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Добавлен: 18.11.2024
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Der Enkel des Partisanen
Die Wege der Ausländer, die in Deutschland landen, sind verschlungen. Ich kenne Landsleute, die als wertvolle Computerspezialisten nach Deutschland gekommen sind, andere werden als politische Flüchtlinge anerkannt. Manche kommen als Russlanddeutsche, im Zuge der Zusammenführung von Blut und Boden, und einige geben an, sie würden eine Million in die deutsche Wirtschaft investieren und bekommen dadurch ein Aufenthaltsrecht. Mein Nachbar Sergej gehört zu der wahrscheinlich kleinsten Minderheit der Einwanderer: Er kam als Enkel eines weißrussischen Partisanen nach Deutschland, eingeladen von einem deutschen Kriegsveteranen.
In seiner Heimatstadt Gomel, der zweitgrößten Stadt Weißrusslands, gehörte Sergej zu den Studenten, die Deutsch statt Englisch oder Französisch lernten. Eine Perversität. Aber er behauptete, er fände den Klang der deutschen Sprache attraktiv. In
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der Regel sind Menschen, die kein Deutsch verstehen, von dieser Sprache alles andere als begeistert. Man sagt, Englisch höre sich an wie ein Popsong, Französisch wie ein Kuss, Russisch wie ein Trinkspruch und Deutsch wie Husten. Deutsch zu lernen ist an der russischen Universität der beste Weg, ein Außenseiter zu werden. Sergej studierte Deutsch beinahe im Alleingang.
Doch in den späten Neunzigerjahren kamen immer häufiger Touristen aus Deutschland nach Weißrussland, und Sergejs Sprachkenntnisse zahlten sich aus. Er wurde von einem Reisebüro, als persönlicher Dolmetscher und Betreuer für Reisende angeheuert, die nicht in Gruppen, sondern alleine, auf eigene Faust, durch Weißrussland reisten. Diese Einzeltouristen waren komische Menschen. Niemand von ihnen kam nach Weißrussland, um einfach ein wenig in den Wäldern spazieren zu gehen. Sie alle hatten einen Plan. In der Regel ging es um die Rettung der Menschheit oder einzelner Personen. Bei der Erfüllung dieses Plans waren sie jedoch auf die Hilfe eines erfahrenen Dolmetschers angewiesen. Sergej finanzierte mit diesem Job seine damaligen Hobbys, Boxen und Rapmusik. Zusammen mit ein paar Freunden gründete er die erste weißrussische Rapband und richtete ein Tonstudio ein. Sie rappten in ihrer Heimatsprache, aber anders als der amerikanische Rap war der weißrussische nicht böse oder aggressiv, nicht einmal sozialkritisch. In ihren Rapsongs ging es hauptsächlich um schnelle Autos und um Frauen, auf die immer Verlass war.
So verging das Leben. Sergej studierte Politologie, rappte, boxte, lernte weiter Deutsch und versuchte in der übrig gebliebenen Zeit, den deutschen Touristen zu helfen. Das war nicht leicht. Der eine wollte Hilfsgüter in ein Waisenhaus bringen und sie eigenhändig unter den bedürftigen Kindern verteilen, damit die Erwachsenen nichts für sich abgriffen. Sergej fuhr mit ihm zusammen zu einem Kinderheim, in dem die Not am größten war. Sie verteilten die Güter, und als sie die Räume dort in schlechtem Zustand vorfanden - im Schlafzimmer war sogar ein Loch in der Decke -, sorgte der Deutsche dafür, dass das Dach repariert wurde. Ein anderer Tourist wollte unbedingt Tschernobyl besuchen, um die Natur nach der Explosion des AKW zu beobachten und beispielsweise zu sehen, wie groß die Würmer geworden waren. Sergej fand ein Loch im Zaun, der seit 1987 geschlossenen Anlage und sie kletterten hindurch. Ein dritter Tourist wollte unbedingt mit Einheimischen um die Wette saufen: Sergej stellte sich ihm als Mittrinker zur Verfügung. Ein vierter wollte ein einheimisches Mädchen mit Riesenbrüsten aus einem Bordell retten: Sergej half ihm bei den Verhandlungen. Es war nie langweilig mit den Deutschen.
