Файл: vladimir-kaminer-meine-russischen-nachbarn.pdf

ВУЗ: Не указан

Категория: Не указан

Дисциплина: Не указана

Добавлен: 18.11.2024

Просмотров: 74

Скачиваний: 0

ВНИМАНИЕ! Если данный файл нарушает Ваши авторские права, то обязательно сообщите нам.

Hause fahren« und sich dort an das russische Innenministerium wenden. Die meisten haben jedoch längst kein Zuhause in der alten Heimat mehr. Sie haben ihre Wohnungen verschenkt, verkauft oder an den Staat verloren.

Dabei geht es nicht um Einzelfälle, sondern um Zehntausende. Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht hat natürlich eine Ausnahme für diese Fälle vorgesehen. Diejenigen, die hier als Kontingentflüchtlinge anerkannt wurden, können sich die Mühe sparen, einen Nachweis ihrer Staatenlosigkeit zu erbringen. Sie werden a priori als Staatenlose behandelt und können in Deutschland nach Erfüllung einiger anderer notwendiger Kriterien eingebürgert werden. Dazu bekommen sie das Merkblatt Über den Fortbestand der bisherigen Staatsangehörigkeit. Wenn Sie im Ausland jemals in Schwierigkeiten geraten, sollten Sie sich nicht an die deutschen Behörden wenden, sondern an die Ihres ursprünglichen Heimatlandes.

Sie müssen unterschreiben: »Wenn mir mein Recht auf Wiederausreise verwehrt wird, sind die deutschen Auslandsvertretungen nicht in der Lage, wirksamen deutschen Rechtsschutz zu leisten.« Und so weiter. Sie werden also gleich am ersten Tag als Bürger zweiter Klasse abgetan, der nicht einmal mit dem deutschen Rechtsschutz im Ausland rechnen darf.

Noch schlimmer sind die Kinder dieser unfreiwilligen Doppelbürger dran, denn sie kommen nicht als Kontingentflüchtlinge auf die Welt, sondern als ganz normale Kinder und bekommen deswegen die ursprüngliche Staatsangehörigkeit ihrer Eltern. Selbst wenn die Eltern aufgrund ihres besonderen Status längst Deutsche geworden sind, ihre Kinder sind es deswegen noch lange nicht. Sie werden einem Land zugeschrieben, in dem sie nie gelebt haben. In unserem Fall wurde eine Ausnahme gemacht - wegen meines Bekanntheitsgrades, wie mir unsere nette Sachbearbeiterin im Rathaus erklärte. Deswegen haben meine Kinder die deutschen Pässe bekommen, allerdings unter Vorbehalt, genauer gesagt: nur bis zum Erreichen der Volljährigkeit. Danach werden sie ausgebürgert, wenn sie nicht nachweisen, dass sie keine Esel sind, Entschuldigung, ich meine, dass sie keine andere Staatsangehörigkeit besitzen.

Als deutscher Bürger schäme ich mich ein wenig für diese Gesetzgebung, die jedes Maß an krümelkackerischer Bürokratie und rücksichtsloser Unmenschlichkeit sprengt. Natürlich hören sich diese Merkblätter nur so bedrohlich an, in Wirklichkeit kann man mit ruhigem Gewissen auf sie pfeifen und sie einfach vergessen. Ich werde ja sowieso nie wieder zu diesem Staatsangehörigkeitsamt gehen müssen, so dachte ich. Dann musste ich aber doch wieder hin, als mein Vater eingebürgert wurde. Nachdem er fünfzehn Jahre in Deutschland und Europa mit einem blauen »Alienpass« für

Каминер В. .: Meine russischen Nachbarn / 14

Staatenlose gelebt hatte, einem Pass, auf den die Grenzbeamten aller Länder wie Fliegen auf Scheiße reagieren, beschloss mein Vater, sich mit vierundsiebzig Jahren einbürgern zu lassen. Er bildete sich ein, mit dem deutschen Dokument seine Reisefreiheit, sein Lebensgefühl, letztendlich seine Sicherheit auf diesem Planeten zu steigern.

