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Добавлен: 18.11.2024
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Ein Toast auf Joyce
»Komm, lass es uns noch ein letztes Mal probieren! Ich habe eine ganz tolle Idee, diesmal wird es klappen.«
Mein Nachbar Andrej, sonst eigentlich ein ruhiger und zurückhaltender Mensch, liebt es, sich selbst hohe Ziele zu setzen und andere in seine hoffnungslosen Projekte mit hineinzuziehen. Aber nur, wenn sie ihm widersprechen - dann plötzlich wird er hyperaktiv bis zur Unerträglichkeit. Sein neuestes Projekt hieß, den Ulysses von James Joyce durchzulesen. Unser gemeinsamer letzter Versuch lag genau ein Jahr zurück - ein kleines Jubiläum. Damals scheiterten wir ruhmlos bereits am ersten Drittel des Buches, obwohl Andrej tolle Ideen zur Bezwingung des Textes hatte.
»Das Problem liegt darin«, sinnierte er, »dass man über den Anfang nicht hinauskommt.«
Sein ganz persönliches Einknicken lag auf Seite 71, meines in der Nähe. Also schlug er vor, das Buch von beiden Enden gleichzeitig zu
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lesen, vom Anfang und vom Ende.
»Das erlaubt dem Leser, mit Spannung zu verfolgen, wie zwei langweilige Geschichten sich genau in der Mitte des Buches treffen«, meinte er.
Um seine These zu beweisen, stellte Andrej komplizierte logische Paradoxa auf: »Langeweile erzeugt Spannung« behauptete er beispielsweise oder: »Zwei Parallelen kreuzen sich im Unendlichen.« Das hörte sich klug an, hat uns aber im Endeffekt nichts genutzt. Auf mich übte dieser Text eine hypnotische Wirkung aus. Er rief Assoziationen hervor, die nichts mit dem Buch zu tun hatten. Meine Gedanken schweiften ab. »Ein interessanter Mensch«, dachte ich über den Autor. Auf dem Photo im Buch, erinnerte mich Joyce mit seinen runden Brillengläsern und dem hinterhältigen Lächeln an einen verrückten Professor aus meiner Studienzeit, Arkadij Schnur, der für das Fach Allgemeine Physik zuständig war und unverständliche Vorlesungen hielt, die aber sehr beliebt waren.
Professor Schnur verachtete die Allgemeine Physik, er war deutlich von diesem Fach unterfordert. Uns war bald klar, dass Professor Schnur ein Genie war, Träger einer höheren Wahrheit, die sich uns niemals erschließen würde. Genau das faszinierte uns an seinen Vorlesungen. Vor Beginn saß er neben der Tafel und lächelte jeden, der hereinkam, hämisch an. Dazu machte er als etwas seltsame Begrüßungsgeste eine herablassende Handbewegung, mit der er uns sagen wollte: »Ach, du auch? Vergiss es, keine Chance!« Schnur trug einen schwarzen Anzug, der deutlich älter war als die Große Oktoberrevolution, seine Brille war mit Klebeband zusammengehalten, und seine Frisur ließ vermuten, dass er am Abend mit dem Kopf am Ventilator eingeschlafen war. Dazu kamen eine ständig offene Hose und ein Jackett mit großen Löchern unter den Achseln, wobei die eine Seite mit weißen Fäden zugenäht war.
Schnur fing stets ruhig an. Er sagte: »Guten Tag« und »heute also«, doch schon nach einer Minute sprang er mit der Kreide in der Hand im Hörsaal hin und her und schleuderte Sätze durch die Luft, die uns in eine Art Trancezustand versetzten. Die mit der einen Hand an die Tafel geschriebenen Formeln wischte er mit der anderen sofort wieder ab, sodass niemand von uns eine Chance hatte, sich diese Signale aus der fremden Welt der Physik zu notieren. Mit der Abwischhand kratzte er sich auch die Nase, fuhr sich in die Haare und durchs Gesicht und verwandelte sich dabei in einen weißen Clown, der ständig von einer Kreidewolke umhüllt war. Außerdem hatte Schnur die Angewohnheit, während der Vorlesung an seiner Hose zu ziehen. Mal zog er sie hoch bis unter die Arme, mal kuckte sein halber Hintern hervor, wenn er sich umdrehte. »Zeit ist Jetzt!«, rief er dabei und »Raum ist Masse!« Wie hypnotisiert starrten wir auf den
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Professor: eine Ansammlung von Analphabeten, die sich anstrengten, einen Zipfel der Weisheit zu erhaschen. Manchmal lachte er laut, woraus wir messerscharf schlossen, dass er gerade einen Witz gemacht hatte.