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Einmal kam ein alter Mann aus Norddeutschland, der unbedingt einen Kriegsveteranen kennenlernen wollte, am liebsten einen, der auch noch in Gefangenschaft gewesen war. Der Tourist war selbst Kriegsveteran. Er hatte irgendwo in den Wäldern von Weißrussland gegen Partisanen gekämpft, war gefangen genommen worden und hatte nach dem Krieg sechs Jahre in einem sibirischen Lager überlebt. Der einfachste Weg, diesen Touristen glücklich zu machen, wäre, ihn zu Sergejs eigenem Großvater zu bringen. Dieser war ebenfalls im Krieg gewesen und besaß Orden und Auszeichnungen bis zu den Knien. Seine Uniform zog er allerdings nicht einmal am Tag des Sieges an. Sergejs Großvater war 1941 mit seiner Einheit in den Kessel bei Rowno geraten, war dann bei den Partisanen, wurde verhaftet und kam in ein KZ. Anders als die meisten Kriegsgefangenen musste er jedoch nach der Befreiung nicht auch noch einige Jahre in sowjetischen Lagern absitzen. In der Familie galt er als schwieriger Mensch mit einem leichten Knall. Er redete wenig, und vom Krieg erzählte er gar nichts. Er weigerte sich, seine Kriegsverletzungen untersuchen zu lassen, und er weigerte sich, die Granatsplitter, die er vom Krieg im Körper zurückbehalten hatte, entfernen zu lassen. Er meinte, die Granatsplitter seien ein Teil seines Körpers geworden. Sein Enkelkind liebte er über alles.
Einmal wollte der kleine Sergej unbedingt mit dem Jagdgewehr seines Großvaters schießen. Draußen saßen Gäste, die Familie feierte gerade ein Jubiläum. »Dann lass uns hier drin schießen«, quengelte der Junge. Der Großvater konnte einfach nicht nein sagen - und schoss mit Schrot in den Ofen, der daraufhin neu gesetzt werden musste. Die Oma und die anderen Frauen schrien vor Angst und Wut, aber der Großvater zuckte nur mit den Schultern und sagte: »Das Enkelkind darf einmal schießen.« Bei Tisch aß der Großvater nur mit seinem Kriegslöffel, den er aus dem deutschen Lager mitgenommen hatte. Er gab ihn nie aus der Hand, und niemand durfte den Löffel des Großvaters anfassen, außer Sergej. Der Löffel war von allen Seiten abgekaut, dünn, fast durchsichtig und auf der unteren Seite war ein Hakenkreuz eingraviert.
Sergej wusste nicht, wie sein Großvater auf den deutschen Touristen reagieren würde, ging aber das Risiko ein. Sein Plan war, mit dem Deutschen zusammen bei ihm aufzukreuzen, ihr Gespräch zu übersetzen und dann je nach dem, was kam, zu handeln. Sein Großvater ließ sie in die Wohnung, verschwand in der Küche, kam mit einer Halbliterflasche Wodka zurück, verteilte den Inhalt der Flasche auf zwei Gläser und gab eines dem Touristen. Beide leerten ihre Gläser in einem Zug, schauten einander in die Augen und weinten. Danach umarmten sie sich, und der Deutsche ging weg, ohne ein Wort zu sagen. Überhaupt war während des ganzen Treffens kein
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einziges Wort gefallen und Sergejs Übersetzerfähigkeiten nicht gefordert worden.
Am nächsten Tag traf er den Deutschen wieder. Dieser lud Sergej ein, ihn in seiner Heimatstadt Vechta zu besuchen. So kam Sergej zum ersten Mal nach Deutschland. Die Stadt fand er klein und hässlich, aber alle sprachen Deutsch, und es gab sogar eine Universität, die kleinste Deutschlands. Der Kriegsveteran, der ihn eingeladen hatte, galt in Vechta ebenfalls als Mann mit einem Knall - mit einem Russenknall. Während die meisten in der Stadt dicke Autos fuhren, raste er auf einem sowjetischen Motorrad der Marke Ural durch die Gegend, das stank und Krach machte. Auch hatte er sein Haus nicht im norddeutschen Stil, sondern mit Ornamenten nach russischer Art geschmückt.