Weil er behindert war, musste ich ihm bei diesem Abenteuer helfen. Wir sammelten alle notwendigen Papiere, füllten die Formulare aus, machten die biometrischen Photos in einem sprechenden Spezialautomaten, beantragten die Pässe und zahlten für alles zusammen ungefähr 400,- Euro. Die Einbürgerung verlief schnell und unbürokratisch. Nach fünf Wochen bekam mein Vater seinen Reisepass, aber groß verreisen stand erst einmal nicht auf dem Plan. Merkblätter studieren war angesagt. Der neuerliche Besuch der Einbürgerungsstelle hat mich dann zum Verfassen dieses Textes bewegt. Die Sache war nämlich: Ein paar Tage später traf ich mich mit Wolfgang Schäuble zu einem Gespräch zum Thema »Wer ist Deutschland«, organisiert von einer christlichen Zeitschrift. Hätte ich ihm diese Geschichte erzählt, hätte er wahrscheinlich gelächelt und gesagt:

»Wir leben in einer Demokratie. Es gibt hier eine Verfassung, ein Grundund jede Menge andere Gesetze und alle haben diesen Gesetzen zu gehorchen, auch wenn manche von ihnen besser sein könnten. Diese Gesetze sind doch nicht von bösen Menschen ausgedacht, um den Guten das Leben zu erschweren! Diese Gesetze sind Deutschland, in ihnen wurde der Wille des Volkes formuliert. Auch wenn sie nicht immer an der richtigen Stelle greifen, ist es noch lange kein Grund zu meckern, und wenn es dir nicht gefällt, mein Junge, geh doch nach Russland. Da handhabt es Medwedjev bestimmt besser. Hehe.«

Vielleicht hätte er aber auch etwas ganz anderes gesagt. Aus diesen Politikern werde ich nie schlau …

Каминер В. .: Meine russischen Nachbarn / 15


Die Zugvögel

Obwohl der Kalte Krieg längst vorüber ist, genießt Russland nach wie vor im Westen einen schlechten Ruf. Wenn die Pfützen in Berlin Mitte Oktober plötzlich einfrieren, heißt es stets in den Nachrichten, das Tief »Natascha« oder »Iwan« habe die deutsche Grenze überquert - die russische Luftmassen schrecken vor nichts zurück. Mit großem Erstaunen lasen wir neulich in der Presse, dass auch die Vogelgrippe von den russischen Zugvögeln nach Europa eingeschmuggelt werde. Meine Nachbarin fragte mich daraufhin, ob es in Russland schon die ersten Opfer gäbe.

»Gar nicht«, erklärte ich. »Die Russen haben Ostimmunität, sie essen die Vogelgrippe zum Frühstück und fühlen sich noch wohl dabei!«

Ich wollte die alte Dame nur beruhigen, sie aber glaubte nicht an meine Ostimmunität und versteckte sich in ihrer Wohnung. Am späten Abend stand ich auf dem Balkon, rauchte und überlegte. Vielleicht haben die deutschen Medien Recht und es kommt

Каминер В. .: Meine russischen Nachbarn / 16

tatsächlich alles Schlechte aus dem Osten? Ich konnte mich jedenfalls an nichts Gutes von dort erinnern, abgesehen von mir selbst und ein paar Freunden. Draußen war es dunkel und still. Nur von oben hörte ich die verseuchten Zugvögel laut schnattern. Ich lehnte mich übers Balkongitter und starrte in den Himmel, um festzustellen ob die Vögel tatsächlich aus dem Osten kamen. Doch am Himmel, diffus beleuchtet von Straßenlaternen, war nichts zu sehen. Merkwürdig, dachte ich und ging in die Wohnung zurück. Eine Stunde später stand ich wieder auf dem Balkon, die Zugvögel schnatterten und zwitscherten noch lauter, blieben aber weiterhin unsichtbar.

