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»Du hast mir früher nie etwas davon erzählt, Papa«, mischte sich der Sohn ein. »Wer hat noch mitgespielt? Vielleicht Mick Jagger? Bob Dylan? Elvis Presley?«

»Arschloch!«, regte sich sein Papa auf. »Von solchen Arschlöchern wurde John Lennon ermordet. Er hatte eine sehr große Anziehungskraft auf die Menschen, und ich habe schon damals zu ihm gesagt, John, sie werden dich killen, wenn du so weiter machst. Ich sollte euch darüber lieber nichts erzählen. Ihr glaubt, ihr kennt alle Geschichten, weil ihr ein Mal im Leben ein dickes Buch gelesen habt. Aber die Geschichte lebt nicht in dicken Büchern, sie lebt in den Herzen und der Erinnerung der Menschen!«

Andrejs Vater trank seinen Whisky aus. Wir waren verwirrt. Alle Welt wusste doch, dass John Lennon nie in seinem Leben die Sowjetunion besucht hatte. Andrejs Vater hatte wiederum die Sowjetunion niemals verlassen, die beiden konnten also unmöglich gemeinsam auf der Bühne gestanden haben. Als wir ihn mit diesen Tatsachen konfrontierten, bekamen wir seine Version zu hören.

Andrejs Vater behauptete im Ernst, 1966 in der Hauptstadt der usbekischen Republik im dortigen Café Flamingo während einer Hochzeit mit John Lennon persönlich »All you need is love« gesungen zu haben. Anfang der Sechzigerjahre hatte er sein Studium als Klarinettist an der Musikakademie in St. Petersburg abgeschlossen und wurde für fünf Jahre nach Taschkent in die dortige Philharmonie abkommandiert. Er hatte da zehn Pflichtkonzerte im Monat abzuleisten, den Rest der Zeit versuchte Andrejs Vater seine Finanzen mit Restaurantauftritten aufzubessern. Mit drei Philharmonie-Kollegen gründete er eine Band und »hackte die Kohle«, wie es damals hieß, auf Hochzeiten, Geburtstagen oder einfach auf den bekannten Tanzflächen der usbekischen Hauptstadt. Unter anderem in dem seinerzeit berüchtigten Café Flamingo.

Dort fand einmal eine stinknormale Hochzeit mit dreihundert Gästen statt. Die Band von Andrejs Vater galt in der Stadt als sehr progressiv, sie spielten schon damals Cliff Richard, Paul Anka und auch die Beatles: »Can’t buy me love« zum Beispiel. Zum Zeitpunkt der Hochzeit flogen die Beatles gerade aus Indien nach London zurück mit einer Zwischenlandung in Taschkent. Die kurze Pause, die zum Auftanken vorgesehen war, wollten die Beatles nicht am Flughafen verbringen. Sie bekamen ein Kurzvisum für drei Stunden und fuhren in Begleitung eines Polizeiwagens in die Stadt. Als sie am Café Flamingo vorbeikamen, uferte die Hochzeit dort bereits aus zu einem wilden Konzert mit Tanzen auf dem Hof. John und Co. wurden von dem Brautpaar sofort aufgefordert, auf ihr Wohl zu trinken, wie vermutlich jeder andere, der dort um diese Zeit vorbeikam.

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Die Hochzeit und vor allem die Band sollen John sehr gut gefallen haben, besonders beeindruckt war er von dem Saxophonisten. Andrejs Vater spielte zu Ehren des ausländischen Gastes die Marseillaise, und John wurde auf die Bühne gezerrt. Er musste nach alter usbekischer Sitte dem Brautpaar ein Gedicht oder ein Lied widmen. Lennon nahm die Gitarre, griff die letzten Akkorde der Marseillaise auf und sang dazu »All you need is love«. Er hätte beinahe sein Flugzeug verpasst, erzählte uns der Vater.

»Ein Jahr später wurde dieser Song überall auf der Welt zu einem Riesenhit, und alle dachten, John hat dieses Lied geschrieben, um gegen den Vietnamkrieg zu protestieren. In Wirklichkeit hatte er damit nur ein Brautpaar in Taschkent begrüßt, und ich spielte als Erster das Solo auf dem Saxophon«, beendete Andrejs Vater stolz seine Erzählung.

