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Добавлен: 22.12.2020

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DER AMOKLÄUFER

Im März des Jahres 1912 ereignete sich im Hafen von Neapel beim Ausladen eines großen Überseedampfers ein merk­würdiger Unfall, über den die Zeitungen umfangreiche, aber sehr phantastisch ausgeschmückte Berichte brachten. Obwohl Passagier der „Oceania", war es mir ebensowenig wie den andern möglich, Zeuge jenes seltsamen Vorfalles zu sein, weil er sich zur Nachtzeit während des Kohlenladens und der Lö­schung der Fracht abspielte, wir aber, um dem Lärm zu ent­gehen, alle an Land gegangen waren und dort in Kaffeehäu­sern oder Theatern die Zeit verbrachten. Immerhin meine ich, daß manche Vermutungen, die ich damals nicht öffentlich äußerte, die wirkliche Aufklärung jener erregenden Szene in sich tragen, und die Ferne der Jahre erlaubt mir wohl, das Vertrauen eines Gespräches zu nutzen, das jener seltsamen Episode unmittelbar vorausging.


Als ich in der Schiffsagentur von Kalkutta einen Platz für die Rückreise nach Europa auf der „Oceania" bestellen woll­te, zuckte der Clerk bedauernd die Schultern. Er wisse noch nicht, ob es möglich sei, mir eine Kabine zu sichern, das Schiff wäre jetzt knapp vor dem Einbruch der Regenzeit immer schon von Australien her ausverkauft, er müsse erst das Telegramm von Singapore abwarten. Am nächsten Tage teilte-er mir zu meiner Freude mit, er könne mir noch einen Platz vormer­ken, freilich sei es nur eine wenig komfortable Kabine unter Deck und in der Mitte des Schiffes. Ich war schon ungeduldig heimzukehren: so zögerte ich nicht lange und ließ mir den Platz zuschreiben.

Der Clerk hatte mich richtig informiert. Das Schiff war überfüllt und die Kabine schlecht, ein kleiner, gepreßter, recht­eckiger Winkel in der Nähe der Dampfmaschine, einzig vom trüben Blick der kreisrunden Glasscheibe erhellt. Die stokkende, verdickte Luft roch nachмÖl und Moder: nicht für einen Augenblick konnte man dem elektrischen Ventilator entgehen, der wie eine toll gewordene stählerne Fledermaus einem sur­rend über der Stirne kreiste. Von unten her ratterte und stöhnte wie ein Kohlenträger, der unablässig dieselbe Treppe hinauf­keucht, die Maschine, von oben hörte man unaufhörlich das schlurfende Hin und Her der Schritte vom Promenadendeck. So flüchtete ich, kaum daß ich den Koffer in das muffige Grab aus grauen Traversen verstaut hatte, wieder zurück auf Deck, und wie Ambra trank ich, aufsteigend aus der Tiefe, den süßlichen weichen Wind, der vom Lande her über die Wellen wehte.

Aber auch das Promenadendeck war voll Enge und Unru­he: es flatterte und flirrte von Menschen, die mit der flackern­den Nervosität eingesperrter Untätigkeit unausgesetzt plau­dernd auf und nieder gingen. Das zwitschernde Geschäker der Frauen, das rastlos kreisende Wandern auf dem Engpaß des Decks, wo vor den Stühlen der Schwärm in schwatzhafter Unruhe vorbeiwogte um sich unablässig zu begegnen, tat mir irgendwie weh. Ich hatte eine neue Welt gesehen, rasch ineinanderstürzende Bilder in rasender Jagd in mich ein­getrunken. Nun wollte ich mir's übersinnen, zerteilen, ord­nen, nachbildend das heiß in den Blick Gedrängte gestalten, aber hier auf dem gedrängten Boulevard gab es nicht eine Minute Ruhe und Rast. Die Zeilen in einem Buch zerrannen vor den flüchtigen Schatten der Vorüberplaudernden. Es war unmöglich, mit sich selbst auf dieser schattenlosen wandern­den Schiffsgasse allein zu sein.