Wie immer, wenn ich auf geheimnisvolle Phänomene stoße, die sich mit dem gesunden Menschenverstand nicht erklären lassen, holte ich meine Frau als Expertin. Sie ging sehr kritisch an die Sache heran. Als Erstes klärte sie mich über Vogelmigration auf. Sie meinte, dass es um diese Jahreszeit gar keine Zugvögel über Berlin mehr geben könne, die letzten mussten längst in Afrika sein. Dann konzentrierte sie sich kurz auf die unsichtbare Geräuschquelle und identifizierte sie als die Entspannungs-CD Schöne Vogelstimmen für 1,99 Euro aus dem Schlecker-Supermarkt.

»Das sind bestimmt deine Freunde aus dem vierten Stock, die Russen-WG«, vermutete sie lachend.

Ich gab ihr sofort Recht. Die Nachbarn nachts mit seltsamen Vogelstimmen zu beschallen - diese Aktion trug eine klare Handschrift. So bescheuert können nur Russen sein. Ich ging die Treppe hoch. Die Vögel zwitscherten tatsächlich im vierten Stock, wo mein Nachbar Andrej allein zu Hause war. Er ließ mich rein und erzählte mir mit Begeisterung, wie er neulich einen ganzen Stapel Naturgeräusche für nichts ergattert habe.

»Was willst du hören?«, fragte er. »Ich habe von Fröschen bis Elefanten alles da.«

Die Naturgeräusche würden ihn in gute Stimmung bringen, meinte er. Aufgewachsen in einem Betonblock mitten in der Stadt hatte Andrej als Kind nie Kontakt zu Tieren gehabt. Das wollte er jetzt in Berlin nachholen. Wir saßen in seinem Zimmer, tranken Tequila mit Tee, und Andrej zeigte mir Familienfotos, von seinem älteren Bruder, von den Eltern und seinem Lieblingsonkel, dessen Knast-Tattoos die einzigen Tierbilder waren, die Andrej als Kind begleitet hatten. Sein Onkel hatte wie kaum ein anderer unter der sowjetischen Diktatur gelitten und in den frühen Siebzigerjahren für sein antitotalitäres Gedankengut und einen bewaffneten Raubüberfall sechs Jahre Straflager aufgebrummt bekommen. Dort hatte er sich die Tiere eintätowiert. Auf der linken Schulter hatte Andrejs Onkel ein Meerschweinchen, auf der rechten ein Seepferdchen mit traurigen Augen. Eigentlich bedeuteten diese Tattoos in der speziellen

Каминер В. .: Meine russischen Nachbarn / 17

Knast-Ikonographie Hoffnungslosigkeit und standen für die die Tragödie des Daseins. Das Meerschweinchen auf der linken hieß »Wir sind im Arsch« und das Seepferdchen, elegant wie ein Fragezeichen, stand für »Wozu leben?«. Doch die Tiere sahen niedlich aus, und der Onkel wirkte ungeheuer lebenslustig.

Andrej schob eine Platte nach der anderen in seinen CD-Player. Erst um drei Uhr nachts kehrte ich unsicheren Schritts in meine Wohnung zurück und konnte noch lange danach nicht einschlafen. Kaum schloss ich die Augen, schon quakten die Frösche im Himmel, Elefanten trompeteten, Libellen summten, und der ganzkörpertätowierte Onkel meines Nachbarn lächelte mir von einem vergilbten Foto zu.

Каминер В. .: Meine russischen Nachbarn / 18


Mongolian Standard

Wir haben letzte Woche auf dem Falkplatz in Berlin gegrillt. Einmal im Monat veranstalte ich eine solche kulinarische Orgie auf diesem Platz neben dem Mauerpark gegenüber von unserem Haus. Vorher fahre ich zum türkischen Fleischer meines Vertrauens in den Wedding und kaufe dort zwei bis drei Lammkeulen, schäle zu Hause ein Dutzend Zwiebeln und lege das Fleisch für zwei Tage in einer handgemachten Marinade aus Weiswein, Pfeffer, Zwiebeln und Zitronen in einen speziellen Topf ein. Die geladenen Gäste, in der Regel sind es um die zwanzig Russen mit Familie und ein paar Deutsche mit Russenknall, bringen zum Fleisch passenden Alkohol, Salate und Wassermelonen mit. Die Gäste treffen mit ihren Flaschen natürlich nicht gleichzeitig ein, sondern nacheinander, und mit jedem muss ich als Gastgeber anstoßen. Eine alte russische Sitte besagt, es dürfen auf einer Feier weder Essen noch Getränke übrig bleiben, wenn doch, wird man verhungern bzw. verdursten. Damit dieses

