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VIERUNDZWANZIG STUNDEN AUS DEM LEBEN EINER FRAU

In der kleinen Pension an der Riviera, wo ich damals, zehn Jahre vor dem Kriege, wohnte, war eine hefti­ge Diskussion an unserem Tische ausgebrochen, die un­vermutet zu rabiater Auseinandersetzung, ja sogar zu Gehässigkeit und Beleidigung auszuarten drohte. Die meisten Menschen sind von stumpfer Fantasie. Was sie nicht unmittelbar anrührt, nicht aufdringlich spitzen Keil bis hart an ihre Sinne treibt, vermag sie kaum zu ent­fachen; geschieht aber einmal knapp vor ihren Augen, in unmittelbarer Tastnähe des Gefühls auch nur ein Ge­ringes, sogleich regt es in ihnen übermäßige Leiden­schaft. Sie ersetzen dann gewissermaßen die Seltenheit ihrer Anteilnahme durch eine unangebrachte und über­triebene Vehemenz.

So auch diesmal in unserer durchaus bürgerlichen Tischgesellschaft, die sonst friedlich small talk und un­tiefe, kleine Späßchen untereinander übte und meist gleich nach aufgehobener Mahlzeit auseinanderbröckel­te: das deutsche Ehepaar zu Ausflügen und Amateur­fotografieren, der behäbige Däne zu langweiligem Fischfang, die vornehme englische Dame zu ihren Bü­chern, das italienische Ehepaar zu Eskapaden nach Monte Carlo und ich zu Faulenzerei im Gartenstuhl oder Arbeit. Diesmal aber blieben wir alle durch die erbit­terte Diskussion vollkommen ineinander verhakt; und wenn einer von uns plötzlich aufsprang, so geschah es nicht, wie sonst zu höflichem Abschied, sondern in hitz köpfiger Erbitterung, die, wie ich bereits vorwegerzähl­te, geradezu rabiate Formen annahm.

Das Begebnis nun, das dermaßen unsere kleine Tafelrunde aufgezäumt hatte, war allerdings sonderbar genug. Die Pension, in der wir sieben wohnten, bot sich nach außen hin zwar als abgesonderte Villa dar

ach, wie wunderbar ging der Blick von den Fen­stern auf den felsenzerzackten Strand! —, aber eigent­lich war sie nichts als die wohlfeilere Dependence des großen Palace Hoteis und ihm durch den Garten unmittelbar verbunden, so dass wir Nebenwohner doch mit semen Gästen in ständigem Zusammenhang lebten. Dieses Hotel nun hatte am vorhergegangenen Tage einen tadellosen Skandal zu verzeichnen gehabt Es war nämlich mit dem Mittagszuge um 12 Uhr 20 Minuten (ich kann nicht umhin, die Zeit so genau wie­derzugeben, weil sie ebenso für diese Episode wie als Thema jener erregten Unterhaltung wichtig ist) ein jun­ger Franzose angekommen und hatte ein Strandzim­mer mit Ausblick nach dem Meer gemietet: das deu­tete an sich schon auf eine gewisse Behäbigkeit der Verthältnisse. Aber nicht nur seine diskrete Eleganz machte ihn angenehm auffällig, sondern vor allem seine außerordentliche und durchaus sympathische Schönheit: inmitten eines schmalen Mädchengesichtes umschmeichelte ein seidigblonder Schnurrbart sinnlich warme Lippen, über die weiße Stirn lockte sich wei­ches, braungewelltes Haar, weiche Augen liebkosten mit jedem Blick — alles war weich, schmeichlerisch, liebenswürdig in seinem Wesen, aber doch ohne alle Kunstlichkeit und Geziertheit, Erinnerte er auch von fern zuvörderst ein wenig an Jene rosafarbenen, eitel hingelehnten Wachsfiguren, wie sie in den Auslagen großer Modegeschäfte mit dem Zierstock in der Hand das Ideal männlicher Schönheit darstellen, so schwand doch bei näherem Zusehen jeder geckige Eindruck,

