man munkelte, sie hätten etwas Wichtiges

Каминер В. .: Meine russischen Nachbarn / 108

erfunden. Ihr Sohn spielte nicht mit den anderen Jungs auf dem Hof und ging nicht wie alle anderen in die Schule N 701, sondern in ein englisches Internat am anderen Ende der Stadt, wo er unter anderem Schach spielen lernte. Diese Kleinfamilie also kaufte sich 1981 auf dem Schwarzmarkt ein rotes Malteserhündchen, um sich damit von den anderen Hausbewohnern noch deutlicher abzuheben. Als Baby war der Malteser sehr hübsch, und gar nicht rot, sondern nur ein wenig rosig. Er wuchs aber sehr schnell und ungleichmäßig. Nach sechs Monaten hatte er einen Riesenkopf und einen Riesenbauch, aber seine Füße blieben kurz. Er wurde immer dunkler, nur sein Schwanz spielte ins Hellrote.

Eine solche Hundeentwicklung führte dazu, dass der Malteser sich nicht mehr richtig bewegen konnte. Wenn er zum Beispiel die Treppe hinuntermusste, schlug er mit dem Maul auf jeder Stufe auf. Zurück in die Wohnung hinauf kroch er wie eine Schlange. Seine Besitzer mussten ihn ständig hin und her tragen und wurden deswegen von den anderen Hausbewohnern belächelt. Der rote Malteser verschwand eines Tages aus unserem Haus genauso plötzlich, wie er aufgetaucht war. Man nahm an, dass die beiden Wissenschaftler ihn für ihre wissenschaftlichen Zwecke missbraucht hatten.

Auf sowjetischen Leinwänden wurden Hunde zuerst als wirksame Waffe im Kampf gegen die Kriminalität und zum Schutz unserer Staatsgrenze dargestellt. In Dutzenden von Filmen wie Stille Nacht am Amur oder Bei Fuß, Muchtar spielten übergroße, speziell ausgebildete Deutsche Schäferhunde die Hauptrolle. Sie saßen wochenlang ohne Verpflegung in einem Versteck und ernährten sich ausschließlich von Grenzverletzern, hauptsächlich Japanern, die sie selbst aus großer Entfernung aufspüren und von denen sie nie genug bekommen konnten. Manche Hunde liefen sogar ohne Befehl und auf eigene Gefahr zum Frühstück auf feindliches Territorium, um sich einen Gegner zu schnappen. Ich glaube, dass die japanischen Godzilla-Filme damals in einer Überreaktion auf diese Zwischenfälle entstanden sind.

Später kamen die sogenannten Hundeheuler auf die Leinwand: allerlei tragische Geschichten darüber, wie ein Hund von seinem Besitzer verraten wurde, ihm aber trotzdem treu blieb. Eine solche Filmvorführung musste ich einmal als Zwölfjähriger in Tränen aufgelöst frühzeitig verlassen, weil ich es nicht mehr mit ansehen konnte, wie der blöde Hund den ganzen Film über an einer Bushaltestelle saß und auf seinen Besitzer wartete, der schon gleich am Anfang des Films gestorben war. Ich wünschte mir heimlich, dass auch der Hund von dem Bus überfahren werden würde oder der Busfahrer ihn mit zu sich nach Hause nähme oder wenigstens die unangenehme Frau, die die Fahrkarten kontrollierte. Es war aber ein

Каминер В. .: Meine russischen Nachbarn / 109


Hundeheuler ohne Happyend. So etwas Unmenschliches war nur im Sozialismus möglich. Der Film hieß Der weiße Bim mit dem schwarzen Ohr. Ich werde ihn nie vergessen.