Каминер В. .: Meine russischen Nachbarn / 19

Unglück nicht passiert, muss alles aufgegessen und ausgetrunken werden.

Es war schon immer eine große Kunst für mich, nach diesen Partys einigermaßen gerade nach Hause zu kommen und mit dem Schlüssel das Schlüsselloch zu treffen. Auf jeden Fall war dies eine größere Herausforderung, als das Fleisch vorzubereiten. Aber ich kannte einen Trick. Ich mischte Wein mit Wasser und ließ mich zu keinem anderen Getränk überreden. Bis jetzt ist mir das fast immer gelungen. Letztes Mal hatte ich jedoch die Idee, mit meinen Nachbarn nach der Grillparty noch eine Cocktailbar zu besuchen, die vor kurzem neben einer vietnamesischen Sushi-Bar bei uns um die Ecke aufgemacht hat. Die Sushi-Vietnamesen sind nebenbei bemerkt ehemalige Zigarettenverkäufer von der Schönhauser Allee, die wegen des Nichtrauchergesetzes aus ihrem illegalen Business ausgestiegen und in das legale Sushi-Geschäft eingestiegen waren. In der Cocktailbar arbeiten auch Asiaten, deswegen dachte ich automatisch, beide Läden würden zusammengehören.

In der Cocktailbar hingen drei Fotos in Übergröße: Greta Garbo, Marlene Dietrich und in der Mitte Yuri Gagarin in der Uniform eines Oberst der sowjetischen Armee. Die Chefin hörte uns russisch reden und setzte sich zu uns. Sie erklärte uns, dass ihre Bar rein gar nichts mit den Sushi-Vietnamesen zu tun habe. Ihr Partner sei Deutscher, sie selbst komme aus der Mongolei und beschäftige aus Prinzip nur Landsleute. Wir saßen also in einer mongolischen Cocktailbar, mitten in Ost-Berlin und sprachen von den alten Zeiten.

»Die Mongolen und die Russen waren schon immer Freunde, wir haben den Mongolen oft geholfen und ihnen zum Beispiel unser Alphabet überlassen oder zur Erntezeit Mähdrescher geschickt«, erinnerten wir die Bar-Chefin. Und so wurden aus zwei Cocktails drei. Wir sprachen vom letzten mongolischen Generalsekretär, der mit einer russischen Ballerina verheiratet war. Sie hat ein wunderbares Buch über die Mongolei geschrieben und war in der Mongolei sehr beliebt. Aus drei Cocktails wurden vier. Ich fiel schon beinahe vom Hocker, da holte die Chefin plötzlich eine Flasche mongolischen Wodka der Marke Mongolian Standard aus dem Kühlschrank. Flüssige Kopfschmerzen aus der Steppe. Doch die russisch-mongolische Freundschaft ging natürlich über alles. Zu viert leerten wir die Flasche. Greta Garbo und Marlene Dietrich schnitten die ganze Zeit Grimassen, Gagarin zwinkerte uns zu.