»Wie ihr seht, ist es im Grunde sehr einfach«, sagte er immer zum Schluss wie zum Hohn.
Nach anderthalb Stunden war die Show vorbei. Der weiße Clown verließ blitzartig den Saal, wir blieben wie versteinert sitzen. Die Streber aus der ersten Reihe schauten einander verwirrt an: Was hat er bloß erzählt?
»Das Was spielt keine Rolle«, reagierte die hintere Bank, »aber wie er es gemacht hat! Das war einfach geil!«
Seitdem sind zwanzig Jahre vergangen. Ich habe noch immer keinen blassen Schimmer von Allgemeiner Physik, aber großen Respekt vor ihr. Ich weiß, dass sie kein Hirngespinst ist. Nein, sie existiert wirklich, diese wunderbare in sich abgeschlossene Welt, zu der es für mich keinen Zugang gibt.
So ähnlich geht es mir auch mit dem Roman von Joyce: Die Welt von Bloom existiert tatsächlich und ist alles andere als langweilig, sie zeigt sich nur nicht jedem. Die neue Idee meines Nachbarn zur Erstbesteigung des Ulysses hieß diesmal: »Kollektives lautes Lesen«.
»Ich habe noch zwei Freiwillige gefunden, die bereit wären mitzumachen«, erzählte er. »Und ich habe alles schon durchgerechnet: zehn Sitzungen zu je zwei Stunden, mit Cognac und Zigarren zur Entspannung. Wenn einer merkt, dass die Aufmerksamkeit nachlässt, muss ein anderer übernehmen«, erklärte Andrej mir.
Ich verzichtete. Es war mir zu künstlich. Das Buch hat jedoch einen Ehrenplatz in meinem Bücherregal, immer in Sichtweite. Ich möchte mir die Ulysses-Option offenhalten. Nicht auszuschließen, dass ich es irgendwann einmal ganz plötzlich, quasi über Nacht, schaffe und alles Joyce’sche auf einmal begreife. Denn Zeit ist Jetzt, Raum ist Masse, und darauf trinken wir einen.
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Das Parfüm
Meine Familie ist gut parfümiert. Fast alle neuen Kosmetikprodukte, die auf den Markt kommen, landen über kurz oder lang in unserem Badezimmer. Das hat seinen Grund. Die beste Freundin meiner Frau arbeitet in einem Parfümgeschäft, in einer Douglas-Filiale gleich um die Ecke. Sie heißt wie meine Frau - Olga - und beschenkt uns kiloweise mit Proben von neuen Waren, liebevoll »Pröbchen« genannt. In ihrer Heimat, der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku, hatte Kosmetik-Olga eine Ausbildung als Ballerina gemacht, später einen Deutschen geheiratet und war dann nach Berlin übergesiedelt. Hier hatte sie Schwierigkeiten, sich beim Arbeitsamt als Ballerina anzumelden. Die meisten deutschen Arbeitslosen hatten bodenständigere Berufe.
