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konzipiert, als endlose Kinderparty. In meinem ehemaligen sozialistischen Wohnhaus in Moskau hatten die meisten Nachbarn gewichtigere Berufe. Sie waren Lehrer, Hubschrauberpiloten, Lkw-Fahrer und Offiziere. Die Sowjetunion war auf solche ernste Berufsgruppen in besonderem Maße angewiesen. Man musste im Sozialismus nämlich ständig irgendetwas auswendig lernen, große Sachen durch die Gegend schleppen und umständliche Uniformen tragen. Mein Vater arbeitete in einem Betrieb der Binnenschifffahrt, der ausklappbare Brücken für kleine Flüsse produzierte. Meine Mutter unterrichtete in einer technischen Fachschule die sowjetische Jugend in Festigkeitslehre. Inzwischen ist unser ehemaliges Haus längst planiert und musste einer sogenannten Gesundheitsfarm, einer Wellness-Oase, weichen.

Die natürliche Schwierigkeit des Seins wurde einem in der Sowjetunion durch das Fernsehprogramm deutlich vermittelt. Man konnte stundenlang durch alle vier Kanäle zappen: Den Stahlöfen folgten die Traktoren, danach kamen die Panzer und dann die Raketen. Es ging immer um Arbeit, nie um Erholung. Selbst am frühen Sonntag wurde gleich nach der Morgengymnastik Die Stunde des Landwirts ausgestrahlt, danach die militante Sendung Diene der Sowjetunion, im Anschluss daran das Fernsehmagazin Gesundheit und Sport, weiter ging es mit dem Ballett Schwanensee, das bildhaft den Ernst des Schwanenlebens und -leidens schilderte. Wenn im Politbüro jemand gestorben war, wurden überhaupt alle aktuellen Sendungen zu Gunsten von Schwanensee aus dem Programm gekippt. Die Schwäne kamen dann in eine Endlosschleife.

Der Kapitalismus dagegen unterhält unermüdlich. Die gute Laune der Profiunterhalter tropft durch alle Fernsehprogramme. Besonders viel Frohsinn bringt die Werbung ins Wohnzimmer. Alle Menschen in der Werbung tun so, als hätten sie eine Klatsche. Sie freuen sich wie bekloppt über jede Kleinigkeit. Eine Packung Waschpulver kann sie zu den glücklichsten Menschen der Welt machen, und wegen eines Lutschers drehen sie völlig durch. Nur, wer will das sehen, wie erwachsene Menschen einander den Mund mit Pralinen vollstopfen, als hätten sie nie eine Kindheit gehabt?

Statt vor der Glotze verbringe ich lieber ein paar Stunden auf dem Balkon mit meinen russischen Nachbarn. Wir erinnern uns gerne an die besonders peinlichen Momente unserer Vergangenheit, an die missglückten Beziehungen, an die dümmsten Situationen, an die miesesten Jobs, die wir hatten. Nichts ist lustiger als der Ernst des Lebens.

Mein schlimmster Job war Prospektverteiler in Berlin. Unser damaliger Chef warnte uns täglich davor, auch nur einen Prospekt wegzuschmeißen, denn solche Vergehen würden über kurz oder lang

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immer ans Licht kommen, behauptete er. Die Prospekte waren an der Seite unterschiedlich markiert, damit man leicht die Personalien ihres Verteilers ermitteln konnte. Trotz dieser Warnungen dachte ich nicht eine Sekunde daran, das überflüssige Werbematerial tatsächlich zu verteilen. Ich hatte mich gleich am ersten Arbeitstag auf die aus meiner Sicht einzig mögliche Art des Umgangs mit Werbeprospekten festgelegt: ihre totale Vernichtung. Man muss dazu sagen, dass ich nicht aus Faulheit handelte. Die Prospekte zu vernichten war viel schwieriger, als sie zu verteilen. Ich wollte die Menschheit vor den Prospekten retten.