Hier in Berlin, wo jeder Türke mindestens zwei Kinder und jeder Deutsche zwei Hunde hat, sind diese Tiere zu vollwertigen mündigen Bürgern geworden. Sie gehen selbst spazieren oder einkaufen, scheißen überallhin, und ihre Würde ist unantastbar. Hier würde kein Hund ein halbes Leben an der Bushaltestelle verbringen. Wenn sein Besitzer verschwunden wäre, würde der Hund einfach Vermisstenanzeige erstatten. Die meisten Hunde auf der Schönhauser Allee kenne ich seit Jahren, wir sind alte Bekannte. Von meinen Kindern werden sie gar nicht mehr als Tiere wahrgenommen, sondern als eine Art ehrenamtliche Mitarbeiter der Berliner Stadtreinigung, die unsere Straßen im Winter gegen Glatteis schützen. Deswegen sagt mein Sohn auf dem Weg zur Schule immer, wenn er einen besonders großen Hundescheißhaufen sieht: »Gut gemacht, Spiderman.« So heißt eine graue Promenadenmischung mit rotem Halstuch, die unsere Hausfassade besonders graziös bepinkelt.

So einen Spiderman wollte sich Andrej besorgen. Doch das Drehbuch seines Lebens wollte es anders. Statt einem großen Hund zu einem glücklichen Zuhause zu verhelfen, rettete Andrej unerwartet einen Flusskrebs. Und das kam so: Er fuhr nach Friedrichsfelde, um dort einen gerade eröffneten russischen Supermarkt zu besuchen. Die Russen hatten sich dort sehr großzügig eingerichtet. Sie hatte sogar ein Aquarium aufgestellt mit zwei lebendigen Stören darin - einem kleinen und einem großen. Der große war Andrej zu groß, aber den kleinen hätte er gern gebraten. Nein, meinte die Verkäuferin, der sei leider schon von einem Ehepaar vorbestellt worden, die Glücklichen würden jede Minute aufkreuzen. Andrej beschloss zu warten, denn vielleicht kamen die beiden ja nicht oder ließen sich überreden, den Fisch mit ihm zu teilen.

Sie kamen: ein älteres deutsches Ehepaar mit großem rundem Aquarium im Gepäck. Der kleine Stör, der gar nicht so klein war und locker viereinhalb Kilo auf die Waage brachte, wanderte in das runde Ding.

»Soll ich Ihnen ein wenig Eis hineintun?«, fragte die Verkäuferin fürsorglich.

»Wollen Sie ihn nicht mit mir teilen?«, fragte Andrej für alle Fälle. Die Frau erschrak. »Das kommt gar nicht in Frage!«, antwortete sie

aufgeregt.

»Um diesen Fisch richtig zuzubereiten, braucht es ein wenig kulinarisches Knowhow. Ich kann Ihnen ein paar gute Rezepte verraten«, trumpfte Andrej auf. »Was wollen Sie denn machen?«

Каминер В. .: Meine russischen Nachbarn / 110


»Wir wollen gar nichts mit ihm machen«, erwiderte die Frau. »Wir lassen ihn frei!«

Andrej erschrak. »Wie denn - in der Badewanne?«

»Wieso denn in der Badewanne? Wir haben einen kleinen Teich im Garten, dort wird er leben.«

»Bei den Temperaturen wird er in Ihrem Teich keine fünf Minuten überleben!«, log mein Nachbar. Die Frau zeigte sich jedoch gut vorbereitet:

»Stimmt nicht«, sagte sie. »Störe kommen aus Sibirien, sie können noch viel niedrigere Temperaturen aushalten.«

Ihr Mann schwieg die ganze Zeit und zählte sein Geld.

»Na, Dietmar, mindestens ein Leben haben wir jetzt gerettet. Lass uns den großen auch noch mitnehmen!«, meinte die Frau zu ihrem Mann.

»Nein, Liebling, das geht nicht. Das können wir uns nicht leisten. Außerdem passt er nicht ins Aquarium.