In der Sowjetunion wurden die Bürger nicht nach Bedarf ausgebildet, sondern nach ideologischen Maßgaben. Auf diese Weise entstanden zahlreiche völlig überflüssige Berufsgruppen, nur um dem Rest der Welt unsere geistige Überlegenheit zu demonstrieren: Kosmonauten, Akrobaten, Politökonomen, Ballerinas. Meine Mutter
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studierte Festigkeitslehre, meine Frau Quantenchemie. Alles Berufe, die auf dem freien Markt sehr schlecht vermittelbar sind. Meine Frau hat dann in Berlin in einer Kneipe eine neue Karriere als Tresenkraft angefangen. Kosmetik-Olga bekam als Ballerina eine halbe befristete Stelle, als Schwangerschaftsvertretung bei Douglas angeboten. Dabei entdeckte sie zwar ihre Berufung, musste aber nach sechs Monaten wieder gehen. Nach einem Jahr riefen die Douglas-Kollegen sie jedoch an und fragten, ob sie nicht Lust auf eine volle Stelle hätte? Die Filiale wurde vergrößert, neue Mitarbeiter wurden gesucht. Seitdem ist unsere Kosmetik-Olga völlig in der Welt der Düfte versunken. Die Douglas-Filiale ist ihr wahres Zuhause. Ich glaube, meine Frau hätte dort auch gerne eine Stelle, denn eigentlich machen die Mitarbeiterinnen von Parfümgeschäften nichts anderes als das, was die meisten Frauen in ihrer Freizeit ohnehin tun: Sie tauschen sich über Parfüm, Frisuren und Klamotten aus. Nur dass sich das in einem Parfümgeschäft »kompetente Beratung« nennt. Meine Frau könnte dort mit ihren Kenntnissen in Quantenchemie bestimmt punkten.
Die meisten Kunden, die unsere Olga in der Filiale besuchen, sind ihre Landsfrauen. Russinnen parfümieren sich unglaublich gerne. So hat sich über Jahre ein besonderer Kundenstamm aufgebaut und bestimmte Produkte werden an mir ausprobiert. Anfangs wehrte ich mich dagegen, ich hasste Parfüm und pochte auf meine inneren Werte, gab jedoch mit der Zeit meinen Widerstand auf. Die beiden Olgas wollen demnächst sogar ihren eigenen Duft herausbringen: ein »Russendisko-Parfüm«. Ich bin gespannt.
Es lässt sich gut nachvollziehen, warum diese westliche Parfümwelt die Frauen aus dem Osten so stark anzieht. Unsere Heimat roch anders. Das sowjetische Parfümsortiment war karg, es bestand aus fünf Hauptsorten. Sie hießen Rotes Moskau, Schipr, Nelke, Der Dreifache und, nicht zu vergessen, das begehrte Russischer Wald. Die Parfüms leuchteten grün, halfen gut gegen Mückenstiche und taugten auch zur Insektenabwehr. Aber riechen taten sie alle gleich, nämlich wie ein handelsüblicher Toilettenluftreiniger: eine Mischung aus Tannenbaum, Maiglöckchen und Flieder. Trotzdem hatte jede Marke ihre eigene Zielgruppe. Rotes Moskau zum Beispiel hatte einen ausgefallenen Behälter in Form eines Kremlturms, war teurer als die anderen und als Geburtstagsgeschenk für ältere Leute gut geeignet. Wenn jemand in den Ruhestand ging, bekam er eine Flasche davon von seinen Kollegen mit auf den Weg. Die Nelke benutzte man hauptsächlich gegen Mücken oder auch zum Inhalieren, denn es half bei der Heilung leichter Erkältungen.
Der Dreifache und Russischer Wald tranken die besonders Durstigen, wenn es nichts anderes Alkoholisches gab. Diese Parfüms waren die preiswertesten und die hochprozentigsten. Geschmacklich
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stellten sie allerdings sogar für erfahrene Alkoholiker eine ungeheure Zumutung dar. Es war kaum möglich, das Zeug nach dem Schlucken im Magen zu behalten. Deswegen aß man zuerst ein paar Stückchen Raffinade-Zucker, die mit Russischer Wald getränkt waren, um den Organismus langsam an die ungewöhnliche Geschmacksnote zu gewöhnen.