Mit der Zeit entwickelte sich mein Prospektvernichtungsprogramm zu einer fixen Idee. Ich habe alles Mögliche versucht, um das Werbematerial loszuwerden. Ich zündete die Prospekte in einer Tonne an - sie brannten nicht. Außerdem kippten jugendliche Straftäter die Tonne um, meine Prospekte flatterten durch die Luft und verteilten sich von allein über die halbe Stadt. Ungefähr zwanzig Kilo vergrub ich nachts auf einem Kindergartengelände hinter dem Haus, in dem ich damals wohnte. Sie wurden von neugierigen Hunden ausgegraben und flatterten wenig später ebenfalls überall im Bezirk herum. Ich habe versucht, sie mit einem Gewicht in einem See zu versenken: Das Gewicht ging unter, die Prospekte schwammen auf der Oberfläche. Am Ende hatte ich Angst einzuschlafen und hielt mich mit Alkohol wach. Denn kaum schloss ich die Augen, sah ich mich unter Tonnen von Werbeprospekten begraben.

Mein Nachbar Sergej arbeitete damals eine Zeit lang bei Bremen in einem Betrieb, der Verpackungsmaschinen für Hühnereier produzierte. Die großen Eierfarmen schickten die Verpackungslinien in der Regel nach zwei bis drei Jahren zu diesem Betrieb zurück. Dort wurden sie gesäubert, repariert und preiswert als Secondhandware an Kleinunternehmer weiterverkauft. Sergej gehörte der Russenbrigade an, die den dreckigsten Job im ganzen Betrieb hatte: Sie mussten die festgeklebte alte Eierpampe aus den gebrauchten Verpackungslinien entfernen. Für fünf Mark die Stunde. Nachts träumte er von Menschen, die ununterbrochen große braune Hühnereier legten.

Während wir auf dem Balkon saßen, sendete mein kleines Fernsehgerät in der Küche Werbung ohne Ton gezielt in unsere Richtung. Immer wenn wir hinschauten, war es die gleiche Werbung: Ein junger Mann betrat eine Wohnung mit einem Karton unterm Arm. Der Mann hatte hellblaue Augen und war sehr muskulös. Er lächelte so hintergründig, als hätte er gerade jemanden auf der Strasse vermöbelt und ihm den Karton mit Diamanten weggenommen. Der Muskelmann gehörte zu jener Sorte, die nie Gewissensbisse haben, nie unsicher sind, bei dem was sie tun. Diese

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Männer gehen mit geradem Rücken durch die Welt, immer einem klaren Ziel entgegen. Sie werden nie zögern, ganz egal, ob ein hungriger Wolf, ein gefährlicher Krieger oder ein durchgedrehter Elefant ihnen über den Weg läuft. Der Mann mit den hellblauen Augen würde in einer solchen Situation ohne nachzudenken, dem Wolf im Laufen das Fell abziehen, dem Krieger seinen Speer und Bogen abkaufen, und dem Elefanten aus Spaß den Rüssel verknoten.

In der Werbung packte dieser Supermann den Karton aus, während seine Freunde vor Begeisterung brüllten, ihm zitternd ihre Hände und Füße entgegenstreckten und sehnsüchtig auf seine Beute schielten. Man sah ihnen an, dass sie für den Karton Vater und Mutter verraten würden. Was wird wohl darin sein?, rätselten wir. Andrej tippte auf Pralinen oder Kartoffelchips. Ich wollte mich nicht gleich festlegen. Vielleicht wird der Supermann diesmal etwas ganz Ausgefallenes herausholen, etwas, das alle Fernsehzuschauer ohne Ausnahme vom Hocker reißt. Was könnte das sein? Theaterkarten? Kondome? Der komplette Brockhaus vielleicht? Ich machte die Augen zu und stellte mir genüsslich vor, wie der Mann mit den hellblauen Augen statt Joghurt oder Pralinen das superdicke Lehrbuch meiner Mutter über Festigkeitslehre auspackte und es mit schrägem Lächeln in die Kamera hielt. Alle um ihn herum würden aufspringen, sie würden versuchen, einander wie im Rausch das Buch aus der Hand zu reißen. Und eine junge Frau, die es ergattert hatte, würde stöhnend auf den Teppich fallen und allen anderen laut aus dem Buch vorlesen.