»Lassen Sie uns den großen doch teilen!«, mischte Andrej sich ein. Die beiden kuckten ihn an wie einen Kannibalen und verließen den

neuen russischen Supermarkt. Er blieb allein an der Fischtheke zurück und fühlte sich unwohl. Plötzlich hatte er ein schlechtes Gewissen, ohne etwas Unrechtes getan zu haben. Er musste dringend etwas Gutes tun.

»Haben Sie noch irgendwas zu retten?«, fragte Andrej die Fischverkäuferin.

Ja, das hatte sie! Und so rettete er den letzten Krebs, der mit zusammengebundenen Scheren verschüchtert in der Ecke des Aquariums hockte. Dieser Flusskrebs erwies sich als außerordentlich intelligent. Andrej nannte ihn Pawlow zu Ehren des berühmten Wissenschaftlers. Pawlow isst am liebsten Leberwurst und sitzt gerne im Dunkeln. Wenn es ihm in der Duschwanne zu langweilig wird, setzt er sich auch schon mal auf den Rand und sieht Andrej bei der Morgentoilette zu. Der Hund wurde vergessen, der Flusskrebs ist nun Andrejs bester Freund. Im Sommer fahren sie zusammen an den Müggelsee zum Tauchen.

Каминер В. .: Meine russischen Nachbarn / 111

Wer wird Milliardär?

Meine russischen Nachbarn interessieren sich sehr dafür, wie man in Deutschland superreich wird. Wenn man der hiesigen Forbes-Liste glauben darf, ist es in jedem Land ein anderer Weg, der zu Reichtum führt. Es hat viel mit der Mentalität und den daraus resultierenden Einkaufgewohnheiten zu tun. Was einen Deutschen reich macht, würde Russen bloß in den Wahnsinn treiben und umgekehrt: Was den Russen bereichert, bringt den Deutschen womöglich um. In Amerika ist die Sache längst klar. Dort kommen alle Milliardäre aus dem Netz. Sie haben ihr Geld im Internet, mit dem Internet oder aus dem Internet verdient. Sie leben im Internet und sind in Wirklichkeit eine Computeranimation. Ihr Reichtum ebenso wie ihre ganze Existenz findet in nicht-realen Räumen statt.

In Deutschland sind die Milliardäre solide. Es sind Menschen, die es geschafft haben, eine Unmenge von billigem Fummel und eine astronomische Anzahl von Würstchen in Riesenkonservendosen unter die Massen zu bringen. Die Reichsten unter den Reichen sind

Каминер В. .: Meine russischen Nachbarn / 112

die Gebrüder ALDI, nach der gleichnamigen Lebensmittelladenkette benannt. Sie verkaufen in den größten Kaufhallen die billigsten Lebensmittel, die außerdem noch extrem lange halten. Und wenn man lange genug in diesen Lebensmitteln herumwuselt, findet man immer noch andere Lebensmittel, die noch billiger sind und noch länger halten. Wir hatten einmal einen Lutscher bei den Gebrüdern ALDI gekauft, zwei Wochen lang an ihm gelutscht und ihn dann an die Nachbarn weitergegeben. Sie haben ihn nach drei Monaten aber weggeworfen. Er klebte dann den ganzen Winter an der Mülltonne im Hof fest, ist dabei keinen Zentimeter kleiner geworden - und wer weiß, wie lange die Gebrüder ALDI schon an ihm gelutscht hatten, bevor sie ihn überhaupt an uns verkauften.

Diese Brüder hat keiner jemals so richtig gesehen. Sie sind öffentlichkeitsscheu und kleiden sich unauffällig. Niemand weiß, wie sie aussehen. Jeder Kunde von ALDI könnte ein ALDI-Bruder sein. Das Geheimnis ihres Erfolgs liegt eindeutig in der hiesigen Mentalität. Die Deutschen legen nämlich unheimlich gerne Vorräte an, weil sie sich ständig Gedanken über die Zukunft machen. Es könnte immer etwas geschehen: Die Erde könnte aufhören sich zu drehen, das Bier könnte ausgehen oder die Würste vergriffen sein. Für einen solchen Fall der Fälle haben alle Deutschen Keller. Sie kaufen auf Vorrat ein, und wenn man ihnen dabei zwei Kisten Bier zum Preis von einer anbietet, sagen sie nicht nein. Diese Schwäche ihrer Landsleute haben die Gebrüder ALDI erkannt und zu ihren Gunsten genutzt. Sie haben mehr Lebensmittel an die Massen verkauft, als die Massen imstande sind aufzuessen. Also haben die Massen den Rest im Keller verbuddelt.