Sergej beschloss, erst einmal ein Paar Semester in Deutschland zu studieren. Er immatrikulierte sich an der dortigen Universität, schrieb sich für BWL ein und blieb. Geld zum Leben verdiente er in einer Fabrik, die Verpackungslinien für Hühnereier produzierte. Das Studium gefiel ihm gut, die Stadt weniger. Er ging lieber in den Wald oder zum Sport als in eine Kneipe. Kaum war er mit dem Studium fertig, zog er zuerst nach Köln und dann nach Berlin. Mir erzählte er, er fühle sich in Deutschland manchmal wie ein Partisan. Wie der Nachkomme eines Partisanen.
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Erdbeeren mit Sahne
Wenn in bundesdeutschem Kontext von Berlinern die Rede ist, dann heißt es fast immer, sie würden meckern. Damit wird der Zustand permanenter Unzufriedenheit und Lebensenttäuschung als einer Berliner Eigenart hervorgehoben. Anderswo sind die Menschen rundum glücklich und zufrieden. Selbst wenn ihnen eine Taube auf den Kopf kackt, lächeln sie dem Vogel dankbar hinterher und fühlen sich in die Geheimnisse der Natur eingeweiht.
Meine Erfahrung ist: Nicht die Berliner, sondern alle, die im Sozialismus aufgewachsen sind, beschweren sich dauernd über alles Mögliche. Bulgaren, Rumänen, Serben, sie alle fühlen sich verraten und verkauft, ganz zu schweigen von meinen Landsleuten, die sich selbst am stärksten bemitleiden. Man hat sie verführt, ihnen das große Glück versprochen, und das sogar zweimal: das allgemeine Glück des Kommunismus, das sich nie in ein persönliches Kleinbürgerglück verwandeln durfte und überhaupt im realen Leben nie eintraf. Und dann die linkische Lottofortune des Kapitalismus,
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deren einziges klares Versprechen darin bestand, die früheren Versprechungen endgültig abzulösen.
Nichts von alldem hat funktioniert. Deswegen gehen meine Landsleute nun als ewig Unzufriedene durch die Welt und meckern. Das Bett ist für sie immer zu hart, das Brot zu trocken, das Wetter zu schlecht. Für eine glückliche Zukunft, egal wie sie aussehen mag, sind sie hoffnungslos verloren. Sie wissen, alles war schon einmal da und obendrein noch besser. Dafür liebe ich sie.
Gestern in der Herbsthitze fuhr mir mein Nachbar Andrej auf dem Fahrrad über den Weg.
»Kannst du mir sagen, was das soll? Bin ich etwa nach Spanien emigriert?«, schimpft er.
Ich schüttelte nur den Kopf und sagte nichts. Es war ja sowieso eine rhetorische Frage. Spanien hätte Andrej nie Asyl gewährt.
»Ich habe doch extra Deutschland ausgewählt, wegen der ausgeglichenen Wetterverhältnisse, damit ich nach dem regnerischen und feuchten Petersburg nicht gleich in die Sonne komme. Und nun das, 32 Grad im Schatten! Mir geht dieser Klimawandel schwer auf den Geist. Soll ich jetzt etwa nach Norwegen auswandern oder nach Grönland? Ich kenne dort niemanden, was sind das für Menschen, diese Norweger? Wie leben sie, was lieben sie?«
Plötzlich donnerte und blitzte es über unseren Köpfen, die ersten Regentropfen fielen auf den grauen Asphalt. Wir verabschiedeten uns schnell. Andrej fuhr weiter, seine Unzufriedenheit blieb aber auch nach seinem Abtauchen im Regen hängen wie ein Überbleibsel aus alter Zeit, ein Appendix des Sozialismus, der sich nicht herausoperieren lässt. Egal was passiert, wir werden immer meckern. Wie in der alten sozialistischen Anekdote, in der ein Pionier seinen Lehrer fragt, was Kommunismus eigentlich ist. Der Lehrer bemüht sich, den Kommunismus in einer kindgerechten Sprache zu erklären.