In Wirklichkeit konnte es sich angesichts des ewigen Kindergeburtstags unserer bunten Konsumgesellschaft unmöglich um ein ernstes Buch handeln. Alle Bücher des Westens sind Kinderbücher, alle Filme müsste man hier mit einer Altersbegrenzung »bis 18« vermerken. Erwachsene Menschen lesen hier ein Leben lang Harry Potter und schauen sich Komikverfilmungen an. Ich habe hier noch nirgendwo ein Buch über Festigkeitslehre gesehen. Den kompletten Brockhaus sah ich nur ein Mal, auf dem Land, als ich meinen deutschen Freund Frank in seinem Elternhaus bei Homburg in Hessen besuchte.

Ich erinnere mich noch gut an diese Reise, denn sie war für mich ein ziemlicher Kulturschock. Die Eltern von Frank arbeiteten beide in der Stadtverwaltung und hatten als Beamte eine gehobene Stellung im Ort. Im Gästezimmer hatten sie eine große braune Schrankwand voller Bücher, darunter mindestens dreißig Bände Brockhaus, wenn nicht mehr. Ich bemühte mich zehn Minuten lang, aus dieser Mauer des Wissens einen Band herauszubrechen. Es gelang mir nicht, die Bände waren wie zusammengeschweißt. Zornig drückte ich mit etwas mehr Kraft gegen die Buchwand, als plötzlich ein Wunder geschah: Der ganze Brockhaus erwies sich als Attrappe. Sie öffnete sich wie

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eine Geheimtür, und wie auf einem Tablett glitt aus dem Inneren der Schrankwand ein Fernsehgerät hervor. Die Eltern von Frank lachten über meinen Schreck, mir aber brannten die Ohren, als hätte ich diese sympathischen Menschen beim Klauen erwischt. Sie kochten Kaffee und luden uns, als wäre nichts geschehen, zu Tisch und servierten Kuchen und Eis.

Auch der Mann im Fernsehen verteilte Eis aus dem Karton - ein blödes Eis mit Kaugummigeschmack, das selbst meine Kinder eklig finden, obwohl sie sonst so gut wie alles mögen, was süß und fettig ist. Die Erwachsenen in der Glotze sprangen vor Begeisterung an die Decke. Überschwänglich bewarfen sie einander mit Eis, steckten es sich sofort hinter die Backe und erstarrten auf der Stelle vor Freude.

»Das war mein schlimmster Job«, meinte Sergej und zeigte auf den Bildschirm.

»Warst du etwa beim Fernsehen?«, fragten wir ungläubig.

Nein, aber er habe zwei Monate in einer Eisfabrik in Russland gearbeitet. Seitdem mag er kein Eis mehr. Die Fabrikproduktion war auf drei Eissorten spezialisiert: das Familien-Eis - ein halbes Kilo Brikett ohne Schnickschnack -, dann das Einhörnchen-Eis am Stiel mit Schokolade und Nüssen überzogen, und schließlich das Polarlicht in der Waffel, schneeweiß und sehr süß. Sergejs Aufgabe war es, die Stiele in die fertigen Einhörnchen-Briketts zu stecken.

Die ersten zwei Tage gingen noch. Er und sein Partner schafften es, in acht Stunden eine Palette Einhörnchen-Eis aufzuessen. Die dicken Tanten, die bei der Herstellung arbeiteten, aßen kein Eis mehr. Sie tranken die ganze Zeit die halbfertige Milchmischung und waren damit beschäftigt, die wichtigsten Komponenten der Eisherstellung aus dem Betrieb Richtung Zuhause zu entfernen. Es ging um Zucker, Milch, Schokolade und Nüsse, die ganz besonders wertvoll waren. Diese Produkte trugen sie am ganzen Körper aus dem Betrieb: auf dem Rücken, im Büstenhalter, unter dem Rock. Wenn sie erwischt wurden, schüttete man die sichergestellten Produkte wieder zurück in die Milchmischung.

