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Добавлен: 18.11.2024
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tagelang an einer Bushaltestelle verbrachte, um die Menschen in den überfüllten Busen zur schnelleren Weiterfahrt zu motivieren. Sonst aber ist Moskau eine kosmopolitische Stadt. Nur mit der Heimatliebe sieht es nicht gut aus. Die Regierung war ganz schön erstaunt, als über siebzig Prozent der Bevölkerung auf die Frage »Was würden Sie tun, wenn die Hauptstadt Russlands nach Nowgorod verlegt würde?«, antworteten: »Auch nach Nowgorod ziehen.«
Egal ob gehasst oder geliebt: Moskau ist für alle ein Erlebnis - auch ohne Servicebewusstsein. Und die Korrespondenten und Journalisten aus aller Welt, die in Moskau arbeiten, sollten sich auf die seltsamen Sitten schon im Vorfeld einstellen. Das ist gar nicht schwierig, denn die Moskauer machen aus ihren Macken kein Geheimnis. Sogar in dem weltberühmten Lied von 1957 »Moskauer Nächte« wird ausführlich beschrieben, worauf man gefasst sein muss. Leider habe ich im Internet keine deutsche Textfassung gefunden, aber auch in der computerübersetzten Version werden die Sitten meiner Heimatstadt sichtbar:
Nicht ein Flüstern ist im Garten zu hören, Unten, bis Dämmerung alles eingefroren, Wenn Sie nur wüssten, wie die sind, Diese Nächte von Moskau!
Klartext: Normalerweise verbringt man in Moskau die Nacht zu Hause, weil es draußen dunkel und nicht ungefährlich ist. Wenn einer trotzdem Lust hat, in einem großen Garten - zum Beispiel im Gorki-Park - nachts spazieren zu gehen, wird er dort wenig zu sehen und zu hören bekommen. Sollte er aber in den Büschen doch irgendetwas hören, dann wäre es angebracht, ganz schnell aus dem Garten zu verschwinden. Weiter heißt es im Lied:
Der Fluss bewegt sich und (manchmal) nicht, Alles voll von Mondsilber.
Ein Lied klingt und soll nicht gehört werden In jenen Nächten von Moskau.
Klartext: Sollten Sie doch in eine Auseinandersetzung mit Unbekannten geraten, rufen Sie nicht um Hilfe. Es kann dadurch nur noch schlimmer werden.
Warum blicken Sie, Liebling, auf mich von der Seite, Ihren Kopf verbiegen Sie so niedrig?
Zu sagen ist nicht einfach
Alle Sachen, die in meinem Herzen sind.
Klartext: In einer solchen Situation ist eines wichtig: Keine blöden Bemerkungen über das Äußere und das Verhalten Ihres Gegenübers machen. Das könnte nervenschwache Menschen nur zusätzlich
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beunruhigen.
Und Dämmerung wird immer sichtbarer. So seien Sie bitte so freundlich:
Sie auch vergessen nicht Diese Nächte von Moskau.
Klartext: Außergewöhnliche Erlebnisse bleiben tief in unserem Unterbewusstsein verankert. Wenn sich zwei Menschen treffen, die zum Beispiel im Knast saßen oder in der Armee gedient haben, so werden sie sich immer viel zu erzählen haben, auch wenn diese Ereignisse schon Jahrzehnte zurückliegen. So ist es auch mit Moskau. Einer, der diese Stadt richtig kennengelernt hat, wird sie nie mehr vergessen.
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Der Sinn des Eisfisches
Nach den Gesetzen der Dramaturgie treffen sich die Protagonisten in einem Theaterstück immer zwei-, manchmal sogar dreimal. Nicht anders ist es im Leben. Alle fünfundzwanzig Jahre treffe ich auf die Schatten meiner Vergangenheit, immer unerwartet und an Orten, zu denen man sonst nie gehen würde.
Mein Nachbar Andrej wollte zur Eröffnung eines neuen großen russischen Lebensmittelladens nach Friedrichhain, und ich kam mit, um ihm Gesellschaft zu leisten. Alles war wie immer: Berge von Sprottenbüchsen, das russische Konfekt Bärchen im Norden, Salztomaten in Dreiliteraquarien. Und plötzlich blickten wir in diese großen hellen Augen direkt vor uns. Ein Schock. Wir hatten ihn ein Vierteljahrhundert nicht gesehen, trotzdem erkannten wir ihn sofort, seinen großen, hässlichen Kopf mit dem riesigen Maul und den vielen krummen scharfen Zähnen darin. Kein Zweifel, es war der Eisfisch. Er lag stapelweise im Eis hinter der Vitrine, und Andrej kaufte sofort drei Kilo.