Schipr wurde als Aftershave interpretiert. Es war die älteste Parfümmarke und noch vor dem Krieg produziert worden. In gewisser Weise war es der Duft des Sieges. Die Offiziere, die den Krieg überlebt hatten und nach Hause zurückgekommen waren, rochen alle nach Schipr. Wahrscheinlich deswegen hatte dieses Parfüm eine Nebenwirkung: Schipr wirkte erotisch anregend auf Frauen älteren Semesters. Manche Studenten nutzten das, um Prüfungen in den Fächern zu bestehen, in denen sie sonst sicher durchgefallen wären. So hatte mein Freund und Nachbar Sergej eine für ihn wichtige Prüfung in Psychologie bestanden. Die Vorsitzende der Prüfungskommission war eine Frau wie aus Stahl, die keinen Spaß verstand. Gegenüber Studenten ohne tiefere Kenntnisse in Psychologie war sie geradezu erbarmungslos. Aber sie hatte eine Schwäche für Schipr, das machte sie an, so erzählten sich jedenfalls die Studenten. Am Tag der Prüfung übergoss sich Sergej, der keine Ahnung von Psychologie hatte, förmlich mit dem Zeug.
»Schipr?«, fragte ihn die Prüferin und schloss für eine Sekunde die Augen.
»Mein Lieblingsparfüm«, nickte Sergej bescheiden.
»Sie haben einen ausgezeichneten Geschmack, junger Mann!«, sagte die Psychologin, »Ziehen Sie eine Karte.«
Sergej bekam eine Drei plus - dank Schipr.
Im Alltag der Männer spielten Parfüms abgesehen von wenigen Ausnahmen kaum eine Rolle. Frauen konnten sich mit der kargen Auswahl natürlich nicht zufriedengeben. Die Düfte des Westens zogen sie an. Westliches Parfüm gab es bei uns zwar auch, aber nur an schwer erreichbaren Stellen: auf dem Schwarzmarkt, in den wenigen Dollarläden und im H/N, dem sogenannten »Haus für Neuvermählte«. Dort konnte jeder, der im Besitz eines Brautscheins war, einen einmaligen Einkauf tätigen - ein Fläschchen Aramis, Vanderbilt oder Climat von Lancôme sowie das sehr populäre polnische Parfüm mit dem vielversprechenden Namen Vielleicht. Man musste allerdings gleich danach heiraten. Ein solch dramatischer Zustand konnte natürlich auf Dauer nicht gutgehen. Deswegen sind viele Bräute in den Westen ausgewandert. Die Bräutigame zogen wenig später nach.
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Natürliche Bevölkerungsentwicklung
Wenn ich das Verhalten meiner russischen Nachbarn mit dem Verhalten der deutschen vergleiche, sehe ich deutliche Unterschiede. Besonders was die Lebensplanung betrifft. Russen planen ihr Leben sehr kurzfristig, Deutsche machen sich mehr Gedanken um die Zukunft, als um die Gegenwart. Das bremst sie in ihrer natürlichen Entwicklung. Langfristige Planung ist zwar unverzichtbar für einen Schachspieler, der alle Züge des Gegners vorausberechnen muss, um zu gewinnen. Im Leben geht eine solche Rechnung aber nicht auf. Jeder, der von sich behauptet, er wisse, was in zwanzig Jahren passiert, ist ein Lügner.
In Russland hat eine solche defensive Lebenshaltung kaum Anhänger. Die Menschen dort halten nicht viel von langfristiger Lebensplanung und versuchen aus dem aktuellen Geschehen herauszuholen, was geht. Für Fragen, wie es ihnen in zwanzig Jahren gehen wird, haben sie keine Zeit. Auch ist Versicherung in Russland
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ein Fremdwort geblieben. Keiner wird dort für etwas Geld ausgeben, was möglicherweise irgendwann einmal passieren könnte - oder auch nicht. Die Deutschen dagegen gehören zu den bestversicherten Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft. Zur üblichen Lebensgrundlage jedes anständigen Bürgers gehören wenigstens ein Dutzend Versicherungen: eine soziale, eine Kranken-, eine Renten-, Pflegeund Lebensversicherung sowie eine Unfallversicherung, eine Reiseversicherung, eine Rechtsschutz-, eine Kfz-, eine Hausratversicherung und eine für den Fall, dass man auf die Idee kommt, sich einmal in einem Porzellanladen wie ein Elefant aufzuführen. Das alles gilt als absolutes Minimum an Sicherheit und der Inhaber der oben aufgezählten Policen kann bei seinen Freunden durchaus als wagemutig und risikobereit durchgehen.