Seit dieser Zeit kann Sergej kein Eis mehr sehen. Nicht einmal in der Werbung. Abgesehen davon ist es aber doch ein Kinderprodukt. Wahrscheinlich mischen sie im Kapitalismus dem Eis irgendetwas bei, damit die Menschen bis ins hohe Alter Gefallen daran finden und es bis zu ihrem Tod begeistert essen.

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Der Russe lacht nicht

Wenn drei Russen an einem Tisch zusammenkommen, fangen sie in der Regel schon nach fünf Minuten an, einander Witze zu erzählen. Am liebsten politische mit einem langen Bart, die sie noch aus dem Kindergarten kennen. Man glaubt nicht, wie viel alter Witz in jedem Russen steckt. Sie können den ganzen Tag erzählen, doch über ihre eigenen Witze lachen sie nie. Dieses merkwürdige Verhalten hat seine Geschichte. Anekdoten hatten in Russland verschiedene Funktionen, man konnte mit ihnen angeben, sich politisch in einer Gruppe positionieren, Freunde gewinnen und Feinde erkennen. Sie mussten dabei nicht einmal lustig sein.

In meiner Kindheit, vor fünfundzwanzig Jahren, blühte in Russland der politische Witz. Dafür gab es zwei Gründe. Zum einen war der damalige Generalsekretär Leonid Breschnew wirklich witzig. Er hatte einen Sprachfehler, konnte kaum noch gerade stehen, verlieh sich selbst jedes Jahr neue Orden und Medaillen und wurde von seinen

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Parteigenossen stets »unser verehrter Leonid Iljitsch« genannt. Man musste sich keine Witze über Breschnew ausdenken. Ihn einfach bei einem Staatsbesuch zu beobachten, reichte schon für eine Flut von Volkshumor. Breschnew hatte es einfach drauf!

Der zweite Grund für die Popularität des politischen Witzes lag darin, dass man trotz der sozialistischen Diktatur nicht mehr Gefahr lief, wegen eines Witzes im Gefängnis zu landen wie noch unter Breschnews Vorgängern. Das Regime wurde in den Achtzigerjahren dem Volkshumor gegenüber nachlässig. Und der politische Witz wurde zum Ausdruck eines passiven Kampfes gegen den Totalitarismus. Das Imperium, das sich selbst als ewig und unantastbar begriff, wurde mit diesen Witzen vom Sockel der Geschichte gerissen und verspottet.

Mit dem Alter entdeckte unser Leonid Iljitsch sein Interesse für Literatur. Er ließ unter seinem Namen einen Haufen Biographisches erscheinen, alles Bücher, die seine Heldentaten zur Zeit des Zweiten Weltkrieges und seine Leistungen beim Wiederaufbau des Landes maßlos übertrieben. Wir Schüler mussten diese Bücher im Literaturunterricht studieren und Aufsätze über sie schreiben. In den Krieg trat Breschnew als Unteroffizier, was aber in seinen Büchern nicht auffiel. Die Werke dienten als unerschöpfliches Nachschublager für Breschnew-Witze:

Wir schreiben das Jahr 1945. Der Generalissimus Stalin ruft bei Marschall Schukow an:

»Haben Sie schon ein Plan für die Eroberung Berlins?« »Jawohl, Genosse Stalin!«

»Und haben Sie ihn schon mit dem Unteroffizier Breschnew abgesprochen?«

Breschnew ernannte sich selbst später ebenfalls zum Marschall, im Volksmund hieß es:

»Wofür hat Breschnew den Marschalltitel bekommen? Für die Eroberung des Kreml.«

Die wirkliche Politik hat damals niemanden groß interessiert. Während des Literaturunterrichts hatten viele von uns unter der Bank französische Abenteuerromane von Maurice Druon auf den Knien liegen. Diese Liebesintrigen aus dem Leben der königlichen Familie waren uns näher als die Politschinken: »Oh Gott«, stöhnte die Königin. »Ich bin schwanger und weiß nicht von wem!« In diesen Romanen spielte sich das wahre Leben ab, in Breschnews Werken wurde dagegen nie jemand schwanger. Man las also Liebesromane im Unterricht und erzählte in der Pause Witze über den Generalsekretär:

Breschnew gibt eine Pressekonferenz. »Hat noch jemand Fragen?«

Alle schweigen.