denn hier war (seltenster Fall!) die Liebenswürdigkeit eine natürlich angeborene, gleichsam aus der Haut gewachsene. Er grüßte vorübergehend jeden einzelnen in einer gleichzeitig bescheidenen und herzlichen Wei­se, und es war wirklich angenehm, zu beobachten, wie seine immer sprungbereite Grazie sich bei jedem An­laß ungezwungen offenbarte. Er eilte auf, wenn eine Dame zur Garderobe ging, ihren Mantel zu holen, hatte fur jedes Kind einen freundlichen Blick oder ein Scherz­wort, erwies sich umgänglich und diskret zugleich — kurz, er schien einer jener gesegneten Menschen, die aus dem erprobten Gefühl heraus, andern Menschen durch ihr helles Gesicht und ihren jugendlichen Charme angenehm zu sein, diese Sicherheit neuerlich in Anmut verwandeln. Unter den meist älteren und kränklichen Gästen des Hotels wirkte seine Gegenwart wie eine Wohltat, und mit jenem sieghaften Schritt der Jugend, jenem Sturm von Leichtigkeit und Lebensfri­sche, wie sie Anmut so herrlich manchem Menschen zuteilt, war er unwiderstehlich in die Sympathie alter vorgedrungen. Zwei Stunden nach seiner Ankunft spielte er bereits Tennis mit den beiden Töchtern des breiten, behäbigen Fabrikanten aus Lyon, der zwölf­jährigen Annette und der dreizehnjährigen Blanche, und ihre Mutter, die feine, zarte und ganz in sich zu­rückhaltende Madame Henriette, sah lächelnd zu, wie unbewusst kokett die beiden unflüggen Töchterchen mit dem jungen Fremden flirteten. Am Abend kiebitz te er uns eine Stunde am Schachtisch, erzählte zwi­schendurch in unaufdringlicher Weise ein paar nette Anekdoten, ging neuerdings mit Madame Henriette, wahrend ihr Gatte wie immer mit einem Geschäfts­freunde Donuno spielte, auf der Terrasse lange auf und ab; spät abends beobachtete ich ihn dann noch mit der Sekretärin des Hotefc im Schatten des Bureaus in ver-



ich alle diese Phasen seiner Zeiteinteilung so genau berichte — saß er nochmals mit Madame Henriette beim schwarzen Kaffee eine Stunde allein im Garten, sptefte wiederum Tennis mit ihren Töchtern, konver­sierte mit dem deutschen Ehepaar in der Halle. Um sechs Uhr traf ich ihn dann, als ich einen Brief aufzu­geben ging, an der Bahn. Er kam mir eilig entgegen und erzählte als müsse er sich entschuldigen, man habe im päötzfich abberufen, aber er kehre in zwei Ta­gen zurück. Abends fehlte er tatsächlich im Speisesaale, aber nur mit semer Person, denn an allen Tischen sprach man einzig von ihm und rühmte seine ange­nehme, heitere Lebensart

Nachts, es mochte gegen elf Uhr sein, saß ich m meinem Zimmer, um ein Buch zu Ende zu lesen, als ich plötzlich durch das offene Fenster im Garten unru­higes Schreien und Rufen hörte und sich drüben im

Hotel eine sichtliche Bewegung kundgab. Eher beun­ruhigt als neugierig, eilte ich sofort die fünfzig Schritte hinüber und fand Gäste und Personal in durcheinander-sturrnender Erregung. Frau Henriette war. während ihr Mann in gewohnter Pünktlichkeit mit seinem Freunde aus Namur Domino spielte, von ihrem allabendlicher. Spaziergang an der Strandterrasse nicht zurückgekehrt so dass man einen Unglücksfall befürchtete. Wie ein Stier rannte der sonst so behäbige schwerfällige Mann immer wieder gegen den Strand, und wenn er mit sei­ner vor Erregung verzerrten Stimme «Henriette! Hen­riette!» in die Nacht hinausschrie, so hatte dieser Laut etwas von dem Schreckhaften und Urwefflichen eines zu Tode getroffenen riesigen Tieres. Kellner und Boys hetzten aufgeregt treppauf, treppab, man weckte alle Gäste und telefonierte an die Gendarmerie. Mitten hin­durch aber stolperte und stapfte immer dieser dicke Mann mit offener Weste, ganz sinnlos den Namen «Henriette! Henriette!» in die Nacht hinaus schluchzend und schreiend. Inzwischen waren oben die Kinder wach geworden und riefen in ihren Nachtkleidern vom Fen­ster herunter nach der Mutter, der Vater eilte nun wie­der zu ihnen hinauf, sie zu beruhigen.