Ein solcher Versicherungswahn hat Geschichte. Als ich, damals ein frischgebackener Flüchtling, vor fünfzehn Jahren nach einer langen abenteuerlichen Reise in einem Berliner Ausländerheim landete, besuchten uns als Erstes nicht die Zeugen Jehovas, sondern Versicherungsvertreter. Sie erklärten uns in leicht verständlicher Fingersprache, was wir als Erstes bräuchten, um in Deutschland bleiben zu können. Dieses kindische Streben nach einer Vollkaskoabsicherung fürs Leben ist menschlich durchaus verständlich, verhindert aber die Bevölkerungsentwicklung. Denn jede Entwicklung kann in einem rundum abgesicherten Leben nur Verschlechterung bedeuten. Das Kinderkriegen ist ein Zusatzrisiko, und das Sterben macht eine Entgegennahme der Versicherungsprämie unmöglich. Deswegen sterben die Bürger in einer überversicherten Gesellschaft äußerst ungern, mit großer Verzögerung oder gar nicht. Und wenn sie doch sterben, dann verwesen sie nicht.
Dieses Phänomen haben wir den großen Supermarktketten zu verdanken. Diese fingen vor dreißig Jahren an, immer größere Verkaufsflächen zu nutzen, um mehr und preiswerter verkaufen zu können. Um sich vor dem Verfall ihrer Produkte abzusichern, setzten sie auf Lebensmittel mit einem hohen Anteil an Konservierungsstoffen. Letztere hatten keine direkte schädliche Wirkung auf den Organismus der Verbraucher, ließen sich dort aber nieder und mumifizierten die Bevölkerung in einem Jahrzehnte währenden Prozess. Das Ergebnis ist, dass Bürger, die bereits seit zehn oder mehr Jahren tot sind, noch immer so frisch aussehen wie die Tomaten im Supermarkt oder Lenin in seinem Mausoleum. Ihre Versicherungsprämie bekommen sie trotzdem nicht.
»Die Bürger wollen Klarheit und Sicherheit!«, hört man hier ständig von den Rednerbühnen. Damit unterstützen die Politiker den Pragmatismus der Bevölkerung. Die Bürger reagieren darauf, indem
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sie ihre eigene Existenz als eine Art Rechnung begreifen, die dem Staat zu stellen ist. Auf ihr ist links die erbrachte Leistung eingetragen, rechts der dafür zu erwartende Betrag mit ausgewiesener MwSt., Sonntagszuschlag und Pendlerpauschale. Wenn man lange genug hinund hergependelt ist, will man die Kasse klingeln hören. Doch die Kasse schweigt, die Zukunft bleibt ungewiss, unabhängig vom Willen der Bürger. Das macht die Gemüter unfroh.
Neulich fand ich eine Bestätigung dieser These in einem Museum in Süddeutschland. Die Ausstellung hieß Dokumente. Ich möchte ausdrücklich betonen: Ich erfinde nichts, ich war tatsächlich da. »Die Rechnung - das älteste Kulturgut der menschlichen Geschichte« stand im Prospekt. Ausgestellt waren Holzrechnungen aus dem Teutoburger Wald, die unglaublich kompliziert aussahen. Mich hat diese Ausstellung zum Lachen gebracht. Denn bei allem Respekt vor Pragmatismus - freie Sexualität und Freiheit überhaupt sind mit einer Hausratversicherung nicht zu vereinbaren. Das Leben bleibt immer ein Risiko, die Rechnung geht nie auf.