»Warum hast du dich denn nicht mit Lennon fotografieren oder ihn etwas signieren lassen?«, fragte Andrej, der dabei wahrscheinlich an eBay und seine finanziellen Probleme dachte.

Der Vater machte eine Pause und nahm einen Schluck.

»Natürlich habe ich das gemacht«, sagte er. »Ich habe ihn sogar um ein Autogramm gebeten, hier auf dem Arm.« Der Vater zeigte auf seinen linken Arm. »Nur habe ich das Autogramm noch in der gleichen Nacht weggeschwitzt. John fuhr zum Flughafen, wir hatten aber noch die ganze Nacht zu spielen. Der Film in der Kamera war defekt, und dieses Hochzeitspaar trennte sich schon im darauffolgenden Jahr.«

Die Ausreden des Vaters, warum er kein Stück von John Lennon behalten habe, klangen kindisch. Am nächsten Tag hatten alle Kopfschmerzen. Wir teilten uns eine Packung Aspirin, und nachdenklich verglich Andrej dabei seinen Vater mit dem guten zwölfjährigen Whisky. Auch wenn er hundert Jahre in einem vietnamesischen Geschäft auf einem Regal steht, bleibt er trotzdem für immer zwölf.

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Väter und Söhne

Es mag nicht besonders glaubwürdig klingen, aber auch mein Leben besteht nicht nur aus Spaß. Niemand ist allein auf der Welt, und so habe ich wie jeder andere gewisse Pflichten meinen Mitmenschen gegenüber. Ich muss zum Beispiel jeden Tag unseren Hauscomputer für die ganze Familie einund ausschalten, neue Telefonspiele aufladen, einmal im Jahr mit den Kindern den neuen Harry Potter ankucken, mit ihnen Kicker und Billard spielen, mit meiner Frau zwischendurch ein alkoholisches Erfrischungsgetränk zu mir nehmen, meiner Mutter regelmäßig neue russische Fernsehserien besorgen und die Gedichte meines Vaters ins Deutsche übersetzen.

Letzteres ist mit Abstand die lästigste Pflicht. Ich mag Poesie nicht, schon gar nicht, wenn sie aus dem engeren Familienkreis stammt. Mehrmals habe ich die Gedichte meines Vaters schon in Geschichten eingebaut, bei denen sich das Publikum dann amüsierte. Sie hatten gut lachen, sie haben die Originale nicht gelesen. Deswegen suche ich

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stets nach passenden Ausreden, wenn mein Vater mit seinen Gedichten bei mir aufkreuzt. Er aber erfindet laufend neue Gründe, um mich mit seiner Kunst zu konfrontieren.

Vor einiger Zeit zogen meine Eltern in eine neue Wohnung um. Der Umzug inspirierte meinen Vater sofort zu einer kleinen gemeinen Dichtung, und schon einen Tag nach dem Umzug stand er mit einem DIN-A4-Blatt Papier in der Hand in meinem Arbeitszimmer und schaute mich traurig an.

»Ich muss mit dir etwas sehr Wichtiges besprechen.« »Gedichte!«, dachte ich sofort.

Er fing aber anders an. »Mein vorletzter Umzug«, seufzte er. »Der Tod naht, bald geht es ab in Richtung Himmel.«

»Wem sagst du das, geht mir doch genauso«, beruhigte ich ihn. »Ich habe schon mein Testament geschrieben. Alles wird dir

gehören, mein Werkzeugkasten, meine Fotos, meine Elektrosäge, meine Pflanzen und mein neuer Fernseher.«

»Das freut mich natürlich sehr«, erwiderte ich diplomatisch.

»Ich muss dir noch erzählen, wo meine Ersparnisse versteckt sind«, fuhr er fort.

»Wo denn?«, fragte ich aus purer Höflichkeit.

»Später«, wiegelte mein Vater ab. »Zuerst möchte ich dich fragen, ob du mir meinen letzten Willen erfüllen könntest.«

»Sicher, klar«, versicherte ich.