Und dann geschah etwas so Furchtbares, dass es kaum wiederzuerzählen ist, weil die gewaltsam aufge­spannte Natur in den Augenblicken des Übermaßes der Haltung des Menschen oft einen dermaßen tragischen Ausdruck gibt dass ihn weder ein Bild noch ein Wort mit der gleichen blitzhaft einschlagenden Macht wieder­zugeben vermag. Plötzlich kam der schwere, breite Mann die ächzenden Stufen herab mit einem verän­derten, ganz müden und doch grimmigen Gesicht Er hatte einen Brief in der Hand. «Rufen Sie alle zurück!» sagte er mit gerade noch verständlicher Stimme zu dem

Chef des Personals, «Rufen Sie alle Leute zurück, es ist nicht nötig. Meine Frau hat mich verlassen.»

Es war Haltung in dem Wesen dieses tödlich getrof­fenen Mannes, eine übermenschlich gespannte Haltung

vor all diesen Leuten ringsum, die neugierig gedrängt auf ihn sahen und jetzt plötzlich, jeder erschreckt, be­schämt, verwirrt, sich von ihm abwandten. Gerade genug Kraft blieb ihm noch, ал uns vorbeizuwanken, ohne einen einzigen anzusehen, und im Lesezimmer das Licht abzudrehen; dann hörte man, wie sein schwe­rer, massiger Körper dumpf in einen Fauteuil fiel, und hörte ein wildes, tierisches Schluchzen, wie nur ein Mann weinen kann, der noch nie geweint hat. Und dieser elementare Schmerz harte über jeden von uns, auch den Geringsten, eine Art betäubender Gewalt Keiner der Keilner, keiner der aus Neugierde herbeige­schlichenen Gäste wagte ein Lächeln oder anderseits ein Wort des Bedauerns. Wortlos, einer nach dem an­dern, wie beschämt von dieser zerschmetternden Explosion des Gefühls, schlichen wir in unsere Zimmer zurück, und nur drinnen in dem dunklen Räume zuck­te und schluchzte dieses hingeschlagene Stück Mensch mit sich urallein in dem langsam auslöschenden, flüs­ternden, zischelnden, leise raunenden und wispernden Hause.

Man wird verstehen, dass ein solches blitzschlag­haftes, knapp vor unseren Augen und Sinnen nieder­gefahrenes Ereignis wohl geeignet war, die sonst nur an Langeweile und sorglosen Zeitvertreib gewöhnten Menschen mächtig zu erregen. Aber jene Diskussion, die dann so vehement an unserem Tische ausbrach und knapp bis an die Grenze der Tätlichkeiten empor­stürmte, hatte zwar diesen erstaunlichen Zwischenfall zum Ausgangspunkt, war aber im Wesen eher eine grundsätzliche Erörterung, ein zorniges Gegeneinander feindlicher Lebensauffassungen. Durch die Indiskreti­on eines Dienstmädchens, das jenen Brief gelesen — der ganz in sich zusammengestürzte Gatte hatte ihn ir­gendwohin auf den Boden in ohnmächtigem Zorn hin­geknüllt —, war nämlich rasch bekannt geworden, dass sich Frau Henriette nicht allein, sondern einverständ­lich mit dem jungen Franzosen entfernt hatte (für den die Sympathie der meisten nun rapid zu schwinden be­gann). Nun, das wäre auf den ersten Blick hin vollkom­men verständlich gewesen, dass diese kleine Madame Bovary ihren behäbigen, provinzlerischen Gatten für einen eleganten, jungen Hübschling eintauschte. Aber was alle im Hause dermaßen erregte, war der. Um­stand, dass weder der Fabrikant, noch seine Töchter, noch auch Frau Henriette jemals diesen Lovelace vor­dem gesehen, dass also jenes zweistündige abendliche Gespräch auf der Terrasse und jener einstündige schwarze Kaffee im Garten genügt haben sollten, um eine etwa dreiunddreißigjährige, untadelige Frau zu bewegen, ihren Mann und ihre zwei Kinder über Nacht zu verlassen und einem wildfremden jungen Elegant auf das Geratewohl zu folgen. Diesen scheinbar offen­kundigen Tatbestand lehnte nun unsere Tischrunde einhellig als perfide Täuschung und listiges Manöver des Liebespaares ab: selbstverständlich sei Frau Hen­riette längst mit dem jungen Mann in heimlichen Be­ziehungen gestanden und der Rattenfänger nur noch hierhergekommen, um die letzten Einzelheiten der Frucht zu bestimmen, denn — se folgerten sie — es sei vollkommen unmöglich, dass eine anständige Frau nach bloß zweistündiger Bekanntschaft, einfach auf den ersten Pfiff davonlaufe. Nun machte es mir Spaß, anderer Ansicht zu sein, und ich verteidigte energisch derartige Möglichkeit, ja sogar Wahrscheinlichkeit bei einer Frau, die durch eine jahrelang enttauschende, langweilige Ehe jedem energischen Zugriff innerlich zu­bereitet war. Durch meine unerwartete Opposition wur­de die Diskussion rasch aligemein und vor allem da­durch erregt, dass die beiden Ehepaare, das deutsche sowohl als das Italienische, die Existenz des coup de fornire als eine Narrheit und abgeschmackte Roman­fantasie mit geradezu beleidigender Verächtlichkeit ablehnten.