Ich glaube, auch die Gebrüder ALDI haben einen Keller, den größten, den es in Deutschland gibt. Dort lagern sie die Lebensmittel, die sie aus verschiedenen Gründen nicht an die Massen verkauft haben. Und sollte es so weit sein, dass ein Krieg ausbricht oder eine Naturkatastrophe, steigen die Brüder mit dem Rest der Bevölkerung in ihren Keller, machen ein Bier auf und kommen erst wieder an die Oberfläche, wenn das Übel vorbei ist. Allerdings verfallen die meisten Lebensmittel trotz Konservierungsstoffe, wenn zu lange nichts passiert. Dann werden die Deutschen nervös und marschieren für alle Fälle in Afghanistan ein.

Neben den Gebrüdern ALDI gibt es in Deutschland noch weitere 52 Milliardäre. Es sind in erster Linie Versicherungsvertreter sowie Kaffeeund Aspirin-Produzenten, weil sich die Deutschen stets um ihre Rente sorgen, aus Sorge zu viel Kaffee trinken und davon Kopfschmerzen bekommen. Und nichts hilft bekanntermaßen besser gegen Kopfschmerzen als Aspirin. Der Gerechtigkeit halber muss hier gesagt werden: Es gibt unter den deutschen Milliardären auch einen

Каминер В. .: Meine russischen Nachbarn / 113


Kunsthistoriker, was natürlich die hiesigen Reichen ungemein adelt. In welchem anderen Land werden schon Geisteswissenschaftler so unglaublich reich? Nur in Deutschland. Er besetzt auf der Forbes-Liste Platz 194, der Kunsthistoriker Burda. Leider sind die kunsthistorischen Werke, die ihm zu Reichtum verholfen haben, nicht aufgelistet. Es müssen wahnsinnig wichtige Entdeckungen gewesen sein.

Die deutschen Milliardäre sind bescheidene Menschen, sie fallen nicht auf. Aber auch die russischen Milliardäre leben nicht in Saus und Braus, wie viele denken. Sie müssen sich ständig Gedanken machen, was sie mit ihrem Geld anstellen, weil Geld in Russland eine sehr flüchtige Substanz ist. Man kann es in keiner Bank verstecken, es bleibt nie lange in einer Tasche liegen, springt wie ein Floh von einem zum anderen - heute deins, morgen meins. Deswegen strengen sich russische Milliardäre unheimlich an, um ihr Geld zu bändigen. Trotzdem tauchen auf der russischen Forbes-Liste jedes Jahr neue Namen auf, die alten verschwinden, und niemand fragt sich: Wo ist der sympathische Herr von Platz 64, was war los, was ist mit ihm passiert? Und niemand weint ihm eine Träne nach, außer seiner Mutter oder seiner Frau, wenn er eine hatte. Die russischen Massen sind ihren Milliardären gegenüber schadenfroh, wie Massen halt so sind.