Am nächsten Tag gallopierte in meinem Kopf eine ganze Dschingis-Khan-Horde durch eine Steppe, die ganz sicher vom Mongolian Standard verursacht worden war. Kein deutsches Aspirin war der Attacke gewachsen. Ich konnte mich auf nichts konzentrieren, denn in Gedanken war ich noch immer in dieser

Каминер В. .: Meine russischen Nachbarn / 20


mongolischen Cocktailbar. Ich versuchte, mich an Einzelheiten des Abends zu erinnern. Die Chefin hatte uns ihren sogenannten Dschingis-Khan-Fleck zeigen wollen, den angeblich alle Asiaten auf dem Hintern hatten. Eine Deutsche, die sich zu uns gesellt hatte, meinte dazu, auch sie hätte einen solchen Fleck, obwohl sie nie in Asien war. Ich entgegnete, die Russen hätten auch etwas, und zwar einen großen Impffleck auf der linken Schulter, damit erkennen sie einander am Strand oder im Bett. Ich konnte mich jedoch nicht erinnern, ob wir einander die Flecke gezeigt oder nur damit gedroht hatten. Das Ambiente und das ganze Gespräch erinnerten mich auf jeden Fall stark an meine Heimat. Es ist klar: Wenn wir das nächste Mal Heimweh bekommen, gehen wir zu Gagarin in die mongolische Cocktailbar.

Каминер В. .: Meine russischen Nachbarn / 21

Deutsch als Spritze

Nicht nur in Amerika und Europa, auch unter den Russen bildet sich derzeit eine neue Harry-Potter-Generation: Menschen, die fest an Wunder glauben. Sie sind bereit, jede Anstrengung, die von ihnen verlangt wird, durch einen Zaubertrick zu ersetzen. Auch dann, wenn ihnen der Zaubertrick letztlich noch größere Anstrengungen abverlangt. Um beispielsweise festzustellen, ob es draußen regnet, schauen sie lieber ins Internet als aus dem Fenster.

Mein Nachbar Andrej gehört auch zu diesen Leuten, obwohl er vom Alter her durchaus der Vater von Harry Potter sein könnte. Seit einem Jahr arbeitet er bei einer deutschen Internetfirma, und seine Chefs sind mit ihm sehr zufrieden, weil er fleißig ist und nie Überstunden abrechnet. Nur eines finden seine Chefs bedauerlich: dass der Mann schon so lange in Deutschland lebt und noch immer nur einen Satz auf Deutsch kann: »Tschüss, bis zum nächsten Mal, wenn es wieder heißt: Popkonzert.« Das sagt Andrej jeden Tag zum Abschied. Seine Chefs wundern sich, aber ich finde es völlig normal. Woher soll Andrej mehr Deutsch können, wenn er die letzten Jahre vor dem

Каминер В. .: Meine russischen Nachbarn / 22

Monitor verbracht hat und alle Kommunikationsprobleme hier mit seinem Schulenglisch leicht lösen kann?

Der deutsche Satz, den er aus irgendeiner Radiosendung aufgeschnappt hat, nervt seine Kollegen total. Unaufdringlich versuchten sie ihn zu überzeugen, doch noch ein paar zusätzliche Äußerungen dazu zu lernen. »Du bist intelligent, du schaffst es«, ermunterten ihn seine Chefs vor zwei Wochen und schickten ihn in unbezahlten Urlaub. Andrej fühlte sich daraufhin von den Kollegen verraten und in seiner Existenz bedroht. In eine Sprachschule zu gehen, kam für ihn nicht in Frage.

»Das ist pure Zeitverschwendung«, meinte er. »Es muss doch eine Alternative geben, die einem den Einstieg in eine Fremdsprache innerhalb kürzester Zeit ermöglicht«, sinnierte er bei uns in der Küche.

»Aber natürlich gibt es so etwas«, bestätigte ich und zeigte ihm eine Annonce in der russischsprachigen Zeitung, die bei uns seit Monaten für gute Laune sorgt: »Geheime Kreml-Medizin wird zum Gemeingut des Volkes: Erlernen Sie eine Fremdsprache in 24 Stunden. Deutsch als Spritze« stand da. In einem kleinen Werbetext erwähnt der Anbieter geheime Medikamente, die man früher zur Unterstützung des regierenden Parteiapparats in sowjetischen Forschungslaboren entwickelt hatte. Auf diese Weise lernte beispielsweise Gorbatschow Englisch, und Jelzin konnte sich dadurch mit Kohl unter vier Augen unterhalten - behauptet jedenfalls der Anbieter. Ich hielt diese Annonce schlicht für eine Verarschung. Andrej hatte auch seine Zweifel. Er glaubte nicht, dass sich Gorbatschow sein Englisch hatte einspritzen lassen: »Dafür hat er einen viel zu starken Akzent.«