»Du musst das hier übersetzen«, er legte mit das Blatt auf den Tisch. »Das ist mein Epitaph. Ich möchte diese Zeilen auf meinen Grabstein gemeißelt haben. Du wirst mir doch einen spendieren, oder?«

Kurz zuvor hatte ich in der Zeitung gelesen, dass man neuerdings großartige Grabstätten für seine Verwandtschaft im Internet einrichten konnte: auf einer sonnigen Internetseite, deren Ruhe niemals von zufälligen Besuchern gestört wurde. Man konnte sie sich sogar automatisch einmal im Jahr zum Auffrischen der Erinnerung auf den Bildschirm holen. Ich wollte meinen Vater mit dieser virtuellen Realität jedoch nicht vorzeitig konfrontieren. Und bei seinem Epitaph dachte ich nur an ein paar Zeilen. Das Werk meines Vaters hatte jedoch sechzehn Zeilen und einen Refrain.

»Das ist kein Epitaph, Papa, das ist ein ganzes Lied«, meinte ich zu ihm. »Dazu braucht es Grabsteine von solcher Größe wie sie in unserem Jahrhundert nur noch blutrünstige Diktatoren bekommen haben - Lenin, Stalin, Mao Tse-tung. Auf ein herkömmliches Grabmal wird dieses Werk niemals passen.«

Vor allem irritierte mich, dass sein Epitaph mit meiner Adresse und Telefonnummer endete.

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»Vielleicht würde der Text jemandem gefallen«, erklärte mein Vater, »alle Rechte werden dir gehören.« Wegen der Länge, sagte er, soll ich ihm Kürzungsvorschläge machen.

Ich vertiefte mich in den Text. Das Epitaph klang etwa so:

Der letzte Flug, der letzte Umzug, Schon ruft nach mir die hohe Macht,

Sie holt mich. Wie , egal - Prostata oder Gicht. Und weiter nur stille Kälte,

Es führt kein Weg zurück ins Licht,

Ob Krieger bist du, König oder Rentner. Wo ist dein Thron und wo der Heimat Lohn Für deine Arbeit, Liebe und Hingabe?

Die Heimat schweigt, wenn ich diese Fragen habe, Es dringt nicht ein Geräusch aus der Heimat Bauch, Sie schweigt wie Stein, dann schweige ich jetzt auch.

Mein Kürzungsvorschlag, das Ganze auf die letzte Hälfte des letzten Satzes »Dann schweige ich jetzt auch« zu reduzieren, wurde von meinem Vater entsetzt abgelehnt. Ich verwies ihn vorsichtig auf den Vater meines Nachbarn Andrej, der überhaupt nicht an den Tod denkt - im Gegenteil. Er schreibt auch keine Gedichte. Er fühlt sich noch jung, allerdings ist er auch jünger als mein Vater. Aber manchmal fühlt er sich sogar zu jung. Von meinem Vater weiß ich zumindest, worauf man sich gefasst machen muss. Der Vater von Andrej ist unberechenbar. Ich kann ihn nicht richtig einschätzen. Ein Teil von mir sagt, der Vater von Andrej ist ein grandioser Mensch mit bunter Vergangenheit, und es macht mir große Freude, ihm zuzuhören. Seine Geschichten erscheinen zunächst glaubwürdig und tiefsinnig, enden aber oft als krasse Klamotte. Ein anderer Teil von mir flüstert deswegen, dass der Vater von Andrej ein Spinner ist. Wahrscheinlich stimmt beides. Mit dieser geteilten Meinung kann ich gut leben.

Im Grunde habe ich zu jedem Mensch und jedem Ereignis geteilte Meinungen, die sich oft ausschließen. Diese Fähigkeit hat mein sechsjähriger Sohn, der sich schon jetzt nicht mehr festlegen kann, wahrscheinlich von mir geerbt. Neulich hat er deswegen beinahe geweint.

»Was soll ich tun, Papa?«, fragte er unter Tränen. »Es ist so, als würden zwei verschiedene Menschen in mir stecken. Der eine sagt, geh sofort Computer spielen, geh sofort Computer spielen. Aber der andere sagt, geh Fernsehen kucken, geh Fernsehen kucken!«

Von einer solchen Problematik fasziniert, versuchte ich meinem Sohn zu helfen.