»Kommunismus ist«, sagt er, »wenn du jeden Tag zum Frühstück Erdbeeren mit Sahne essen wirst.«
»Ich mag aber keine Erdbeeren mit Sahne«, erwiderte der Schüler. »Das ist egal, du wirst sie trotzdem essen«, klärt ihn der Pädagoge
auf.
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Gespräche über die Ewigkeit
Mein Freund Sergej feierte seinen dreiunddreißigsten Geburtstag im engen Kreis seiner Freunde und Familienangehörigen. Ich erinnerte mich bei dieser Gelegenheit an meinen eigenen dreiunddreißigsten Geburtstag, der im bedeutungsvollen Jahr 2000 stattfand. Damals schien mir das Leben, sein abenteuerlicher Teil zumindest, endgültig aus und vorbei zu sein. Aber ich hatte mich geirrt, die Abenteuer fingen da erst an. Bei meinem Freund schlug sich der dreiunddreißigste Geburtstag in pathetischen Gefühlsausbrüchen nieder. Wir tranken Hochprozentiges und sinnierten dabei über die Ewigkeit.
»Nein, nein, ich möchte auf keinen Fall ewig leben, dadurch macht man sich in den Augen der Mitmenschen nur lächerlich«, philosophierte Sergej. »Als Ewiglebender umgeben von Sterblichen wird man in jeder anständigen Gesellschaft schnell zur Vogelscheuche. Niemand wird mit einem solchen Menschen etwas zu tun haben wollen. Wenn du willst, dass deine Gäste schnell nach
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Hause gehen, lade einen Unsterblichen ein und bitte ihn, etwas Lustiges über sein ewiges Leben zu erzählen. Spätestens nach zehn Minuten wird die Party zu Ende sein«, so sah das mein Freund.
Ich stimmte ihm zu. Ein ewiges Leben als Greis konnte ich mir auch nicht vorstellen. Aber beispielsweise siebzig Jahre lang dreiunddreißig zu sein, das konnte ich mir sehr gut vorstellen. Kein Teenager mehr, ein reifer, aber vom Leben noch nicht frustrierter Mann, kein Langweiler, aber ein Romantiker geblieben, das wäre cool. Also sagte ich:
»Wenn mir eine höhere Macht zwei Optionen zur Auswahl anbieten würde: das ewige Leben als Greis oder siebzig Jahre lang dreiunddreißig, würde ich mich, ohne mit der Wimper zu zucken, gegen die Ewigkeit, aber für die verlängerte Jugend entscheiden. Ja, das würde ich tun.«
»Ich nicht«, widersprach Sergej. »Eine solche Jugend ist auf Dauer nicht cool, sie ist sogar ziemlich blöd. Als ich mit siebenundzwanzig nach Deutschland kam, war ich allein und nur auf mich selbst gestellt. Ich hatte keine Arbeit, keine Familie, nicht einmal richtige Freunde, nur einen BWL-Studienplatz, den ich noch aus eigener Tasche finanzieren musste. Ich dachte damals: Bloß die Ruhe bewahren, alles wird gut. Mein Vorbild war der unrasierte Mann aus dem Fernsehwerbespot, der für Jever Reklame machte. Abend für Abend fiel er mit dem Rücken in die Sanddüne, eine Flasche Bier in der Hand. Er war wie ich ganz allein in seiner norddeutschen Sandwüste: keine Staus, keine Freunde, keine Kompromisse, kein anderes Bier. Er gehörte zu meinen ersten Eindrücken aus diesem Land und war lange Zeit mein einziger Freund hier. Einer, mit dem ich mich austauschen könnte. Ich hatte eine Einzimmerwohnung mit Bett und Fernseher. Jeden Abend machte ich die Glotze an, und er war fast immer für mich da. Fast immer. Manchmal lief der Werbespot nicht. Seinetwegen bin ich sogar für eine kurze Zeit tatsächlich von Hefeweizen auf Jever umgestiegen, so gut gefiel mir dieser Mann.