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Der Eisfisch, der in der korrekten deutschen Übersetzung Krokodileisfisch heißt, wahrscheinlich wegen seines schrecklichen Aussehens, ist ein sowjetisches Mysterium. Eigentlich durfte es ihn bei uns gar nicht geben, doch jahrzehntelang zählte dieses Fischkrokodil zu unseren Grundnahrungsmitteln. Es war das mit am häufigsten anzutreffende sozialistische Fischprodukt. Man aß ihn und fütterte mit ihm die Katzen. Meine Mutter backte ihn zum Beispiel in einer Senfkruste im Ofen, das Gericht hieß »Eisfisch im Warmmantel« und wurde mit Backkartoffeln serviert. Der Eisfisch ist kein gewöhnlicher Fisch, er ist fast durchsichtig, hat nur einen Knochen, riecht nicht nach Fisch, sein Blut ist weiß, da ihm das Hämoglobin fehlt, und er lebt in antarktischen Gewässern weit weg von der Sowjetunion.
Wie kam es, dass ausgerechnet diese seltene Gattung vom anderen Ende der Welt in den Fischläden des Sozialismus jahrzehntelang geführt wurde? Soweit ich weiß, hatten wir am Südpol keine sozialistischen Bruderländer, die uns aus Solidarität mit Eisfisch hätten beliefern können. Auch Geschäftspartner der Sowjetunion, die einen Warenaustausch in Gang setzen konnten, Panzer oder U-Boote gegen Eisfische zum Beispiel, würde man da unten vergeblich suchen. Die meisten Eisfische werden von australischen Fischern gefangen, aber mit Australien hatte die Sowjetunion nie etwas am Hut, und umgekehrt zeigte Australien kein Interesse am Sozialismus. Dafür haben sie jetzt ihr Ozonloch. Aber lassen wir die Australier gut sein, wir wollen nicht vom Thema abweichen. Unser einziger Freund nahe am Südpool war Salvador Allende. Er hätte uns sicher mit Eisfisch beliefern können, aber seine Präsidentschaft währte nicht lange. Schon nach drei Jahren wurde er von General Pinochet weggeputscht und ermordet. Und von General Pinochet hatte die Sowjetunion keinen Fisch zu erwarten, nicht einmal Gräten. Er hasste alle Kommunisten und hätte den Fisch lieber an die Pinguine verfüttert, als ihn an die Sowjetunion zu verkaufen.
Trotz des Putsches in Chile blieb der Eisfisch jedoch in allen Fischregalen Russlands bis zum letzten Atemzug des Sozialismus liegen. Außer die russische Bevölkerung zu ernähren, übernahm der Eisfisch eine viel wichtigere Aufgabe. Er vermittelte zwischen beiden Halbkugeln. Durch ihn fühlten wir uns selbst hinter dem Eisernen Vorhang der Ideologie nicht aus der Weltgemeinschaft ausgeschlossen. Der Sinn des Eisfisches war, uns ein Gefühl von Weltläufigkeit zu vermitteln. Jeder denkende Mensch in der Sowjetunion wusste: Eisfisch und Allende, das sind unsere offiziellen Freunde auf der Südseite des Planeten. Über den einen hat man in Russland Filme gedreht und Theaterstücke geschrieben und den anderen gebraten.
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Im Westen kennen die Leute den Eisfisch kaum, weil er keine marktgerecht Form hat und deswegen sehr selten angeboten wird. Im Kapitalismus werden am liebsten Fische gegessen, die gut auf einen Teller passen wie die Dorade oder ähnliche Fische, die selbst wie ein Teller aussehen. Schollen beispielsweise. Das sind typisch kapitalistisch angepasste Tellerfische. Sie lassen sich leicht servieren, sehen niedlich aus, und kassiert wird pro Fisch und nicht nach Gewicht, was deutliche finanzielle Vorteile mit sich bringt. Diese Fische sind quasi von Natur aus vorportioniert. Im Sozialismus gab es kein vorportioniertes Essen. Unsere Fische passten auf keinen Teller. Sie waren entweder zu groß und mussten klein gehackt werden, oder sie waren zu klein, sodass man sie sie im Dutzend servierte.