Nun, es ist ja hier ohne Belang, den stürmischen Ablauf eines Streits zwischen Suppe und Pudding in

allen Einzelhelten nachzukäuen: nur Professionals der Table d'höte sind geistreich, und Argumente, zu denen man in der Hitzigkeit eines zufälligen Tischstreites greift, meist banal, weil bloß eilig mit der linken Hand auf* gerafft. Schwer auch zu erklären, wieso unsere Diskus­sion dermaßen rasch beleidigende Formen annahm; die Gereiztheit, glaube ich, begann damit, dass unwill­kürlich beide Ehemänner, ihre eigenen Frauen von der Möglichkeit solcher Untiefen und Fährlichkeiten aus­genommen wissen wollten. Leider fanden sie dafür keine glücklichere Form, als mir entgegenzuhalten, so könne nur jemand reden, der die weibliche Psyche nach den zufälligen und allzubiüigen Eroberungen von Junggesellen beurteile: das reizte mich schon einiger maßen, und als dann noch die deutsche Dame diese Lektion mit dem lehrhaften Senf bestrich, es gäbe ei­nerseits wirkliche Frauen und anderseits «Dirnennatu­ren», deren ihrer Ansicht nach Frau Henriette eine ge­wesen sein musste, da riss mir die Geduld vollends, ich wurde meinerseits aggressiv. AU dies Abwehren der of­fenbaren Tatsache, dass eine Frau in manchen Stun­den ihres Leben jenseits ihres Willens und Wissens ge­heimnisvollen Mächten ausgeliefert sei, verberge nur Furcht vor dem eigenen Instinkt, vor dem Dämoni­schen unserer Natur, und es scheine eben manchen Menschen Vergnügen zu machen, sich stärker, sittlicher und reinlicher zu empfinden als die «leicht Verführba­ren». Ich persönlich wieder fände es ehrlicher, wenn eine Frau ihrem Instinkt frei und leidenschaftlich fol­ge, statt, wie allgemein üblich, ihren Mann in seinen eigenen Armen mit geschlossenen Augen zu betrügen. So sagte ich ungefähr, und je mehr in dem nun auf­knisternden Gespräch die andern die arme Frau Hen­riette angriffen, um so leidenschaftlicher verteidigte ich sie (in Wahrheit weit über mein inneres Gefühl hinaus). Diese Begeisterung war nun — wie man in der Stu­dentensprache sagt — Tusch für die beiden Ehepaa­re, und sie fuhren, ein wenig harmonisches Quartett, derart solidarisch erbittert auf mich los, dass der alte Däne, der mit jovialem Gesicht und gleichsam die Stoppuhr in der Hand, wie bei einem Fußballmatch, als Schiedsrichter dasaß, ab und zu mit dem Knöchel mahnend auf den lisch klopfen musste: «Gentlemen, please». Aber das half immer nur für einen Augenblick. Dreimal bereits war der eine Herr vom Tisch mit ro­tem Kopf aufgesprungen und nur mühsam von seiner Frau beschwichtigt worden — kurz, ein Dutzend Mi­nuten noch, und unsere Diskussion hatte in Tätlichkei­ten geendet, wenn nicht plötzlich Mrs. С. wie ein mil­des Öl die aufschäumenden Wogen des Gesprächs geglättet hätte.