»Das kriegen wir schon hin, mein Junge«, sagte ich. »Wir erledigen das - eins nach dem anderen.«

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»Ist da nicht noch einer in dir, der sagt, geh Hausaufgaben machen?«, erkundigte sich meine Frau.

Sebastian blickte tief in sich hinein und fand diesen dritten tatsächlich, der aber ganz klein, leise und unbedeutend war.

Zurück zu Andrejs Vater: Während seines letzten Besuchs bei seinem Sohn ging er auf die Schönhauser Allee, um einzukaufen und kam mit einer neuen Reggae-Jeansjacke wieder, die eigentlich nur Minderjährige tragen. Uns erzählte er, wie es zu diesem Kauf gekommen war. Er war zufällig an dem coolen Geschäft Fuck Mode, mit orangefarbenen Guantanamo-T-Shirts in den Schaufenstern vorbeigegangen. Dort hat ihn plötzlich der Jugendwahn erfasst.

»Wie oft habe ich von solchen Klamotten geträumt, damals in den Siebzigern«, erzählte er. »Besonders hatte es mir eine Jacke mit Jimi Hendrix auf dem Rücken angetan. So eine hatte unser Schlagzeuger von seiner Tante aus England geschenkt bekommen. Ich wollte ihm die Jacke damals abkaufen, er verlangte aber fünfhundert Rubel dafür, eine Unsumme, so viel hatte ich nicht. Nun stand ich plötzlich vor diesem Laden und sah sie, die Jacke meiner Träume - dort im Schaufenster. Sie war nicht einmal teuer. Da dachte ich, was soll’s, ich habe jetzt Geld, ich habe jetzt Mumm, und ich bin noch immer ein großer Fan von Jimi Hendrix. Ich kaufe sie mir einfach. Bin rein in den Laden und habe die Jacke sofort angezogen. Die gepiercten Verkäufer haben mich komisch angesehen, und eine Frau auf der Straße hat mich angelächelt. Sie dachten wahrscheinlich, dieser alte Sack, jetzt ist er fällig geworden. Doch mir ist egal, was sie denken. Ich habe in dieser Jacke das Gefühl, endlich ich selbst zu sein! Das hat mir in den letzten Jahren so gefehlt. Ich wurde so oft von meinen Mitmenschen missverstanden, nur weil ich in falschen Klamotten steckte. Jetzt aber kann ich mein wahres Gesicht zeigen. Ja, Jimi Hendrix war ein Gott, seine Musik zeigte mir den Weg und erwärmte mein Herz«, beendete der Vater seine Erzählung.

Andrej und ich betrachteten seinen Kauf mit Erstaunen.

»Eins verstehe ich nicht«, sagte Andrej schließlich. »Wenn du ein so großer Fan von Jimi Hendrix bist, warum kaufst du dir dann eine Jacke mit Bob Marley auf dem Rücken?«

Für seinen Vater war diese Bemerkung ein harter Schlag, ein K.O. Er zog die Jacke aus, setzte die Brille auf und studierte aufmerksam das Porträt. Kein Zweifel, ein Fehlkauf.

»Ein Glück, dass er nicht Che Guevara erwischt hat«, meinte Andrej trocken.

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Plüschtiere aus Schlobin

Bei uns im Korridor zwischen dem Schuhschrank und dem Garderobenständer steht ein rosaroter Panther, der in der Dunkelheit leuchtet: ein weißrussisches Plüschtier, das wir von unserem Nachbarn Sergej geschenkt bekommen haben und das regelmäßig Gäste erschreckt, wenn sie sich zum Beispiel die Schnürsenkel binden und der Panther ihnen plötzlich in den Rücken fällt. Viele fürchten sich vor ihm. Der weißrussische Panther sieht nämlich gar nicht niedlich aus, sondern wie ein geschlachtetes Raubtier. Genauer gesagt: wie ein echter Panther aus Afrika, der sich nach Weißrussland abgesetzt und sich in den dortigen Wäldern und Sümpfen versteckt hat, dann aber von der weißrussischen Polizei gefangen genommen und gefoltert wurde. Er verriet aber seine Identität nicht und starb schließlich einen Heldentod durch mehrfaches Erschießen und Erhängen. Anschließend stopften die Weißrussen den Kadaver aus und verkauften ihn als Plüschtier an die Touristen.