Wir hatten vieles gemeinsam, vor allem diese Lebenseinstellung eines einsamen Wolfs. In ihm sah ich einen, der in den Sanddünen verloren gegangen war. Kein Geld, kein Gepäck, kein Ausweg. Ich war mehrmals in Ostfriesland, auch in Jever und in den umliegenden Dörfern. Es gab dort weit und breit keine einzige Düne. Selbst das hat mich nicht enttäuscht. Ich fühlte mich trotzdem mit dem in den Sand fallenden Mann im Geiste verbunden. Unsere Einsamkeit machte uns zu Brüdern - kein Bafög, kein guter Job, kein Dispo. Es hat gerade fürs Leben gereicht. Dann habe ich, du weiß schon wen, kennengelernt, bin umgezogen, wir zogen zusammen, es lief nicht immer gut, aber ab da war mein Lebensgefühl ein anderes. Und wenn ich heute zurückblicke, gut, ich bin sechs Jahre älter geworden, ein bloßes
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Sekündchen angesichts der Ewigkeit. Aber es hat sich so viel verändert in meinem Leben, und manches sogar zum Guten. Der Jever-Mensch aber ist der Gleiche geblieben, er fällt weiter in den Dünen um, mit der gleichen Flasche in der Hand, mit dem gleichen leeren Gesichtsausdruck, er hat denselben Mantel an, und nichts hat sich in seinem Leben verändert: keine Frauen, keine Kinder, keine Freunde, keine Ahnung, wie er das durchhält.«
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Die Mutter (nicht von Gorki)
Sergejs Mutter wurde von ihrem langjährigen Lebensgefährten, einem dicken lebensfrohen weißrussischen Sparkassenchef, sitzengelassen.
»Irina«, meinte er zum Abschied bedrückt, »ich habe eine ungeheuere Leidenschaft kennengelernt und muss nun mit diesen neuen Gefühlen klarkommen. Du hast Format, du bist eine großartige Frau, warte auf mich, wenn du kannst.«
Der freiwillige Nachrichtendienst aus der Nachbarschaft berichtete; die ungeheure Leidenschaft sei ein zwanzigjähriges Mädchen mit riesiger Oberweite. Irina packte die Koffer und fuhr nach Berlin zu ihrem Sohn, den sie sehr lange nicht gesehen hatte. Sergej freute sich natürlich, nur hatte er jede Menge zu tun - zwei Jobs, ein Studium und dazu nun noch eine Mutter in der Krise. Anfangs fiel diese Mutter in dem allgemeinen Chaos nicht auf. Sie verbrachte die meiste Zeit in der Küche und sang leise vor sich hin - russisches Volksliedgut:
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Wenn ich sterbe, Wenn ich sterbe, Und begraben werde,
Keine Sau weint eine Träne Mir nach...
Sie braucht dringend einen neuen Freund, dachten wir und brachten unseren Nachbarn auf die Idee, eine Annonce in der russischsprachigen Zeitung aufzugeben: »Sympathische Frau aus Russland, 53 Jahre alt, würde gern einen intelligenten, einfallsreichen, sensiblen Mann ab 45 kennenlernen - und nicht irgendeinen selbstgeilen Fettarsch.« Bereits einen Tag nach Erscheinen der Zeitung kamen die ersten Anrufe. Irina ging nicht ans Telefon, aber ihre Stimmung verbesserte sich erheblich. Sie saß nicht mehr wie ein Trauerkloß in der Küche, sondern lief in der Wohnung herum und sang halblaut einen alten sozialistischen Schlager:
Alles ist möglich, alles zum Greifen nah...
»Irina, Sie dürfen diese Menschen nicht einfach so abblitzen lassen, gehen Sie doch ran«, sagten wir immer wieder zu ihr.
Nach zwei Tagen ging sie tatsächlich ran.