In der Annonce stand zwar, dass man unmittelbar nach der Injektion eine Fremdsprache sprechen kann, aber nirgendwo war erwähnt, dass jemand sie auch verstand. Wir saßen bei mir in der Küche und amüsierten uns über all die Leichtgläubigen, die sich das Zeug schon gespritzt hatten und sich nun selbst nicht mehr verstanden. Plötzlich stieß Andrej auf eine andere kleine Annonce, die ich übersehen hatte: »Tausende danken Doktor Hoffmann! Deutsch unter Hypnose: Ohne Sprachschule und ohne besondere Vorkenntnisse lernen Sie Deutsch in 30 Stunden!«, behauptete der Doktor. Sein Kurs »Selbstlernen unter Hypnose« kostete nur 159,- Euro plus Versandkosten. Dafür bekäme man ein Buch des Autors, eine Audiokassette und ein Meditationsobjekt, um sich selbst zu hypnotisieren. Auf dem Photo sah Doktor Hoffmann sehr seriös aus. »An Ihren Wahrnehmungszentren vorbei wird die Fremdsprache direkt auf die Festplatte Ihres Unterbewusstseins gespeichert«, stand unter dem Bild.

Каминер В. .: Meine russischen Nachbarn / 23


Der wichtigste Teil des Kurses war die Audiokassette. »36 Linguisten aus der ganzen Welt haben sechs Jahre hart gearbeitet, um diese 90-Minuten-Aufnahme zu entwickeln. Und jeder, der sich diese Kassette zwölfmal unter Hypnose anhört, wird die Fremdsprache seiner Wahl beherrschen können«, behauptete Doktor Hoffmann. Ich schenkte auch dieser Annonce keinen Glauben. Besonderes merkwürdig schien mir, dass alle Zahlen, die Doktor Hoffmann verwendete, um die Einmaligkeit seines Kurses zu beweisen, durch sechs teilbar waren. Für mich war das ein eindeutiges Zeichen für den Wahnsinn des Doktors. Doch Andrejs Augen glänzten. Vielleicht war es der Vergleich seines Unterbewusstseins mit einer Festplatte, der ihn überzeugte. Im Nu war er fest entschlossen, diese Methode auszuprobieren.

»Wer sind all diese Tausende, die dem Doktor danken? Ich kenne keinen einzigen, der sein Sprachpaket gekauft hat«, appellierte ich an Andrejs Vernunft.

Er war aber nicht mehr zu retten. »Es gibt so manches, Freund Horatio«, zitierte er voller Pathos Shakespeare, »wovon du keine Ahnung hast.« Zu mir gewandt, sagte er: »Du bist ein Zyniker und viel zu misstrauisch. Doch so kommen wir nicht weiter. Ich will Doktor Hoffmann eine Chance geben. Selbst, wenn ich der Erste bin, der ihm nachher dankt.«

Am nächsten Tag überwies Andrej tatsächlich 159,- Euro an Doktor Hoffmann, und schon drei Tage später bekam er von einem Kurierdienst einen Karton ausgehändigt. Mit diesem Karton kreuzte er dann wieder bei mir auf, denn so groß war sein Vertrauen in den Doktor doch nicht. Er wollte nicht allein in hypnotisiertem Zustand in der Wohnung sitzen. Wir packten das Paket zusammen aus. Laut beiliegender Instruktion sollte der Fremdsprachenliebhaber zuerst die Broschüre lesen, dann das Meditationsobjekt - eine kleine silberne Kugel, die an einer Schaukel hing - mit Hilfe von zwei Elektrobatterien in Bewegung setzen, dann die Kassette in den Rekorder schieben, Kopfhörer aufsetzen und sich in einem Sessel entspannen. So einfach war das Ganze.