Mrs. С, die weißhaarige, vornehme, alte englische Dame, war die ungewählte Ehrenpräsidentin unseres Tisches. Aufrecht sitzend an ihrem Platze, in immer gleichmäßiger Freundlichkeit jedem zugewandt, schweig­sam und dabei von angenehmster Interessiertheit des Zuhörens, bot sie rein physisch schon einen wohltäti­gen Anblick: eine wunderbare Zusammengefasstheit und Ruhe strahlte von ihrem aristokratisch verhaltenen Wesen. Sie hielt sich jedem einzelnen fern bis zu einem gewissen Grade, obwohl sie jedem mit feinem Takt eine besondere Freundlichkeit zu erweisen wusste: meist saß sie mit Büchern im Garten, manchmal spielte sie Kla­vier, selten nur sah man sie in Gesellschaft oder in in­tensivem Gespräch. Man bemerkte sie kaum, und doch hatte sie eine sonderbare Macht über uns alle. Denn kaum dass sie jetzt zum erstenmal in unser Gespräch eingriff, überkam uns einhellig das peinliche Gefühl, allzu laut und unbeherrscht gewesen zu sein.

Mrs. С. hatte die ärgerliche Pause benützt, die durch das brüske Aufspringen und wieder sachte an den Tisch Zurückgeführtsein des deutschen Herrn entstanden war. Unvermutet hob sie ihr klares, graues Auge, sah mich einen Augenblick unentschlossen an, um dann mit bei­nahe sachlicher Deutlichkeit das Thema in ihrem Sin­ne aufzunehmen.

«Sie glauben also, wenn ich Sie recht verstanden habe, dass Frau Henriette, dass eine Frau unschuldig in ein plötzliches Abenteuer geworfen werden kann, dass es Handlungen gibt, die eine solche Frau eine Stunde vorher selbst für unmöglich gehalten hätte und für die sie kaum verantwortlich gemacht werden kann?»

«Ich glaube unbedingt daran, gnädige Frau.»

«Damit wäre doch jedes moralische Urteil vollkom­men sinnlos und jede Überschreitung im Sittlichen ge­rechtfertigt. Wenn Sie wirklich annehmen, dass das cri­me passionnel, wie es die Franzosen nennen, kein cri­me ist, wozu noch eine staatliche Justiz überhaupt? Es gehört ja nicht viel guter Wille dazu — und Sie haben erstaunlich viel guten Willen», fügte sie leicht lächelnd hinzu, «um dann in jedem Verbrechen eine Leiden­schaft zu finden und dank dieser Leidenschaft zu ent­schuldigen.»

Der klare und zugleich fast heitere Ton ihrer Wor­te berührte mich ungemein wohltätig, und unwillkür­lich ihre sachliche Art nachahmend, antwortete ich gleichfalls halb im Scherz und halb im Ernst: «Die staatliche Justiz entscheidet über diese Dinge sicher­lich strenger als ich; ihr obliegt die Pflicht, mitleidslos die allgemeine Sitte und Konvention zu schützen: das nötigt sie, zu verurteilen, statt zu entschuldigen. Ich als Privatperson aber sehe nicht ein, warum ich freiwillig die Rolle des Staatsanwaltes übernehmen sollte: Ich ziehe es vor, Verteidiger von Beruf zu sein. Mir per­sönlich macht es mehr Freude, Menschen zu verste­hen, als sie zu richten.»