Drei Tage lang versuchte ich's, sah resigniert auf die Men­schen, auf das Meer, aber das Meer blieb immer dasselbe, blau und leer, nur im Sonnenuntergang plötzlich mit allen Far­ben jäh übergössen. Und die Menschen, sie kannte ich aus­wendig nach dreimal vierundzwanzig Stunden. Jedes Gesicht war mir vertraut bis zum Überdruß, das scharfe Lachen der Frauen reizte, das polternde Streiten zweier nachbarlicher hol­ländischer Offiziere ärgerte nicht mehr. So blieb nur Flucht: aber die Kabine war heiß und dunstig, im Salon produzierten unablässig englische Mädchen ihr schlechtes Klavierspiel bei abgehackten Walzern. Endlich drehte ich entschlossen die Zeit­ordnung um, tauchte in die Kabine schon nachmittags hinab, nachdem ich mich zuvor mit ein paar Gläsern Bier betäubt, um das Souper und den Tanzabend zu überschlafen.

Als ich aufwachte, war es ganz dunkel und dumpf in dem kleinen Sarg der Kabine. Den Ventilator hatte ich abgestellt, so schwelte die Luft fettig und feucht an die Schläfen. Meine Sinne waren betäubt: ich brauchte Minuten, um mich an Zeit und Ort zurückzufinden. Mitternacht mußte jedenfalls schon vorbei sein, denn ich hörte weder Musik noch den rastlosen Schlurf der Schritte: nur die Maschine, das atmende Herz des Leviathans, stieß keuchend den knisternden Leib des Schiffes fort ins Unsichtbare.

Ich tastete mich empor auf Deck. Es war leer. Und als ich den Blick aufhob über den düsteren Turm des Schornsteins und die geisterhaft glänzenden Spieren, drang mir mit einem Male magische Helle in die Augen. Der Himmel strahlte. Er war dunkel gegen die Sterne, die ihn weiß durchwirbelten, aber doch: er strahlte, es war, als verhülle dortein samtener Vor­hang ungeheures Licht, als wären die sprühenden Sterne nur Luken und Ritzen, durch die jenes unbeschreiblich Helle vor­glänzte. Nie hatte ich den Himmel gesehen wie in jener Nacht, so strahlend, so stahlblau hart und doch funkelnd, triefend, rauschend, quellend von Licht, das vom Mond verhangen niederschwoll und von den Sternen, und das aus einem geheim­nisvollen Innen zu brennen schien. Weißer Lack, flimmerten im Monde alle Randlinien des Schiffes grell gegen das samt­dunkle Meer, die Taue, die Rahen, alles Schmale, alle Kontu­ren waren aufgelöst in diesem flutenden Glanz: gleichsam im Leeren schienen die Lichter auf den Masten und darüber das runde Auge des Ausgucks zu hängen, irdische gelbe Sterne zwi­schen den strahlenden des Himmels.


Gerade aber zu Häupten stand mir das magische Stern­bild, das Kreuz des Südens, mit flimmernden diamantenen Nä­geln ins Unsichtbare gehämmert, schwebend scheinbar, indes nur das Schiff Bewegung schuf, das-leise bebend sich mit at­mender Brust nieder und auf, nieder und auf, ein gigantischer Schwimmer, durch die dunklen Wogen stieß. Ich stand und sah empor: mir war wie in einem Bade, wo Wasser warm von oben fällt, nur daß dies Licht war, das mir weiß und auch lau die Hände überspülte, die Schultern, das Haupt mild umgoß und nach innen zu dringen schien, denn alles Dumpfe in mir war plötzlich aufgehellt. Ich atmete befreit, rein, und jäh be­seligt spürte ich auf den Lippen wie ein klares Getränk die Luft, die weiche, gegorene, leicht trunken machende Luft, in der Atem von Früchten, Duft von fernen Inseln war. Nun, nun zum erstenmal, seit ich die Planken betreten, überkam mich die heilige Lust des Träumens und jene andere, sinnli­chere, meinen Körper weibisch hinzugeben an dieses Weiche, das mich umdrängte. Ich wollte mich hinlegen, den Blick hin­auf zu den weißen Hieroglyphen. Aber die Ruhesessel, die Deckchairs, waren verräumt, nirgends fand sich auf dem lee­ren Promenadendeck ein Platz zu träumerischer Rast.