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»Keine Fragen?«, wundert sich Breschnew. »Das kann nicht sein, Genossen, ich habe hier noch zwei Antworten vor mir liegen.«

Mit der Perestroika kam alles in Bewegung. Plötzlich wurde die Politik spannend, skurril, hoffnungsvoll und war überhaupt nicht mehr komisch. Alle starrten wie gebannt auf den Bildschirm, die Debatten im Parlament wurden ungeschnitten den ganzen Tag lang ausgestrahlt. Die Politik wurde schwanger wie die Königin im französischen Liebesroman, und alle warteten ungeduldig auf das Kind: ein Jahr, zwei Jahre, dann nicht mehr. Es kam nichts. Die Debatten im Parlament brachten nur Enttäuschung, und der politische Witz tauchte auch nicht wieder auf. Es gab wenig zu lachen im Parlament. Dafür lieferten die ersten russischen Kapitalisten eine neue Steilvorlage für alle Witzbolde im Land. Die Neureichen, auch Neue Russen genannt, waren wie uniformiert mit ihren himbeerfarbenen Anzügen, dicken Goldketten bis zum Nabel und Geländewagen mit einer Kalaschnikow auf dem Beifahrersitz: Sie waren lustig.

Ein Arbeitsloser kommt zu einem Neureichen.

»Ich habe gehört, Sie suchen einen neuen Buchhalter.« »Ja«, sagt der Neureiche, »und den alten suche ich auch.«

Eine Zeit lang musste der Neureiche ganz allein für den Neuhumor des Neukapitalismus herhalten. In diesen Witzen grüßte er die Menschen mit dem Fuß, statt mit der Hand, damit alle seine goldenen Schuhe sahen. Er bestellte im Juwelierladen ein Kruzifix, um es als großes Kreuz an seine Halskette zu hängen, wobei er den Verkäufer bat, den »Schwimmer«, also Jesus, abzulöten. Er kaufte sich ein Hotel in Nizza mit allen Gebäuden im Umkreis von fünf Kilometern und ließ den Strand weiträumig absperren. Dann stand der Neureiche allein mit einem bescheidenen Badetuch am Strand, beobachtete, wie die Sonne im Wasser unterging, und seufzte: »Wie wenig braucht der Mensch doch, um glücklich zu sein.«

Alle konnten diese Witze verstehen und über sie lachen. Außer Putin. Er fand die Neureichen nicht lustig und sprach sich für eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Privatkapital und dem Staat aus. Übersetzt aus der Sprache der Politik in die Menschensprache hieß das ungefähr: »Ich zähle bis drei. Wer bis dahin keinen sicheren Baum gefunden hat, ist selber schuld.« Und der sicherste Baum des Landes war Putin selbst, ein Mann, der keine Witze verstand.

Der russische Witz verabschiedete sich endgültig aus der Politik und dem Business, er ging ins Private: Ein wenig Sex, ein bisschen Fußball, und ganz viel Fremdenfeindlichkeit. Früher waren die Tschuktschen und die Judenwitze absolute Renner. Der Tschuktsche wurde als der dumme Wilde dargestellt und der Jude als der Gerissene.

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Beispiel eins:

Ein jüdischer Soldat ist verletzt, kann seine Leiden nicht mehr ertragen und bittet seinen Freund, ihn zu erschießen.

»Ich kann nicht, ich habe keine Munition mehr«, sagt der. »Ach, ich kann dir welche verkaufen«, meint der Verletzte. Beispiel zwei:

Ein Tschuktsche geht zur Polizei, um seine Frau als vermisst zu melden.

»Wie sieht sie denn aus?«, fragt ihn der Polizist. »Weiß nicht«, sagt der Tschuktsche.