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Dieser Panther ist nicht das einzige weißrussische Plüschtier in unserem Haus. Meine Nachbarn aus der Russen-WG haben noch ein Kamel und ein Eichhörnchen beide groß wie Kühlschränke, in der Wohnung stehen. Immer wenn Sergej seine weißrussische Heimat, die Stadt Gomel besucht, packt ihm seine Mutter ein Plüschtier ein.

»Nein, Mama«, wehrt sich Sergej jedes Mal vergeblich. »Ich kann diesen Löwen bzw. das Schweinchen oder Känguru unmöglich nach Berlin mitnehmen! Ein erwachsener Mann mit einem Riesenplüschtier im Arm - willst du, dass halb Europa über mich lacht?«

»Aber es ist so niedlich, so kuschelig«, lässt die Mutter nicht locker. »Du kannst das Tierchen deiner Freundin schenken. Wenn du es ins Bett legst, wird sie begeistert sein!«

»Wenn ich dieses Tierchen mit ins Bett nehme, wird dort kein Platz mehr für meine Freundin sein. Dann werde ich mein Leben lang nur mit diesem Tierchen schlafen müssen!«, regt sich Sergej auf.

»Musst du nicht«, beruhigt ihn die Mutter. »Ich schenke dir nächstes Jahr ein neues, ein anderes Tierchen. Willst du einen Eisbären?«

Natürlich sagt Sergej am Ende ja und nimmt das Tierchen mit, weil es sinnlos ist, mit seiner Mutter zu streiten. Zu Hause in Berlin versucht er, das Tier zu entsorgen, indem er es zum Beispiel an uns oder andere Bekannte weiterverschenkte. Das klappt nicht immer. Ost ist Ost, und West ist West, sie werden einander nie verstehen. Obwohl die Plüschtierbesessenheit der Weißrussen eigentlich leicht nachzuvollziehen ist. Sie erklärt sich aus der kapitalistischen Entwicklung der weißrussischen Stadt Schlobin in der Nähe von Gomel und dem Widerstand, den die Bewohner dieser Entwicklung entgegenbrachten. In Schlobin steht die berühmte Fabrik namens

Schlobinskaja Fabrika für weiche Spielzeugproduktion. In der sozialistischen Planwirtschaft wurde sie dazu auserkoren, die ganze Sowjetunion - ein Sechstel der gesamten Erdoberfläche, wie uns in der in der Schule erzählt wurde - mit weichem Spielzeug zu beliefern. Die Bevölkerung von Schlobin war vollzählig in die Produktion des weichen Spielzeuges involviert.

Nach der Auflösung der Sowjetunion war von einem Sechstel der Erdoberfläche nur wenig übrig geblieben. Die Fabrik drosselte die Produktion von weichem Spielzeug soweit es ging, trotzdem produzierte sie immer noch viel mehr als sie verkaufte. Denn die frischgebackenen unabhängigen Republiken wollten ihre Unabhängigkeit weiter ausbauen und kauften ihr Spielzeug fortan nicht mehr beim Nachbarn, sondern in China. Obwohl jeder wusste, dass die Chinesen ihre Plüschtiere aus giftigen Materialien herstellen, die sich auf die zukünftige Potenz der Kinder negativ auswirken

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konnte. Man erzählte sich, dass die Chinesen durch dieses Spielzeug die Geburtenrate im eigenen Land bereits deutlich gesenkt hatten.