Die Perfektion des westlichen überproportionierten Mikrowellenessens machte übrigens meinen Landsleuten noch lange zu schaffen, nachdem das neue kapitalistische Sortiment unsere Läden gefüllt hatte. Jedes Essen bestand zu achtzig Prozent aus Verpackung und führte die neu bekehrten Konsumenten oft in die Irre. Sie kauften zum Beispiel haufenweise »Chicken Bags«, spezielle Tütchen mit der Aufschrift »Nach nur zwanzig Minuten im Ofen schneiden Sie den Beutel auf und holen Ihr Hühnchen heraus, so goldbraun und knusprig, wie Sie es noch nie gesehen haben«. Die Menschen schoben die Beutel für zwanzig Minuten in den Ofen, holten sie heraus, machten sie auf - kein Hühnchen. Sie beschwerten sich bei den Verkäufern und hatten sicher auch irgendwie Recht, denn nirgends in der Gebrauchsanweisung für diese Chicken Bags stand, dass man zuerst ein Chicken hineinpacken musste, bevor man es in den Ofen schob. Aber draußen herrschten längst kapitalistische Verhältnisse, und es hatte keinen Sinn mehr, sich zu beschweren.
In der Sowjetunion gab es kaum Verpackungen, deswegen lösten aufwendig verpackte westliche Produkte manchmal Panik aus. Andrej erzählte mir einmal, wie er Stunden vor seiner ersten Auster saß, in Erwartung, sie würde sich irgendwie von allein öffnen. Dann suchte er nach dem geheimen Knopf oder einer Stelle, auf die man drücken musste, um die Muschel aufzukriegen.
Sein tätowierter Onkel, ein ehemaliger Knacki und Seemann, der zehn Jahre bei der sowjetischen Fischfangflotte gedient hatte, lüftete einmal das Geheimnis des Eisfisches, erzählte Andrej. Sein Onkel behauptete frech, er selbst hätte in den Siebzigern mehrmals Eisfische am Südpool gefangen. Damals waren die Fangquoten noch nicht so streng geregelt, auch sowjetische Schiffe durften um den Globus herum fischen, behauptete er.
»Jeder Fisch auf der Welt wird anders gefangen«, erzählte Andrejs Onkel. »Die Eisfische leben in der Tiefe, nur bei Vollmond kommen sie nahe an die Oberfläche, um den Mond zu bewundern. Als Weißblütler
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vergöttern sie den Mond. Wenn Wolken den Mond bedecken, leuchten die Fischer mit einem runden starken Scheinwerfer vom Boot ins Wasser. Die Eisfische denken, es wäre der Mond, schwimmen nach oben und werden mit Fangnetzen gleich zentnerweise eingesammelt.«
Russische Fische würden nie auf einen solchen Trick reinfallen, aber am Südpool sei sowieso alles anders als bei uns, meinte Andrej. Alles sei dort umgekehrt. Es sei sehr kalt, obwohl es doch Südpol heiße, das Abflusswasser im Waschbecken drehe sich in die falsche Richtung, und wenn eine Möwe mit dem Arsch nach vorne fliegt, heißt es, gleich wird es windig und stürmisch werden.
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Wie Russen Weihnachten feiern
Bei uns in der Schönhauser Allee freuen sich die Vietnamesen aus dem Textil-Souvenir-Laden immer besonders auf Weihnachten. Das ganze Jahr über verstecken sie sich in ihrem Geschäft, sind kaum zu sehen hinter Bergen von Billigpantoffeln, Parfüm und künstlichen Blumen und spielen »Schiffe versenken« oder so etwas. Auf jeden Fall haben sie immer ein Blatt Papier vor sich und einen Kugelschreiber in der Hand. Vielleicht füllen sie auch irgendwelche Anträge aus oder schreiben Briefe an die Verwandtschaft. Kaum ein Kunde störte ihre Ruhe.