So tastete ich weiter, allmählich dem Vorderteil des Schif­fes zu, ganz geblendet vom Licht, das immer heftiger aus den Gegenständen auf mich zu dringen schien. Fast tat es schon weh, dies kalkweiße, grell brennende Sternenlicht, ich aber hatte Verlangen, mich irgendwo im Schatten zu vergraben, hingestreckt auf eine Matte, den Glanz nicht an mir zu fühlen, sondern nur über mir, an den Dingen gespiegelt, so wie man eine Landschaft sieht aus verdunkeltem Zimmer. Endlich kam ich, über Taue stolpernd und vorbei an den eisernen Gewin­den, bis an den Kiel und sah hinab, wie der Bug in das Schwar­ze stieß und geschmolzenes Mondlicht schäumend zu beiden Seiten der Schneide aufsprühte. Immer wieder hob, immer wieder senkte sich der Pflug in die schwarzflutende Scholle, und ich fühlte alle Qual des besiegten Elements, fühlte alle Lust der irdischen Kraft in diesem funkelnden Spiel. Und im Schauen verlor ich die Zeit. War es eine Stunde, daß ich so stand, oder waren es nur Minuten: im Auf und Nieder schaukelte mich die ungeheure Wiege des Schiffes über die Zeit hinaus. Ich fühlte nur, daß ich in Müdigkeit kam, die wie eine Wollust war. Ich wollte schlafen, träumen und doch nicht weg aus dieser Magie, nicht hinab in meinen Sarg.- Unwillkürlich ertastete ich mit meinem Fuß unter mir ein Bündel Taue. Ich setzte mich hin, die Augen geschlossen und doch nicht Dunkels voll, denn über sie, über mich strömte der silberne Glanz. Unten fühlte ich die Wasser leise rauschen, über mir mit unhörbarem Klang den weißen Strom dieser Welt. Und allmählich schwoll dies Rau­schen mir ins Blut: ich fühlte mich selbst nicht mehr, wußte nicht, ob dies Atmen mein eigenes war oder des Schiffes fern­pochendes Herz, ich strömte, verströmte in diesem ruhelosen Rauschen der mitternächtigen Welt.


Ein leises, trockenes Husten hart neben mir ließ mich auf­fahren. Ich schrak auf aus meiner fast schon trunkenen Träu­merei. Meine Augen, geblendet vom weißen Geleucht über den bisher geschlossenen Lidern, tasteten auf: mir knapp gegen­über im Schatten der Bordwand glänzte etwas wie der Reflex einer Brille, und jetzt glühte ein dicker, runder Funke auf, die Glut einer Pfeife. Ich hatte, als ich mich hinsetzte, einzig nieder­blickend in die schaumige Bugschneide und empor zum Südli­chen Kreuz, offenbar diesen Nachbarn nicht bemerkt, der re­gungslos hier die ganze Zeit gesessen haben mußte. Unwillkür­lich, noch dumpf in den Sinnen, sagte ich auf deutsch:

Verzeihung!" — „Oh, bitte..." antwortete die Stimme deutsch aus dem Dunkel.

Ich kann nicht sagen, wie seltsam und schaurig das war, dies stumme Nebeneinandersitzen im Dunkeln, knapp neben eimem, den man nicht sah. Unwillkürlich hatte ich das Gefühl, als starre dieser Mensch auf mich, genau wie ich auf ihn starr­te: aber so stark war das Licht über uns, das weißflimmernd flutende, daß keiner vom andern mehr sehen konnte als den Umriß im Schatten. Nur den Atem meinte ich zu hören und das fauchende Saugen an der Pfeife.