Die Tätigkeiten der russischen Milliardäre sind geheimnisvoller als die der Deutschen. Natürlich gibt es auf der russischen Liste ein paar sibirische Ölscheichs ein paar Nickelund Aluminiummagnaten, doch bei den meisten weiß man überhaupt nicht, womit sie ihr Geld verdient haben. Da steht einfach nur »Herr X., Direktor« oder »Herr Y., Vorsitzender«. Oder einfach nur »Herr X« oder »Y«, als hätte seine Mutter diesem Herrn seine Milliarden ins Bettchen gelegt. Doch alle Welt weiß, weder Mutter noch Vater konnten dies tun. Sie haben ihre aktive Lebensphase im entwickelten Sozialismus verbracht, in dem es keine Reichen geben durfte. Im entwickelten Sozialismus landeten Reiche im Knast. Es sitzen übrigens auch heute ziemlich viele reiche Russen im Knast, gleichzeitig stehen sie auf der Forbes-Liste. Das darf man jetzt. In einer Demokratie schließt das eine das andere nicht aus, man kann gleichzeitig im Knast sitzen und reich sein. Dann lesen wir auf der Forbes-Liste neben Herr X oder Y: »vorübergehend inhaftiert«.

Wie sitzt ein Milliardär seine Strafe ab? Ich stelle mir dabei eine große, gut gelüftete Zelle vor, mit riesigen Nacktfrauenkalendern an der Wand, sauberer Kloschüssel und einem Fernsehgerät mit vergoldeter Fernbedienung. Auch das Fenstergitter ist vergoldet. Dazu vielleicht noch ein Gitarrist, der jeden Morgen zum Frühstück die schönsten und leidenschaftlichsten Knastlieder live zum Besten gibt. Beim genauen Blick auf die Forbes-Liste lässt sich die Frage, Wer wird

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Milliardär? leicht beantworten. Es kann einfach jeden treffen.

Radio

Das Radio hat mir einmal das Leben gerettet. Dabei wollte ich nur mit Sergej und Andrej in der Nähe von Potsdam Pilze sammeln. Eigentlich bin ich kein Freund von so einer Ausbeutung der Natur. Ich wünsche allen Pilzen ein langes Leben. Nur hatten meine Freunde im August einen heißen Tipp bekommen: Dort bei Potsdam, auf dem ehemaligen Übungsgelände der sowjetischen Armee, sollte es wahre Pilzplantagen geben. Es ist ein altes Ammenmärchen, aber manchmal stimmt es tatsächlich: Da, wo einmal die russische Armee stationiert war, sprießen anschließend wie verrückt Pilze aus dem Boden.

Potsdam war nicht weit und Sergej hatte ein Auto, also ließ ich mich überreden. Wie echte Pilzjäger mit Korb und Messer bewaffnet fuhren wir los, fanden eine nette Raststätte, wo wir parkten und

Каминер В. .: Meine russischen Nachbarn / 115

gingen in den Wald. Schnell fiel unsere Gruppe auseinander. Jeder hatte seine eigene Methode für die Pilzsuche, und jeder hielt sich natürlich für den größten Pilzkenner. Der eine suchte nur unter Fichten und zwar ausschließlich auf deren Schattenseite, der andere behauptete, dort wo Farn wächst, könne es keine Pilze geben, weil sie sich nicht vertragen.

Bald konnte ich die Stimmen der beiden kaum noch hören, nur manchmal ein »Oh!« und »Ah!« und »Schau, was ich gefunden habe!« Vor mir hatten die Pilze Angst, sie versteckten sich gründlich. Ich ging ohne System durch den Wald, bog mal links und mal rechts ab, in der Hoffnung irgendwann auf einen ganz großen Pilz zu stoßen. In den drei Stunden, die ich im Wald verbrachte, habe ich auch einiges gefunden, jedoch nichts Pilzartiges: eine Rolle Stacheldraht, wahrscheinlich von den Soldaten zurückgelassen, mehrere illegale Mülldeponien und ein sowjetisches Auto. Es war ein verrosteter Lada mitten in der Wildnis. Im Auto hatten sich Ameisenkolonien angesiedelt, dazu Schnecken, Spinnen und andere kleine Waldbewohner. Außerdem wuchsen dort kleine gelbe Pilze auf dem Rücksitz, die jedoch sehr ungesund aussahen. Ich konnte mir nicht erklären, wie dieses Auto in den Wald gekommen war. Es gab kein Anzeichen auf einen Fahrweg, um den Lada herum war nur dichter Wald. Die einzige Erklärung war: Der Wagen war den Russen beim Abzug ihrer Armee aus dem Flugzeug gefallen.