Anfang Dezember bekamen sie letztes Jahr eine neue Warenlieferung: christlicher Kitsch made in China - ein leuchtender Jesus für 9,99 Euro mit Stecker. Wenn man ihn anschloss, strahlte er in allen Farben des Regenbogens. Es gab außerdem noch ein beleuchtetes Bild vom Abendmahl, auf dem alle in umgekehrter Reihenfolge am Tisch saßen, und eines von der heiligen Maria mit kleinen Glühbirnen in den Augen, integriertem Lautsprecher und
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Akkus. Jetzt konnte man den Textilladen schon von weitem erkennen - er leuchtete und strahlte. Die Vietnamesen hofften auf guten Umsatz. Das Feuerwerk der Weihnachtsbotschaft schien aber die guten Christen eher zu verschrecken. Sie kauften lieber in den herkömmlichen Läden Weihnachtsschmuck und Pyramiden, die trotz deutscher Wertarbeit fast alle klemmten und bei dem ersten Reparaturversuch auseinanderfielen.
Während sich in Deutschland die Weihnachtsfeiern zu einem pragmatischen Rabattfest entwickeln, wobei die Bevölkerung am Jahresende alle Regale in den Geschäften leerräumen muss, feiern die Russen noch immer irrational: Die Männer betrinken sich gründlich, und die Frauen üben sich im Wahrsagen. Jedes Jahr werden neue Chiromantie-Rezepte in der Öffentlichkeit diskutiert, wobei die Fragen immer die gleichen bleiben: Was erwartet dich im neuen Jahr? Kommt dein dir vom Schicksal Vorbestimmter? Wird er gut aussehen?
»Geh am Heiligen Abend aufs Dach. Schreib auf einen Zettel deine geheimen Wünsche und zünde ihn mit einer Kerze an. Brennt der Zettel ab, wird dein Wunsch erfüllt. Geht die Flamme aus, muss du noch ein Jahr auf Erfüllung warten.«
Das hört sich zwar wie blanker Unsinn an, ist aber eine Volksweisheit, die auf tausend Jahre alte Erfahrungen zurückgeht. Die Sitte, am Heiligen Abend wahrzusagen, ist älter als das Christentum. Bevor die Russen christianisiert wurden, feierten sie wie die meisten anderen Völker der nördlichen Halbkugel im Dezember das Sonnenwendfest. Denn auch die Russen hatten frühzeitig bemerkt, dass die Sonne sich im Winter immer seltener blicken lässt, und oft für lange Zeit sogar ganz verschwindet. Die Menschen hatten Angst, sie würde nicht mehr zurückkommen. Deswegen übten sie sich im Wahrsagen. Dann aber kehrte die Sonne doch zurück, und sie übten sich im Feiern. Sie tanzten und sangen, gingen mit Holzpfählen von Haus zu Haus, klopften an alle Türen und verkündeten die frohe Botschaft: »Die Sonne ist zurück!« Jeder musste ihnen dafür Geld, Brot und Schnaps geben. Sich dumm stellen - »Ach wirklich?«, oder »Danke, ich wurde schon unterrichtet« - ging nicht. Die Sitten waren hart. Also war es für die Männer die beste Lösung als Erster mit einem Holzpfahl auf die Straße zu gehen.
Die Christianisierung Russlands hat nicht viel an diesen Gebräuchen geändert. In ländlichen Gegenden ziehen die Bewohner auch heute noch von Haus zu Haus, klopfen an alle Türen, rufen: »Kommt raus, Jesus wurde geboren!« Die Nachbarn kommen ihnen entgegen, um auf des Heilands Wohl zu trinken, dann ziehen die Männer zusammen weiter. Die Mädchen bleiben beim Wahrsagen.
»Stell ein Wasserglas, einen Spiegel und eine Kerze auf den Tisch. Schau durch das Wasser auf die Kerze in den Spiegel. Nach einer
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Stunde wirst du einen Ring erblicken. Ist es ein Ring aus Kupfer, kommst du in eine arme Familie. Ein Silberring bedeutet: ein guter Kerl. Ein Ring mit Stein: Du wirst einen wohlhabenden Mann treffen. Siehst du aber einen Goldring, heiratest du einen Manager.«
1918 stieg Russland zusammen mit dem Rest der Welt auf einen neuen fortschrittlichen Kalender um, weil die Wissenschaftler herausgefunden hatten, dass ein Jahr länger als 365 Tage dauert. Die russische orthodoxe Kirche weigerte sich jedoch, diesen neuen Kalender anzuerkennen. Seitdem gibt es in Russland alle religiösen Feiertage doppelt. Den Russen ist es nur recht. Am 31. Dezember wird das Neujahrfest nach dem neuen Kalender gefeiert, am 6. Januar Weihnachten nach dem alten Kalender und am 13. Januar das Neujahrsfest auch nach dem alten Kalender. Früher, im Sozialismus, wurden die Leute in den kurzen Pausen zwischen den Feiertagen gezwungen, zur Arbeit zu gehen. Vor einiger Zeit hat das russische Parlament endlich mit dieser unmenschlichen Praxis Schluss gemacht. Es wurde ein neues Gesetz bezüglich der sogenannten »Weihnachtsferien« verabschiedet. Danach werden alle Bürger für die zwei ersten Januarwochen von der Arbeit freigestellt. Vielleicht gestalten sich die Vorbereitungen auf die Winterfeste deswegen seither besonders üppig. Moskauer Zeitungen berichten, dass sich ganze Armeen von Weihnachtsmännern zum Angriff auf die Stadt vorbereiten und fast in jedem Bezirk Schlittenrennen angekündigt sind.