»Ja! Nein! Was denn für eine Anzeige? Sie haben sich bestimmt verwählt. Wie heißen Sie noch mal? Aus Nowosibirsk? Wie interessant, ich war mal in Nowosibirsk...«
Er war der erste Mann, der Irinas Vertrauen gewinnen konnte: ein gewisser Iwan aus Nowosibirsk, Champion im Biathlon 1969. Irina verabredete sich mit ihm, kam aber an dem Tag nicht aus der Wohnung. Sie polierte sich in der Küche die Fingernägel und sang andere optimistische Schlager aus der Sowjetzeit.
»Vielleicht war das dein Schicksal, Mama«, bemerkte Sergej vorsichtig, »Vielleicht ruft er nicht mehr an.«
»Wenn man Schicksal ist, Söhnchen, dann ruft man immer ein zweites Mal an«, meinte die Mutter philosophisch.
Iwan aus Nowosibirsk rief tatsächlich wieder an. Irina erklärte ihm, dass sie an dem Tag zu viel zu tun gehabt hätte, und sie verabredeten sich erneut. Diesmal ging sie tatsächlich zu ihrer Verabredung, kam dafür aber abends nicht nach Hause zurück. Auch am nächsten Tag kam sie nicht. Sergej meinte, so etwas sei auch schon früher in Gomel vorgekommen. Trotzdem waren er und wir alle sehr beunruhigt. Denn in gewisser Weise hatten wir seine Mutter in diesen Wirbel der Zeitungsliebe geschubst und fühlten uns nun für sie verantwortlich. Von Iwan aus Nowosibirsk fehlte jede Spur. Es gab weder eine Telefonnummer noch eine Adresse. Sergej ging zur Polizei und erstattete Vermisstenanzeige. In dem Moment, als er zurückkam, tauchte seine Mutter auf. Sie konnte unsere Aufregung überhaupt
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nicht verstehen und wollte nichts darüber erzählen, wo sie die letzten drei Tage verbracht hatte. Nur so viel: Ihr Iwan hätte ihr alle seine Biathlon-Medaillen und -Pokale zeigen wollen, deswegen hätte es so lange gedauert. Insgesamt bezeichnete sie ihren neuen Freund als »zu sportlich«.
Danach meldeten sich in loser Folge ein intelligenter Professor aus Potsdam, der ihr die Stadt zeigen wollte und sie ins dortige Theater einlud; ein Hobbykoch aus Charlottenburg, der sie zum Grünen-Tee-Trinken überredete; außerdem in regelmäßigen Abständen immer wieder der sportliche Iwan aus Nowosibirsk, der mit Irina zur Biathlon-Meisterschaft ins norwegische Hammarskjöld aufbrechen wollte.
Der Klub der Mutterfreunde wuchs kontinuierlich, das Telefon in der Russen-WG war ständig belegt. Irgendwann meldete sich auch noch der verflossene Sparkassenchef aus der Heimat. Mit Tränen in der Stimme bat er Irina zurückzukommen, die ungeheure Leidenschaft mit der riesigen Oberweite hatte sich früher als erhofft erschöpft. Ihrem Sohn gegenüber hielt Irina ihre Lebenspläne geheim. Sie brauche Zeit zum Nachdenken, sagte sie nur. Nach einem Monat erzählte Sergej, seine Mutter wäre nach Russland zurückgefahren. Ich glaubte nicht daran.
Alles war möglich, alles zum Greifen nah: Möglich wäre zum Beispiel, dass sie gleich hinter Wannsee bei ihrem Professor ausgestiegen und in Potsdam hängengeblieben war. Weniger realistisch war, dass sie zu dem Sparkassenchef nach Gomel zurückkehrte. Ich, als alter Biathlonfan, tippte auf den sportlichen Iwan aus Nowosibirsk.
Noch Monate später bekamen die Jungs in der WG seltsame Anrufe: männliche Stimmen, die nach Irina verlangten.