Das Schweigen war unerträglich. Ich wäre am liebsten weg­gegangen, aber das schien doch zu brüsk, zu plötzlich. Aus Verlegenheit nahm ich mir eine Zigarette. Das Zündholz zischte auf, eine Sekunde lang zuckte Licht über den engen Raum. Ich sah hinter Brillengläsern ein fremdes Gesicht, das ich nie an Bord gesehen, bei keiner Mahlzeit, bei keinem Gang; und sei es, daß die plötzliche Flamme den Augen wehtat, oder war es eine Halluzination: es schien grauenhaft verzerrt, finster und koboldhaft. Aber ehe ich Einzelheiten deutlich wahrnahm, schluckte das Dunkel wieder die flüchtig erhellten Linien weg, nur den Umriß einer Gestalt sah ich, dunkel ins Dunkel ge­drückt, und manchmal den kreisrunden roten Feuerring der Pfeife im Leeren. Keiner sprach, und dies Schweigen war schwül und drückend wie die tropische Luft.


Endlich ertrug ich's nicht mehr. Ich stand auf und sagte höflich „Gute Nacht".

Gute Nacht", antwortete aus dem Dunkel eine heisere, harte, eingerostete Stimme.

Ich stolperte mich mühsam vorwärts durch das Takel-werk an den Pfosten vorbei. Da klang ein Schritt hinter mir her, hastig und unsicher. Es war der Nachbar von vordem. Un­willkürlich blieb ich stehen. Er kam nicht ganz nah heran, durch das Dunkel fühlte ich ein Irgendetwas von Angst und Bedrücktheit in der Art seines Schrittes.

Verzeihen Sie", sagte er dann hastig, „wenn ich eine Bit­te an Sie richte. Ich... ich..." — er stotterte und konnte nicht gleich weitersprechen vor Verlegenheit — „ich... ich habe pri­vate... ganz private Gründe, mich hier zurückzuziehen... ein Trauerfall... ich meide die Gesellschaft an Bord... Ich meine nicht Sie... nein, nein... Ich möchte nur bitten... Sie würden mich sehr verpflichten, wenn Sie zu niemandem an Bord da­von sprächen, daß Sie mich hier gesehen haben... Es sind... sozusagen private Gründe, die mich jetzt hindern, unter die Leute zu gehen... ja... nun... es wäre mir peinlich, wenn Sie davon Erwähnung täten, daß jemand hier nachts... daß ich..." Das Wort blieb ihm wieder stecken. Ich beseitigte rasch seine Verwirrung, indem ich ihm zusicherte, seinen Wunsch zu er­füllen. Wir reichten einander die Hände. Dann ging ich in mei­ne Kabine zurück und schlief einen dumpfen, merkwürdig verwühlten und von Bildern verwirrten Schlaf.


Ich hielt mein Versprechen und erzählte niemandem an Bord von, der seltsamen Begegnung, obwohl die Versuchung nicht gering war. Denn auf einer Seereise wird das Kleinste zum Geschehnis, ein Segel am Horizont, ein Delphin, der auf­springt, ein neuentdeckter Flirt, ein flüchtiger Scherz. Dabei quälte mich die Neugier, mehr von diesem ungewöhnlichen Passagier zu wissen: ich durchforschte die Schiffsliste nach einem Namen, der ihm zugehören konnte, ich musterte die Leute, ob sie zu ihm in Beziehung stehen könnten: den ganzen Tag bemächtigte sich meiner eine nervöse Ungeduld, und ich wartete eigentlich nur auf den Abend, ob ich ihm wieder be­gegnen würde. Rätselhafte psychologische Dinge haben über mich eine geradezu beunruhigende Macht, es reizt mich bis ins Blut, Zusammenhänge aufzuspüren, und sonderbare Menschen können mich durch ihre bloße Gegenwart zu einer Leidenschaft des Erkennenwollens entzünden, die nicht viel geringer ist als jene des Besitzenwollens bei einer Frau. Der Tag wurde mir lang und zerbröckelte leer zwischen den Fingern. Ich legte mich früh ins Bett: ich wußte, ich würde um Mitternacht aufwachen, es würde mich erwecken.