In den anderen weißrussischen Städten, die sich auf die Produktion von Dünger oder Traktoren spezialisiert hatten, in den Kolchosen, die zu Agrarfarmen umgewandelt waren, kamen und kommen die Bewohner noch irgendwie über die Runden. Aber die Arbeiter von Schlobin sahen schwarz. Der Stadt drohten die totale Arbeitslosigkeit, Elend und Not. Der Betrieb musste sich an die neue Zeit anpassen - nur wie? Die neu eingerichtete Produktionslinie für »sprechende Sexplüschtiere« konnte allein keine dauerhafte Lösung bringen. Die Fabrikleitung beriet sich mit Politikern, dann schlug sie ihren Arbeitern vor, zwei Drittel des Gehaltes künftig statt in Geld in Fabrikprodukten, das hieß in Plüschtieren, auszubezahlen. Nur so könnte die Fabrik die schweren Zeiten überleben und weitere Entlassungen vermeiden.

Die Arbeiter atmeten tief ein und stimmten dem Angebot schließlich zu.

Damals, vor zehn Jahren, konnte niemand ahnen, welche Auswirkungen diese Entscheidung auf das Stadtbild und die Lebensgewohnheiten der Einwohner haben würde. Inzwischen hat sich die halbe Stadt in einen Spielzeugmarkt verwandelt. Man kann in Schlobin um 2.00 Uhr morgens noch eine Giraffe kaufen. Viele Züge, die durch Weißrussland fahren, machen in Schlobin Halt. Die Passagiere, die zum ersten Mal die Stadt besuchen, erstarren vor Schreck, wenn ihnen plötzlich stark behaarte Löwen und orangefarben gefederte Moorhühner vom Bahnsteig entgegenspringen. Bären und Mustangs laufen über die Gleise und drücken ihre Fratzen an die Fensterscheiben. Die Arbeiter von Schlobin lassen sich nur in großkalibrigen Tieren von der Fabrik entlohnen, weil sie teurer sind und sich besser verkaufen lassen. Deswegen sieht man auf dem Bahnsteig keine Menschen, sondern nur große Plüschtiere, die auf Menschenbeinen von einem Zug zum anderen laufen. Als Verkäufer sind die Arbeiter der Spielzeugfabrik hartnäckig und lassen sich nicht mit einem einfachen Kopfschütteln oder dummen Sprüchen abschütteln. Sie sind rhetorisch gewieft, überzeugend und können praktisch jedem Rentner ein Plüschtier andrehen.

Den erwarteten Wohlstand, diesen Hauptbestandteil des Kapitalismus, vermisst man an vielen Orten in Weißrussland. Er hat sich äußerst wählerisch benommen und ist nicht in jedes Haus eingezogen. Es gibt noch viele Familien, die kein Auto besitzen, sich keinen Urlaub in der Türkei leisten können und nur einen Fernsehapparat haben. Dafür gibt es in Schlobin und Umgebung niemanden, der kein Riesenplüschtier besitzt. Es werden welche nach

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Russland verkauft, manche sogar privat exportiert. Eines davon landete bei uns im Korridor. Er schreckt die Gäste ab und leuchtet in der Dunkelheit, mein rosaroter Freund, der verlorene Sohn des Ostens, unter komplizierten Umständen gezeugt, aus Solidarität geboren.

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Der Ernst des Lebens und das ewige Eis

In meinem Haus in Berlin lebt eine leichtsinnige Gesellschaft. Abgesehen von meinen schwermütigen russischen Freunden haben alle hier Unterhaltungsberufe. Die Mehrheit bilden freischaffende Internetdesigner, außerdem haben wir einen Sozialarbeiter, der minderjährigen Straftätern das Tischlern beibringt, einen Theaterpädagogen, eine Literaturwissenschaftlerin, einen Bäcker, einen Weinhändler und einen abstrakten Maler mit roten Haaren, der mit einer abstrakten Sängerin aus Spanien liiert ist. Manchmal singen die beiden gemeinsam Opernarien und spanische Volkslieder auf dem Balkon. Eigentlich sind wir ein gut eingespieltes Team, die perfekte Besetzung für jeden Kindergeburtstag. Es fehlen nur noch ein Zauberer, ein paar Akrobaten, ein Kaninchenbändiger, und ein Schlangenbeschwörer wäre bei uns auch nicht fehl am Platz.

Diese Nachbarschaft passt perfekt zu der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die den Alltag als eine Reihe von Attraktionen

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