Wir feiern in Berlin gemischt, russisch-deutsch, zusammen mit unseren Nachbarn, einer kaputten Pyramide vom letzten Jahr und dem vietnamesischen Leucht-Jesus. Dabei verfallen wir alle kurz vor Weihnachten in einen Wahrsageund Aberglaubenwahn ungeahnten Ausmaßes.
Denn Wahrsagen beruhigt. In einer russischen Zeitung habe ich einmal eine unkonventionelle Wahrsagemethode entdeckt, die wir bei Gelegenheit unbedingt ausprobieren müssen. Sie heißt »Frag die Katze« und ist nicht besonders aufwendig:
»Am Heiligen Abend rufen Sie Ihre Katze. Wenn sie die Schwelle des Zimmers mit der linken Pfote betritt, werden all Ihre Wünsche in Erfüllung gehen, wenn sie aber mit der rechten zuerst eintritt, dann...«
Wir bereiten das jetzt schon vor und dressieren die Katze. Wenn sie es am 24. Dezember nicht schafft, dann kann sie es am 6. Januar noch einmal versuchen. Im Moment sitzt sie gerade auf der Schwelle zwischen den Zimmern. Ihre Pfoten sind nicht zu sehen, sie sitzt nur da wie eine Fellkugel und schnurrt leise vor sich hin.
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Karl Marx und seine Leser
Mein Freund Sergej hat eine neue Lieblingsbeschäftigung für sich entdeckt. Er kauft alte Bücher bei eBay, signiert sie und lässt sie wieder versteigern. Auf meine Frage, was es Neues gäbe, zeigte er mir stolz drei neu erworbene Bände auf seinem Tisch: Das Kapital von Karl Marx, die Ausgabe von 1881. Auf dem ersten Blatt der Trilogie stand in Handschrift: »Viel Spaß beim Lesen, mein Mäuschen. Dein Marx.«
»Ein einmaliger Fang!«, meinte Sergej. »Die einzige signierte Marx-Ausgabe!«
Karl Marx persönlich hat nach Sergejs Überzeugung diese Erstausgabe seiner lieben Frau geschenkt, nachdem sie ihn gefragt hatte, was er denn da die ganze Zeit in der Bibliothek getrieben habe. Ich musste sehr darüber lachen, vor allem wegen der kindlichen Handschrift
»Das wird dir kein Mensch abkaufen, man sieht doch, dass du es selbst gerade eben...«
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»Stimmt nicht!«, entgegnete mein Freund. »Die anderen Bücher - ja, vielleicht, manchmal, aber dieses eine Mal ist alles echt. Außerdem will ich das Buch gar nicht verkaufen. Ich wollte schon immer wissen, was sich hinter diesem Titel verbirgt. Früher in der Sowjetunion hatten wir keine Zeit, uns mit Marx zu beschäftigen. Du erinnerst dich doch an die 24-bändige Ausgabe?«, fragte er.
»Nein, gar nicht«, schüttelte ich den Kopf. Ich erinnerte mich nur an die erste sowjetische Fernsehserie, die pünktlich zum hundertsten Todestag des Führers des Weltproletariats ausgestrahlt wurde. Sie heißt Karl Marx: Die Jugendjahre, Reife. Seine jungen Jahre wirkten unpolitisch, eine Art »Gute Zeiten - Schlechte Zeiten« nur mit Marx in der Hauptrolle. Die Reife war langweilig. Die 24-bändige sowjetische Ausgabe von Marx ist an mir gänzlich vorbeigegangen. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich damals noch nicht geraucht habe. Denn politische Literatur hat der sowjetische Staat immer sehr günstig an die Bevölkerung abgegeben, oft sogar pflichtverschenkt. Die Bücher waren immer auf gutem dünnem Papier gedruckt, das Zigarettenpapier sehr ähnlich war. Daher vermute ich, dass Marx in Russland mehr inhaliert als gelesen wurde.