Und wirklich: ich erwachte um die gleiche Stunde wie ge­stern. Auf dem Radiumzifferblatt der Uhr deckten sich die beiden Zeiger in einem leuchtenden Strich. Hastig stieg ich aus der schwülen Kabine in die noch schwülere Nacht.

Die Sterne strahlten wie gestern und schütteten ein diffu­ses Licht über das zitternde Schiff, hoch oben flammte das Kreuz des Südens. Alles war wie gestern — in den Tropen sind die Tage, die Nächte zwillingshafter als in unseren Sphären — nur in mir war nicht dies weiche, flutende, träumerische Gewiegtsein wie gestern. Irgend etwas zog mich, verwirrte mich, und ich wußte, wohin es mich zog: hin zu dem schwar­zen Gewind am Kiel, ob er wieder dort starr sitze, der Ge­heimnisvolle. Von oben her schlug die Schiffsglocke. Dies riß mich fort. Schritt für Schritt, widerwillig und doch gezogen, gab ich mir nach. Noch war ich nicht am Steven, da zuckte plötzlich dort etwas auf wie ein rotes Auge: die Pfeife. Er saß also dort.

Unwillkürlich schreckte ich zurück und blieb stehen. Im nächsten Augenblick wäre ich gegangen. Da regte es sich drü­ben im Dunkel, etwas stand auf, tat zwei Schritte, und plötz­lich hörte ich knapp vor mir seine Stimme, höflich und ge­drückt.

Verzeihen Sie", sagte er, „Sie wollen offenbar wieder an Ihren Platz, und ich habe das Gefühl, Sie flüchteten zurück, als Sie mich sahen. Bitte, setzen Sie sich nur hin, ich gehe schon wieder."


Ich eilte, ihm zu sagen, daß er nur bleiben solle, ich sei bloß zurückgetreten, um ihn nicht zu stören. „Mich stören Sie nicht", sagte er mit einer gewissen Bitterkeit, „im Gegenteil, ich bin froh, einmal nicht allein zu sein. Seit zehn Tagen habe ich kein Wort gesprochen... eigentlich seit Jahren nicht... und da geht es so schwer, eben vielleicht weil man schon erstickt daran, alles in sich hineinzuwürgen... Ich kann nicht mehr in der Kabine sitzen, in diesem... diesem Sarg... ich kann nicht mehr... und die Menschen ertrage ich wieder nicht, weil sie den ganzen Tag lachen... Das kann ich jetzt nicht ertragen... ich höre es hinein bis in die Kabine und stopfe mir die Ohren zu... freilich, sie wissen ja nicht, daß... nun, sie wissen eben nicht, und dann, was geht das die Fremden an..."

Er stockte wieder. Und sagte dann ganz plötzlich und ha­stig: „Aber ich will Sie nicht belästigen... verzeihen Sie meine Geschwätzigkeit!"


Er verbeugte sich und wollte fort. Aber ich widersprach ihm dringlich. „Sie belästigen mich durchaus nicht. Auch ich bin froh, hier eine paar stille Worte zu haben... Nehmen Sie eine Zigarette?"

Er nahm eine. Ich zündete an. Wieder riß sich das Ge­sicht flackernd vom schwarzen Bordrand los, aber jetzt voll mir zugewandt: die Augen hinter der Brille forschten in mein Gesicht, gierig und mit einer irren Gewalt. Ein Grauen über­lief mich. Ich spürte, daß dieser Mensch sprechen wollte, spre­chen mußte. Und ich wußte, daß ich schweigen müsse, um ihm zu helfen.