»Du musst sie aber beschreiben, damit wir sie suchen können«, erklärt ihm der Polizist. »Meine Frau zum Beispiel ist groß, schlank und blond.«

»Na dann, lass uns lieber deine Frau suchen«, sagt der Tschuktsche. Die Tschuktschen waren lange Zeit davon überzeugt, dass Juden sich die Tschuktschenwitze ausgedacht hatten, damit man nicht nur über sie lachte. Aus demselben Grund vermuteten die Juden, dass die

Tschuktschen für die Judenwitze verantwortlich waren.

Nach Auflösung der Sowjetunion haben sich die Dummen multipliziert. Alle Völker wurden im Kapitalismus zu Tschuktschen. Die Russen erzählen zum Beispiel gerne Witze über die geizigen Ukrainer, die verstockten Esten und die wilden Georgier. Die Ukrainer lachen ihrerseits gerne über die zurückgebliebenen Moldawier, die gierigen Russen und geschäftstüchtigen Armenier. Die Esten kennen viele Witze über die unzivilisierten Russen, und alle postsowjetischen Völker sind nach wie vor gut auf Juden und Tschuktschen zu sprechen. Es sind oft die gleichen alten Witze, nur die Nationalitäten wurden ausgetauscht. Den Witz über den verletzten jüdischen Soldaten habe ich zum Beispiel auch über einen Ukrainer, einen Russen und einen Armenier gehört. Aus der allgemeinen Hilflosigkeit und Unsicherheit gegenüber den neuen Verhältnissen entsteht so ein neuer Internationalismus, der alle Ethnien und Bevölkerungsgruppen in ihrer Dämlichkeit gegenüber dem Kapitalismus vereint.

In der russischen Politik, wie in der deutschen auch, sind die einzigen Spaßvögel die Liberalen. Der russische Chef der liberalen Partei, Schirinowski, versucht auf russische Art lustig zu sein: Mal haut er einem Parlamentarier während der Sitzung eins in die Fresse, mal wendet er sich an den amerikanischen Präsidenten Bush mit den Worten: »Vergiss den Irak, du Arschgeige, lass uns lieber gemeinsam Georgien plattmachen.«

Aber auch er schaffte es nicht, den russischen Präsidenten zum Lachen zu bringen. Er lacht nicht in der Öffentlichkeit. Höchstens hinter verschlossenen Türen, wenn jemand einen dieser modernen tschetschenischen Terrorwitze erzählt:

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Ein Soldat der Einheit zur Terrorbekämpfung schickt seiner Oma nach Sibirien einen Sprenggürtel als Souvenir.

»Liebe Oma«, schreibt er, »du wolltest doch schon immer eine warme Weste haben, jetzt habe ich eine für dich. Sie ist große Mode in Moskau und birgt eine Überraschung. Da ist so ein kleiner Ring hintendran, wenn du daran ziehst, bekomme ich drei Tage Urlaub.«

Da lacht der Präsident!

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Das russische Rebellen-Gen

Jede Nation hat eine Geschichte, die am besten mit einer anständigen Schlacht beginnt, möglichst mit einer gewonnenen. Wenn nicht, wird sie im Gründungsmythos zu einer gewonnenen umgedeutet. Bei den Amerikanern war es der Unabhängigkeitskrieg gegen England, der mit der berühmten Boston Tea Party begann. Die Deutschen leiten ihre Geschichte gerne aus der Hermannsschlacht im Teutoburger Wald ab, die neuerdings aus Gründen der politischen Korrektheit in »Varusschlacht am Kalkrieser Berg« umbenannt wurde. Laut Legende haben dort vor knapp 2000 Jahren wilde Germanen, mit handgeschnitzten Keulen bewaffnet, mehrere römische Legionen komplett im niedersächsischen Sumpf versenkt.

Sicher hat diese Schlacht aus heutiger Sicht den Deutschen mehr geschadet als genutzt. Hätten diese Barbaren damals die Römer nicht geschlagen, wäre in Deutschland einiges anders gelaufen. Wir hätten zum Beispiel leckeres Risotto statt Klopse, guten Wein statt Bier und leidenschaftliche Liebesromanzen statt Blaskapellen als Volksmusik. Alle Nachrichtensprecher wären Blondinen mit großem Busen und die jungen Männer trügen dunkle Locken statt Glatzen. Aber die

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