In den Ländern des Ostblocks fanden seine Bücher unterschiedliche, oft sehr unkonventionelle Verwendung. In Bulgarien, das weiß ich aus zuverlässigen Quellen, musste der Staatsverlag Das Kapital jedes Jahr in ständig wachsender Auflage nachdrucken. Anfangs freuten sich die Parteifunktionäre über diese rasche Verbreitung des Marxismus unter den bulgarischen Massen. Nach einigen Jahren wurde der Staat jedoch misstrauisch und stellte eine Untersuchung an. Die steigende Nachfrage des Werks klärte sich bald auf. Das Kapital wurde in Bulgarien in einem wertvollen Lederumschlag herausgegeben. Die begeisterten Leser enthäuteten die Bände und nähten aus dem Umschlag Handschuhe und Frauentaschen.
Solche Pannen waren in Bulgarien keine Seltenheit. Zur gleichen Zeit, als die meisten Bulgaren in Lederhandschuhen herumliefen, bestellte eine japanische Firma eine große Ladung bulgarischer Radioempfänger, die mit veralteter Technologie produziert wurden und mit japanischen Geräten nicht zu vergleichen waren. »Von Marx lernen, heißt den Kapitalisten misstrauen«, dachten sich die bulgarischen Genossen und schickten erst einmal eine kleinere Ladung. Ihre schlimmsten Befürchtungen wurden bestätigt: Die pfiffigen Japaner hatten es auf die Holzummantelung abgesehen. Die bulgarische Elektronik im Inneren schmissen sie skrupellos weg, und aus den Kästen bauten sie wertvolle Truhen und Nachttischchen.
Die Ungarn waren da schon klüger. Sie produzierten Das Kapital gleich als Hörbuch auf sechs Kassetten. Auf diesen las ein
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Schauspieler mit erotischer Stimme den gesamten Text vor. Man munkelte, er hätte dafür die höchste Auszeichnung, »Held der Arbeit«, bekommen und sei später verrückt geworden. Besonders populär waren diese Kassetten bei den sowjetischen Touristen, weil sie so billig waren. Sie überspielten Das Kapital mit Musik aus dem kapitalistischen Lager.
Ein wahrlich tragisches Schicksal hatte das Werk von Karl Marx in der Mongolei. Im Auftrag der mongolischen Regierung übersetzte ein Wissenschaftler das Buch nicht weniger als zwanzig Jahre lang in seine Heimatsprache. Es war eine höllisch komplizierte Arbeit, weil die meisten Begriffe aus Marx’ Vokabular in der mongolischen Sprache gar nicht existierten. Nicht einmal solch relativ einfache Worte wie »Arbeiter« oder »Bauer« waren vorhanden. Also musste der Wissenschaftler eine neue marxistisch orientierte mongolische Sprache erfinden, die jedem einfachen Viehzüchter den Einstieg in die Politökonomie ermöglichte. Aus dem »Bauer« wurde der »Erdmelker«, aus dem Arbeiter der »Maschinenhirt«. Der Wissenschaftler erhoffte sich durch diese aufwendige Arbeit große Ehren, mindestens aber ein Denkmal zu Lebzeiten und eine großzügige Frührente. Doch als er mit dem Werk fertig war, kippte der Sozialismus, und die Nachfrage für marxistische Literatur ging in den Keller. Der Übersetzer sah sein Lebenswerk zerstört, ihn plagten große finanzielle Probleme und eine tiefe Depression. Als vielleicht einziger Mongole, der den ganzen Marx auf mongolisch verdaut hatte, wusste er zu gut über die kommende Zeit Bescheid. Der Wissenschaftler dachte über Selbstmord nach. Die Geschichte nahm aber ein gutes Ende: Der mäzenatische Kapitalist George Soros sprang für die mongolische Kapital-Übersetzung ein und veröffentlichte sie in einer volksnahen Ausgabe - auf sehr dünnem Papier und in einem feinen Ledereinband.
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