Wir setzten uns wieder. Er hatte einen zweiten Deckchair dort, den er mir anbot. Unsere Zigaretten funkelten, und an der Art, wie der Lichtring der seinen unruhig im Dunkel zit­terte, sah ich, daß seine Hand bebte. Aber ich schwieg, und er schwieg. Dann fragte plötzlich seine Stimme leise: „Sind Sie sehr müde?"

Nein, durchaus nicht."

Die Stimme aus dem Dunkel zögerte wieder. „Ich möchte Sie gern etwas fragen... das heißt, ich möchte Ihnen etwas er­zählen. Ich weiß, ich weiß genau, wie absurd das ist, mich an den ersten zu wenden, der mir begegnet, aber... ich bin... ich bin in einer furchtbaren psychischen Verfassung... ich bin an einem Punkt, wo ich unbedingt mit jemandem sprechen muß... ich gehe sonst zugrunde... Sie werden das schon verstehen, wenn ich... ja, wenn ich Ihnen eben erzähle... Ich weiß, daß Sie mir nicht helfen können... aber ich bin krank von diesem Schwei­gen... und ein Kranker ist immer lächerlich für die andern..."

Ich unterbrach ihn und bat ihn, sich doch nicht zu quälen. Er möge mir nur erzählen... ich könne ihm natürlich nichts versprechen, aber man habe doch die Pflicht, seine Bereitwil­ligkeit anzubieten. Wenn man jemanden in einer Bedrängnis sehe, da ergebe sich doch natürlich die Pflicht zu helfen...

Die Pflicht... seine Bereitwilligkeit anzubieten... die Pflicht, den Versuch zu machen... Sie meinen also auch, Sie auch, man habe die Pflicht... die Pflicht, seine Bereitwilligkeit anzubieten."

Dreimal wiederholte er den Satz. Mir graute vor dieser stumpfen, verbissenen Art des Wiederholens. War dieser Mensch wahnsinnig? War er betrunken?

Aber als ob ich die Vermutung laut mit den Lippen ausge­sprochen hatte, sagte er plötzlich mit einer ganz andern Stim­me: „Sie werden mich vielleicht für irr halten oder für betrun­ken. Nein, das bin ich nicht — noch nicht. Nur das Wort, das Sie sagten, hat mich so merkwürdig berührt... so merkwür­dig, weil es gerade das ist, was mich jetzt quält, nämlich, ob man die Pflicht hat... die Pflicht..."

Er begann wieder zu stottern. Dann brach er kurz ab und begann mit einem neuen Ruck.

Ich bin nämlich Arzt. Und da gibt es oft solche Fälle, solche verhängnisvolle... ja, sagen wir Grenzfälle, wo man nicht weiß, ob man die Pflicht hat... nämlich, es gibt ja nicht nur eine Pflicht, die gegen den andern, sondern eine gegen sich selbst und eine gegen den Staat und eine gegen die Wissen­schaft... Man soll helfen, natürlich, dazu ist man doch da... aber solche Maximen sind immer nur theoretisch... Wie weit soll man denn helfen?... Da sind Sie, ein fremder Mensch, und ich bin Ihnen fremd, und ich bitte Sie, zu schweigen darüber, daß Sie mich gesehen haben... gut, Sie schweigen, Sie erfüllen diese Pflicht... Ich bitte Sie, mit mir zu sprechen, weil ich kre­piere an meinem Schweigen... Sie sind bereit, mir zuzuhören... gut... Aber das ist ja leicht... Wenn ich Sie aber bäte, mich zu packen und über Bord zu werfen... da hört doch die Gefällig­keit, die Hilfsbereitschaft auf. Irgendwo endet's doch... dort, wo man anfängt mit seinem eigenen Leben, seiner eigenen Ver­antwortung... irgendwo muß es doch enden... irgendwo muß diese Pflicht doch aufhören... Oder vielleicht soll sie gerade beim Arzt nicht aufhören dürfen? Muß der ein Heiland, ein Allerweltshelfer sein, bloß weil er ein Diplom mit lateinischen Worten hat, muß der wirklich sein Leben hinwerfen und sich Wasser ins Blut schütten, wenn irgendeine... irgendeiner kommt und will, daß er edel sei, hilfreich und gut? Ja, irgend­wo hört die Pflicht auf... dort, wo man nicht mehr kann, gera­de dort..."