Ich suchte weiter und fand noch Interessanteres: einen DDR-Plattenbau vom Typ EB 52, noch ziemlich gut erhalten, sogar mit Menschen darin. Direkt vor dem Haus wuchsen große graue Pilze. Die Bewohner schauten jedoch sehr misstrauisch auf mich herunter. Auf meine höfliche Frage, ob diese Pilze gut seien, reagierten sie nicht. Es war ihnen anzumerken, dass sie schon lange im Wald lebten und völlig verwildert waren. Wahrscheinlich sind es die DDR-Flüchtlinge, dachte ich, die gleich nach der Wende zusammen mit ihrer Platte in den Wald gezogen waren und dort nun große graue Pilze züchten. Ich ging zurück ins Dickicht, und bald verlief ich mich völlig. Nur mit Mühe kam ich durch das Unterholz voran und kehrte um, zurück zur Platte. Sie war nicht mehr zu finden. Irgendwann gab ich auf und redete mit mir selbst:

»Toll, Mensch. Das hast du klasse hingekriegt. Jetzt bist du endgültig eins mit der Natur. Bleib einfach da, bald wirst du selber zum Pilz.«

Plötzlich hörte ich Stimmen, jemand sang ein Volkslied. »Menschen!«, dachte ich und rief laut: »Hallo!«

»Du bedeutest mir sehr viel«, sagte die Stimme.

»Hallo! Hey!«, rief ich und ging weiter in Richtung Stimme, doch da war niemand. Sie kam wie aus dem Nichts. Das war wahrscheinlich

Каминер В. .: Meine russischen Nachbarn / 116


meine innere Stimme, überlegte ich. In der lauten Stadt konnte ich sie nie hören, hier in der Stille wollte sie nun mit mir Kontakt aufnehmen. Hör auf deine innere Stimme und alles wird gut!, sagte die innere Stimme. Ich strengte mich an, um alles zu verstehen. Die innere Stimme plapperte aber nur Quatsch:

»Das Wetter in Brandenburg, blabla, die Temperatur liegt bei 28 Grad, und nun hören Sie klassische Musik, Werke von Schumann, Beethoven und Dittersdorf.«

Ich überlegte. Wenn das meine innere Stimme sein sollte, wer war dann Dittersdorf? Von so einem Komponisten hatte ich noch nie gehört, es konnte also unmöglich meine innere Stimme sein. Ich ging dorthin, wo die Musik spielte und ortete sie endlich. Die Musik und die Stimmen kamen von einer hochgewachsenen Fichte, die hinter der Raststätte stand, bei der wir geparkt hatten. Oben an dem Baum war ein ziemlich großer Radiolautsprecher angebracht. Von dort aus orakelte es in Richtung Wald. Meine Freunde waren schon längst dort versammelt und warteten auf mich. Ihre Körbe bewiesen, dass sie ihre Zeit im Wald nicht vergeudet hatten.

»Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt? Wir wollten dich schon als vermisst melden!«, riefen sie. »Hast du dich verlaufen?«

»Nö«, sagte ich, »ich hatte nur ein Rendezvous mit dem Komponisten Dittersdorf.«

Каминер В. .: Meine russischen Nachbarn / 117

Blumen aus Moskau

Meine Nachbarn sind anständige Menschen, sie haben nur eine Macke. Sie lesen keine Zeitung. Ihre Nachrichten beziehen sie aus dem Internet. Papiernachrichten sind Propaganda, sie werden von den Journalisten, die sich für Meinungsmacher halten, extra aussortiert, behaupten sie. Aber, wenn wir uns bei mir auf dem Balkon zu einer Trinkrunde versammeln, lese ich manchmal aus der einen oder anderen Zeitung vor, um die Gesellschaft in ein Gespräch zu verwickeln.