Andrej wollte wissen, wie man feststellt, ob man schon hypnotisiert war oder erst auf dem Weg dahin. Darüber konnten wir in dem Buch keine Informationen finden, dafür jedoch zahlreiche Tipps, was zu tun war, wenn die Sache schiefging. Doktor Hoffmann beschrieb ausführlich die am häufigsten auftretenden Probleme und Fragen seiner Patienten:

»Sie haben sich die Kassette zwölfmal angehört, können aber die von Ihnen gewünschte Fremdsprache noch immer nicht. Das bedeutet: Ihr Unterbewusstsein ist überlastet und kann die Informationen nicht ordnungsgemäß speichern. Machen Sie einfach

Каминер В. .: Meine russischen Nachbarn / 24

eine Pause. Gehen Sie an die frische Luft, versuchen Sie, ein paar Tage nicht zu trinken und nicht zu rauchen. Schlafen Sie sich gut aus, und dann versuchen Sie es mit der Kassette erneut.«

Oder: »Sie haben sich die Kassette mehrmals angehört und nun das Gefühl, dass Sie die von Ihnen gewünschte Fremdsprache fließend können. Sie wird aber als solche von Ihrer Umwelt nicht erkannt. Keiner versteht Sie. Bewahren Sie Ruhe. Das Unterbewusstsein der meisten unserer Mitmenschen ist ebenfalls oft überlastet. Reagieren Sie nicht auf Spott. Gehen Sie an die frische Luft, versuchen Sie, ein paar Tage nicht zu trinken und nicht zu rauchen. Schlafen Sie sich gut aus, und versuchen Sie es dann mit der Kassette erneut.«

Weiter hieß es: »Sie haben sich die Kassette zwölfmal angehört und beherrschen nun eine Fremdsprache, aber nicht die, die Sie sich gewünscht haben. Sie und Ihre Mitmenschen sind überzeugt, dass es sich um eine Fremdsprache handelt, aber keiner weiß, um welche. Bewahren Sie Ruhe. Wenden Sie sich an den Hersteller. Unsere Spezialisten stehen Ihnen rund um die Uhr zu Verfügung.«

Vorsichtig erkundigte ich mich bei Andrej, ob angesichts dieser Informationen seine Opferbereitschaft in Bezug auf den Fortschritt nicht doch etwas übertrieben war.

»Stell dir mal vor«, sagte ich zu ihm, »du hörst dir die Kassette ein paarmal an und kannst anschließend gar keine Sprache mehr. Das wäre doch auch möglich. Dann kannst du dich auch nicht mehr an den Hersteller wenden, nicht mal an die Polizei oder den Notarzt, dann bist du erledigt.«

»Stimmt nicht«, sagte Andrej, »ich kann immer noch E-Mails schreiben.«

Mir wurde klar, wie ernst ihm die Sache war. Ich versprach, in der Nähe zu bleiben, für alle Fälle, und verdrückte mich in die Küche. Eine Stunde lang hörte ich Andrej im Wohnzimmer fluchen: Sein Organismus wehrte sich und wollte nicht hypnotisiert werden. Doch irgendwann wurde es still in der Wohnung. Man konnte fast hören, wie die Audiokassette im Rekorder quietschte und die gewünschte Fremdsprache in Andrejs Unterbewusstsein tropfte. Ich las - zum vierzigsten Mal - Anna Karenina und fand das Werk erneut faszinierend. Als ich das Kapitel über den ausländischen Prinzen gerade durchhatte, erschien Andrej in der Küche. Er sah müde, aber zufrieden aus.

»Na, wie geht es dir, mein Freund?«, fragte ich ihn vorsichtig.

Er zündete sich schweigend eine Zigarette an. Dann sagte er in nahezu perfektem Deutsch:

»Tschüss, bis zum nächsten Mal, wenn es wieder heißt: Popkonzert« - und lachte.

Каминер В. .: Meine russischen Nachbarn / 25