Er hielt wieder inne und riß sich empor.

Verzeihen Sie... ich rede gleich so erregt... aber ich bin nicht betrunken... noch nicht betrunken... auch das kommt jetzt oft bei mir vor, ich gestehe es Ihnen ruhig ein, in dieser höllischen Einsamkeit... Bedenken Sie, ich habe sieben Jahre fast nur zwischen Eingeborenen und Tieren gelebt... da ver­lernt man das ruhige Reden. Wenn man sich dann auftut, flutet's gleich über... Aber warten Sie... ja, ich weiß schon... ich wollte Sie fragen, wollte Ihnen so einen Fall vorlegen, ob man die Pflicht habe zu helfen... so ganz engelhaft rein zu helfen, ob man... Ich fürchte übrigens, es wird lang werden. Sind Sie wirklich nicht müde?" „Nein, durchaus nicht."

Ich... ich danke Ihnen... Nehmen Sie nicht?" Er hatte hinter sich ins Dunkel getappt. Etwas klirrte gegeneinander, zwei, drei, jedenfalls mehrere Flaschen, die er neben sich ge­stellt. Er bot mir ein Glas Whisky, an dem ich flüchtig nippte, während er mit einem Ruck das seine hinabgoß. Einen Augen­blick stand Schweigen zwischen uns. Da schlug die Glocke: halb eins.



Also... ich möchte Ihnen einen Fall erzählen. Nehmen Sie an, ein Arzt in einer... einer kleineren Stadt... oder eigent­lich am Lande... ein Arzt, der... ein Arzt, der..."

Er stockte wieder. Dann riß er sich plötzlich den Sessel heran zu mir. „So geht es nicht. Ich muß Ihnen alles direkt erzählen, von Anfang an, sonst verstehen Sie es nicht... Das, das läßt sich nicht als Exempel, als Theorie entwickeln... ich muß Ihnen meinen Fall erzählen. Da gibt es keine Scham, kein Verstecken... vor mir ziehen sich auch die Leute nackt aus und zeigen mir ihren Grind, ihren Harn und ihre Exkremen­te... wenn man geholfen haben will, darf man nicht herum­reden und nichts verschweigen... Also ich werde Ihnen keinen Fall erzählen von einem sagenhaften Arzt... ich ziehe mich nackt aus und sage: ich... das Schämen habe ich verlernt in dieser dreckigen E^niamkeit, in diesem verfluchten Land, das einem die Seele^ausfrißt und das Mark aus den Lenden saugt."

Ich mußte irgendeine Bewegung gemacht haben, denn er unterbrach-sich. i !

Ach, Sie protestieren... ich verstehe, Sie sind begeistert von Indien, von den Tempeln und den Palmenbäumen, von der ganzen Romantikj einer Zweimonatsreise. Ja, so sind sie zauberhaft, die Tropen, wenn man sie in der Eisenbahn, im Auto, in der Rikscha durchstreift: ich habe das auch nicht an­ders gefühlt, als ich zum erstenmal herüber kam vor sieben Jahren. Was träumte ich da nicht alles, die Sprachen wollte ich lernen und die heiligen Bücher im Urtext lesen, die Krank­heiten studieren, wissenschaftlich arbeiten, die Psyche der Ein­geborenen ergründen — so sagt man ja im europäischen Jar­gon — ein Missionär der Menschlichkeit, der Zivilisation wer­den. Alle, die kommen, träumen denselben Traum. Aber in diesem unsichtbaren Glashaus dort geht einem die Kraft aus, das Fieber—man kriegt's ja doch, mag man noch so viel Chi­nin in sich fressen—greift einem ans Mark, man wird schlapp und faul, wird weich, eine Qualle. Irgendwie ist man als Euro­päer von seinem wahren Wesen abgeschnitten, wenn man aus den großen Städten weg in so eine verfluchte Sumpfstation kommt: über kurz oder lang hat jeder seinen Knacks weg, die einen saufen, die'andern rauchen Opium, die dritten prügeln und werden Bestien — irgendeinen Schuß Narrheit kriegt je­der ab. Man sehnt sich nach Europa, träumt davon, wieder einen Tag auf einer Straße zu gehen, in einem hellen steiner­nen Zimmer unter weißen Menschen zu sitzen, Jahr um Jahr träumt man davon, und kommt dann die Zeit, da man Urlaub hätte, so ist man schon zu träge, um zu gehen. Man weiß, drü­ben ist man vergessen, fremd, eine Muschel in diesem Meer, auf die jeder tritt. So bleibt man und versumpft und verkommt in diesen heißen, nassen Wäldern. Es war ein verfluchter Tag, an dem ich mich in dieses Drecknest verkauft habe...