»Berlin bekommt einen neuen Knast«, las ich neulich. Das Thema Knast stieß auf ein unerwartet großes Interesse in der Runde. Jeder hatte einen Freund, der mal gesessen hat oder einen, dem das gerade blühte.

»Ein neuer Knast? Endlich!«, sagte meine Frau. »Wird auch langsam Zeit.«

Der Elektriker aus der Kneipe, in der sie früher gearbeitet hatte, musste einmal dreißig Tage in Tegel absitzen, wegen Schwarzfahrens

Каминер В. .: Meine russischen Nachbarn / 118

und anderer Strafen, erzählte sie. Er fuhr freiwillig ein, wurde aber schon nach zwei Tagen vorzeitig entlassen - aus Platzmangel. Auch ich konnte eine Geschichte beisteuern: Bei uns im Theater hatte sich einmal ein älterer Herr als Theaterdirektor beworben. Er sah sehr solide aus und hinterließ einen guten Eindruck im Bewerbungsgespräch, wo er erzählte, wie er das Theatralische im Leben über alles schätze. Danach verschwand er jedoch genau so plötzlich wie er aufgetaucht war. Monate später erfuhren sie im Theater, ihr Beinahe-Direktor sitze wegen Betrugs in Tegel. Er hatte als Geschäftsführer einer nicht existierenden Baufirma Einfamilienhäuser verkauft, die ihm gar nicht gehörten und war dann mit der Anzahlung abgehauen.

»Ich war auch schon mal im Tegeler Knast - als Blumenbote!«, begann Sergej seine Geschichte. Er schloss die Augen und legte eine lange Pause ein.

»Blumenbote im Knast? Wie das? Erzähl!«, drängten wir ihn. Also ließ sich unser Freund überreden weiterzuerzählen:

»Bevor ich Andrej kennengelernt habe und bei ihm eingezogen bin, hatte ich eine kleine Wohnung in Neukölln gemietet, neben einem Ausländerheim. Ich habe damals viele Landsleute aus diesem Heim kennengelernt. Es gab dort sehr unterschiedliche Menschen, zum Beispiel welche, die erfolgreich kriminell waren, und solche, die es lieber hätten lassen sollen. Ich habe mich besonders mit Ivan angefreundet, einem schlechten Verbrecher. Einmal war er schon ertappt und des Landes verwiesen worden. Aber er kam illegal wieder zurück nach Deutschland und landete hier schnell im Knast. Was er genau angestellt hatte, weiß ich nicht, aber das ganze soll total in die Hose gegangen sein. Ein paar schlaue Freunde von ihm hatten einen tollen Plan ausgeheckt, aber als der nicht aufging, liefen alle weg, nur Ivan blieb stehen. Als Illegaler, der zum zweiten Mal in Deutschland war, wurde er diesmal nicht abgeschoben, sondern zu drei Jahren Haft verurteilt und in Tegel eingebuchtet.

Dort hatte er gleich am ersten Tag eine Auseinandersetzung mit einem deutschen Knacki. Mangels Sprachkenntnissen war Ivan daran gehindert, dem Kollegen sein Unrecht verbal vorzuhalten, also musste er gestikulieren. Der Deutsche bekam dabei etwas auf den Kopf, fühlte sich sofort zusammengeschlagen und schrieb einen Beschwerdebrief. Daraufhin wurde Ivan als besonders aggressiver Krimineller eingestuft, ohne Freigang und ohne Hoffnung auf Bewährung. Der Tag seiner Entlassung sollte zugleich der Tag seiner Abschiebung sein. Deswegen durfte er auch nicht an der Berufsausbildung im Knast teilnehmen, nur ein bisschen Sprachunterricht und Sport standen ihm zu. Er hat in Tegel dann gut Deutsch gelernt, und das konnte nicht ohne Folgen bleiben. Ivan

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