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Die Qual der Wahl
Vor einiger Zeit standen in Berlin mal wieder Wahlen an. Meine russischen Nachbarn juckte das in keiner Weise: Sie hatten keine deutsche Staatsangehörigkeit. Die Fischköpfe auf den Wahlplakaten, die regelmäßig an den Kastanienbäumen unseres Bezirks aufgehängt wurden, lächelten nicht ihnen zu. Ich war der einzige Russe im Haus, der wählen durfte - abgesehen von meiner Frau, die sich aber für Politik nicht interessiert. Und ich war verzweifelt, denn ich wusste nicht, wen ich wählen sollte und wie. Als Wähler war ich nämlich Jungfrau. Ich hatte noch nie im Leben gewählt. In der Sowjetunion waren meine Eltern jedes Jahr wählen gegangen und zwar immer um 6.30 Uhr morgens. Politisch gesehen war das sinnlos, es gab nämlich nur einen Kandidaten. Dafür aber konnte man in den Wahllokalen Sprotten, Wurst und Apfelsinen, zu lächerlichen Preisen erwerben. In der Regel waren diese begehrten Lebensmittel schon vormittags vergriffen, und nach zwölf Uhr standen die Wahllokale leer. Die Staatslenker hatten auf diese Weise alle Stimmen bis Mittag bereits
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gezählt und die Wahl wie immer gewonnen. Ich boykottierte diesen Schwachsinn, außerdem schmeckten mir die lettischen Sprotten nicht.
Später in Deutschland durfte ich lange Zeit gar nicht wählen. Fünfzehn Jahre lang besaß ich einen von der deutschen Ausländerbehörde ausgestellten »Alienpass«. Ich war staatenlos - nichts ging mich an. Seit einer Weile bin ich deutscher Staatsbürger, und verlor schließlich in der Grundschule Nummer 11, im Klassenzimmer meines Sohnes mit 38 Jahren meine Wähler-Jungfräulichkeit. Auch meine Frau, meine Mutter und meine Tante, die in Kreuzberg wohnte, haben dort zum ersten Mal gewählt. Ich war froh, als es vorbei war. Ich hatte den Wahlkampf von Anfang an als Bedrohung aufgefasst. Ein massiver Angriff der politischen Elite auf die Bevölkerung. Zuerst bekam der Osten einen Tritt in den Hintern, zusammen mit der Erkenntnis, dass er möglicherweise an den falschen Stellen saniert wurde. Der Norden haute auf den Süden ein und umgekehrt.
Nun gut, die Menschen mögen sich tatsächlich in ihrer Mentalität unterscheiden. Ein Bekannter, der lange Zeit als Reiseleiter für deutsche Touristengruppen in Ägypten gearbeitet hat, erzählte, wie unterschiedlich sich die Deutschen im Ausland benehmen: Jedes Mal wenn er mit Bayern oder Schwaben unterwegs war, machten sie schon am zweiten Tag jede Menge Verbesserungsvorschläge für Kairo. Sie entwickelten sofort Pläne, wie man dort zusätzliche Pyramiden errichten und alles sauber machen sowie des Verkehrschaos Herr werden könnte. Ein Jahr an Bayern angeschlossen und Ägypten wäre wahrscheinlich nicht wiederzuerkennen. Die Norddeutschen hatten dagegen schon nach zwei Tagen keine Lust mehr auf Reformgequatsche. Sie verließen das Hotel nur noch, wenn dringender Bedarf bestand und nahmen ansonsten Ägypten mit all seinen landestypischen Macken so wie es war. Die Ostdeutschen haben es heute schwer, nach vierzig Jahren sozialistischer Diktatur Eigeninitiative zu entwickeln. So etwas wurde früher vom Staat als strafbar eingestuft, und die Westdeutschen haben Angst vor der völligen Verarmung.
Politiker säen nur noch mehr Zwietracht zwischen den Menschen, statt sie einander näherzubringen. In ihren Reden bekämpfen sie die Arbeitslosigkeit und wettern gegen Fremdarbeiter, die den Deutschen ihre Arbeitsplätze rauben. Dabei müssen sie selbst keine Angst vor Fremdarbeitern haben, sie halten sich für unersetzbar. So bleibt die Politik in Deutschland nach wie vor der einzige Bereich, der gegen die Globalisierung immun ist. Wie schön wäre es, wenn man den Regierungsauftrag für Deutschland in der internationalen Fachpresse ausschreiben könnte:
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