Übrigens: ganz so freiwillig war das ja auch nicht. Ich hatte in Deutschland studiert, war recte Mediziner geworden, ein guter Arzt, sogar mit einer Anstellung an der Leipziger Kli­nik; irgendwo in einem verschollenen Jahrgang der Medizini­schen Blätter haben sie damals viel-Aufhebens gemacht von einer neuen Injektion, die ich als erster praktiziert hatte. Da kam eine Weibergeschichte, eine Person, die ich im Kranken­haus kennenlernte: sie hatte ihren Geliebten so toll gemacht, daß er sie mit dem Revolver anschoß, und bald war ich eben­so toll wie er. Sie hatte eine Art, hochmütig und kalt zu sein, die mich rasend machte — mich hatten immer schon Frauen in der Faust, die herrisch und frech waren, aber diese bog mich zusammen, daß mir die Knochen brachen. Ich tat, was sie wollte, ich—nun, warum soll ich's nicht sagen, es sind sie­ben Jahre her—ich tat für sie einen Griff in die Spitalskasse, und als die Sache aufflog, war der Teufel los. Ein Onkel deck­te noch den Abgang, aber mit der Karriere war es vorbei. Damals hörte ich gerade, die holländische Regierung werbe Ärzte an für die Kolonien und biete ein Handgeld. Nun, ich dachte gleich, es müßte ein sauberes Ding sein, für das man Handgeld biete, ich wußte, daß die Grabkreuze auf diesen Fieberplantagen dreimal so schnell wachsen wie bei uns, aber wenn man jung ist, glaubt man, das Fieber und der Tod sprän­gen immer nur auf die andern. Nun, ich hatte da nicht viel Wahl, ich fuhr nach Rotterdam, verschrieb mich auf zehn Jah­re, bekam ein ganz nettes Bündel Banknoten, die Hälfte schickte ich nach Hause an den Onkel, die andere Hälfte jagte mir eine Person dort im Hafenviertel ab, die alles von mir heraus­kriegte, nur weil sie jener verfluchten Katze so ähnlich war. Ohne Geld, ohne Uhr, ohne Illusionen bin ich dann abgesegelt von Europa und war nicht sonderlich traurig, als wir aus dem' Hafen steuerten. Und dann saß ich so auf Deck wie Sie und sah das Südliche Kreuz und die Palmen, das Herz ging mir auf — ah, Wälder, Einsamkeit, Stille, träumte ich! Nun — an Ein­samkeit bekam ich gerade genug. Man setzte mich nicht nach Batavia oder Surabaya, in eine Stadt, wo es Menschen gibt und Klubs und Golf und Bücher und Zeitungen, sondern — nun, der Name tut ja nichts zur Sache — in irgendeine der Distriktstationen, zwei Tagereisen von der nächsten Stadt. Ein paar langweilige, verdorrte Beamte, ein paar Half cast, das war meine ganze Gesellschaft, sonst weit und breit nur Wald, Plantagen, Dickicht und Sumpf.