Mrs. С. sah mich eine Zeitlang senkrecht mit ihren klaren, grauen Augen an und zögerte. Schon fürchtete ich, sie hätte mich nicht recht verstanden, und bereite­te mich vor, ihr nun auf Englisch das Gesagte zu wie derhoten. Abet mit einem merkwürdigen Ernst gleichsam wie bei einer Pruefung stellte sie weiter ihre Fragen

«Finden Sie es nicht doch verächtlich oder haesslich, dass eine Freu Ihren Mann und Ihre zwei Kinder verlaesst, um Irgendeinem Menschen au folgen, von dem ш noch gar nicht Witten kann, ob er Ihrer Liebe wert tat? Kennen Si»? wirklich ein to fahrlässiges und leicht-(erttgw \Anhahen bei einer Freu entschuldigen, die doch immerhin nicht tu den Jüngsten tihlt und sich tur SeK»t<h htving schon um ihrer Kinder willen «mögen haben musste?»

«fctv wkMerhole Ihnen, gnädige Frau», beherrte ich, «dass ich mich weigere, in diesem Falle tu urteilen oder tu verurteilen tat ihnen kann Ich es ruhig bekennen, de» ich vorhin ein wenig übertrieben hebt — diese erme Freu Henriette ist gewiss keine Heldin, nicht ein­mal eine Abwteuiemaiur und am wenigsten eine gran­de amoureuse Sie scheint mir, soweit ich sie kenne, nichts ab eine mittelmäßige, schwache Frau, für die ich ein wenig Respekt hebe, weil sie mutig ihrem Willen getokjt ist, aber noch mehr Bedauern, weil sit gewiss morgen, wenn nicht schon heute, rief unglücklich sein wird. Dumm vielleicht, gewiss übereilt mag sie gehan­delt heben, aber kelnesuvgs niedrig und gemein, und nach wie vor bestrette ich jedermann das Recht diese erme, unglückliche Rreu tu verachten -

«Und Sie selbst, haben Sie noch genau denselben Respekt und dieselbe Achtung für tit? Machen Sie gar keinen Unterschied twischtn der Freu, mit der Sie vor­gestern ab einer ehrbaren Frau beisummen waren, und Jener andern, die gestern mit einem wÜdtmmden Men* sehen davongelaufen ist?» л «Gar keinen. Nicht den geringsten, nicht den aller­geringsten,»

«ls that so?» Unwillkürlich sprach sie englisch: des gante Gesprach schien sie merkwürdig tu beschäftigen. Und nach einem kürten Augenblick des Nachdenkens hob sich ihr klarer Blick mir nochmals fragend entgegen.

«Und wenn Sie morgen Madame Henriette, sagen wir in Nina, begegnen würden, am Arme dieses jun­gen Mannet, würden Sie sie noch grüßen?» ;-• «Selbstverständlich.»

«Und mit Ihr sprechen?»

«Selbstverständlich,»

«Würden Sit -— wenn Sie.,. wenn Sie verheiratet wären, tint solchi" Frau ihrer Frau vorstellen, genau so als ob nichts von«'fallen wäre?»

«Selbstverständlich.»

«Would you really?» sagte sie wiederum englisch, voll ungläubigen, verwunderten Erstaunens, t «Surtly 1 would», Antwortete Ich unbewusst gleich­falls englisch.

e* Mrs, С schwieg. Sie schien noch immer angestrengt nechtudtnktn, und plötzlich sagte sie, wahrend sie mich, gleichsam über ihren eigenen Mut erstaunt an­sah: «I don't know, if I would. IVrhaps I might do It fiso»

Und mit jener unbeschreiblichen Sicherheit, wie nur Engländer tin Gespräch tndgültig und doch ohne gro* bt Brüskerie abzuschließen wissen, stand Sie auf und bot mir freundlich die Hand. Durch ihre Einwirkung war die Ruht wieder eingekehrt, und wir dankten ihr inner-lieh alle, dass wir, eben noch Gegner, nun mit leidli­cher Höflichkeit einander grüßten und die schon ge- fährlich gespannte Atmosphäre sich an ein paar leich­ten Scherzworten wieder auflockerte.