»Sie wohnt nicht mehr hier«, antwortete Sergej. »Sie ist weg. Aber vielleicht kommt sie wieder - im nächsten Jahr. Lesen Sie die Annoncen. Ja, nein, Sie auch, nichts zu danken. Auf Wiedersehen.«
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Ein ungewöhnliches Konzert
Mein Nachbar Andrej hatte Besuch. Sein Vater war aus St. Petersburg angereist, um den Sohn zu kontrollieren. Ich staunte nicht schlecht, wie ein Vaterbesuch einen beinahe Dreißigjährigen dermaßen in Aufregung versetzen konnte. Andrej rasierte seinen coolen Dreitagebart ab, zog sich ein Hemd statt eines Pullovers an und hörte vorübergehend auf zu rauchen. Mich lud er zum gemeinsamen Abendessen mit Papa ein und schilderte kurz den Kreis der Themen, die in Anwesenheit des Vaters nicht erwähnt werden durften. Dazu gehörte Andrejs Privatleben, seine berufliche und finanzielle Situation, sein kaputtes Auto, seine alltäglichen Gewohnheiten sowie auch so ziemlich alles, was in irgendeiner Weise etwas mit ihm zu tun haben konnte.
»Worüber sollen wir denn stattdessen sprechen?«, wunderte ich mich.
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»Frag ihn nach seinem Saxophon, alles andere ergibt sich von alleine«, meinte Andrej.
Ich dachte, sein Vater wäre Mathematiker von Beruf, ein Programmierer oder etwas Ähnliches. Ich hätte nie auf Musiker getippt, nie im Leben.
Das Abendessen verlief langweilig. Andrejs Vater sah mit seinen sechzig Jahren noch sehr frisch aus, vor allem aber seinem Sohn erstaunlich ähnlich. Er trug einen Dreitagebart, einen Pullover, trank Whisky aus einem großen Glas, schimpfte auf Deutschland und die Welt und benahm sich auch sonst wie sein Sohn, wenn er gerade keinen Vaterbesuch hatte. Die Flasche zwölf Jahre alten Bowmore hatte Andrej sehr preiswert bei einem Vietnamesen gekauft, der Whisky musste noch unter den Kommunisten gebrannt worden sein. Es war ein Experiment. Wir versuchten nach Möglichkeit, vorsichtig damit umzugehen, denn die Erinnerung an den mongolischen Whisky vom letzten Jahr war noch frisch.
Die Situation am Tisch eskalierte langsam. Aus Mangel an Themen fragte ich Andrejs Vater über seine musikalische Karriere aus. Er hatte anscheinend nichts Aufregendes zu berichten. Drei Jahrzehnte lang hatte er in einer ganzen Reihe von Popkollektiven, Gruppen und Bands gespielt, von denen wir nie etwas gehört hatten. Auch war er mit vielen berühmten Persönlichkeiten auf einer Bühne gestanden, die wir nicht kannten. Über zeitgenössische Musik schimpfte der Vater heftig, besonders Rapper schienen bei ihm in Missgunst gefallen zu sein. Sie waren seiner Meinung nach allesamt Pfeifen, die weder singen noch spielen konnten und diesen Mangel an musikalischem Talent mit Aggressivität und dummen Sprüchen kaschierten. Grundsätzlich mangele es der modernen Musik an Inspiration, klagte Andrejs Vater. Die jungen Musiker würden nur noch ans Geld denken, sie hätten nichts vorzuweisen außer dem Wunsch, schnell reich und berühmt zu werden. Doch der Ruhm halte heutzutage nicht länger als fünfzehn Sekunden, und wirklich reich werden nur die Manager, die sowieso immer alle Fäden in der Hand halten.
»Alles Arschlöcher!«, beendete Andrejs Vater seine Tirade, als würde er einen Toast ausbringen. »Was auch immer sie tun, der letzte wahre Rock’n’Roller wird John Lennon bleiben. Ich bin stolz, mit diesem Mann auf einer Bühne gestanden zu haben.«
Nach diesem Geständnis breitete sich Schweigen aus. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir bereits zwei Flaschen Bowmore geleert und eine dritte angebrochen. Keine Überdosis also, die erwachsene Menschen auf eine Bühne mit John Lennon bringen konnte.
»Dieses ungewöhnliche Konzert war eine der eindringlichsten Erfahrungen in meiner beruflichen Karriere«, fuhr der Vater weiter fort.
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