Obwohl unsere Diskussion schließlich in ritterlicher Weise ausgetragen schien, blieb von jener aufgereizten Erbitterung dennoch eine leichte Entfremdung zwischen meinen Widerpartnern und mir zurück. Das deutsche Ehepaar verhielt sich reserviert, während sich das ita­lienische darin gefiel, mich in den nächsten Tagen im­mer wieder spöttelnd zu fragen, ob ich etwas von der «cara signora Henrietta* gehört hätte. So urban unse­re Formen auch schienen, irgend etwas von der loya­len und unbetonten Geselligkeit unseres Tisches war doch unwiderruflich zerstört.

Um so auffälliger wurde für mich aber die ironische Kühle meiner damaligen Gegner durch die ganz be­sondere Freundlichkeit, die mir seit jener Diskussion Mrs. С. erwies. Sonst doch von äußerster Zurückhal­tung und kaum je außerhalb der Mahlzeiten zu einem Gespräch mit den Tischgenossen geneigt, fand sie nun mehreremal Gelegenheit, mich im Garten anzuspre­chen und — fast möchte ich sagen — auszuzeichnen, denn ihre vornehm zurückhaltende Art ließ ein priva­tes Gespräch schon als besondere Gunst erscheinen. Ja, um aufrichtig zu sein, muss ich berichten, dass sie mich geradezu suchte und jeden Anlass benützte, um mit mir ins Gespräch zu kommen, und dies in einer so unverkennbaren Weise, dass ich auf eitle und selt­same Gedanken hätte kommen können, wäre sie nicht eine alte weißhaarige Frau gewesen. Plauderten wir aber dann zusammen, so kehrte unsere Unterhaltung unvermeidlich und unablenkbar zu jenem Ausgangs­punkt zurück, zu Madame Henriette: es schien ihr ein ganz geheimnisvolles Vergnügen zu bereiten, die Pflichtvergessene einer seelischen Haltlosigkeit und Un-zuverlässigkeit zu beschuldigen. Aber gleichzeitig schien sie sich der Unerschütterlichkeit zu freuen, mit der meine Sympathien auf der Seite dieser zarten, feinen Frau verblieben, und dass nichts mich jemals bestim­men konnte, diese Sympathie zu verleugnen. Immer wieder lenkte sie unsere Gespräche in diese Richtung, schließlich wusste ich nicht mehr, was ich von dieser sonderbaren, beinahe spleenigen Beharrlichkeit den­ken sollte.


Das ging so einige Tage, fünf oder sechs, ohne dass sie mit einem Wort verraten hätte, warum diese Art des Gespräches für sie eine gewisse Wichtigkeit gewonnen hätte. Dass dem aber so war, wurde mir unverkennbar, als ich bei einem Spaziergang gelegentlich erwähnte, meine Zeit sei hier zu Ende und ich gedächte übermor­gen abzureisen. Da bekam ihr sonst so wellenloses Gesicht plötzlich einen merkwürdig gespannten Aus­druck, wie Wolkenschatten flog es über ihre meergrau­en Augen hin: «Wie schade! Ich hätte noch so viel mit Ihnen zu besprechen.» Und von diesem Augenblick an verriet eine gewisse Fahrigkeit und Unruhe, dass sie während ihrer Worte an etwas anderes dachte, das sie gewaltsam beschäftigte und ablenkte. Schließlich schien diese Abgelenktheit sie selbst zu stören, denn quer über ein plötzlich eingetretenes Schweigen hinweg bot sie mir unvermutet die Hand:

«Ich sehe, ich kann nicht klar aussprechen, was ich Ihnen eigentlich sagen möchte. Ich will Ihnen lieber schreiben.» Und rascheren Schrittes, als ich es sonst an ihr gewöhnt war, ging sie gegen das Haus zu.

Tatsächlich fand ich am Abend, knapp vor dem Diner, in meinem Zimmer einen Brief in ihrer energi­schen, offenen Handschrift. Nun bin ich leider mit den schriftlichen Dokumenten meiner Jugendjahre ziemlich leichtfertig umgegangen, so dass ich nicht den Wort­laut wiedergeben und nur das Tatsächliche ihrer Anfra­ge, ob sie mir aus ihrem Leben etwas erzählen dürfte, im ungefähren Inhalt andeuten kann. Jene Episode lie­ge so weit zurück, schrieb sie, dass sie eigentlich kaum mehr zu ihrem gegenwärtigen Leben gehöre, und dass ich übermorgen schon abreise, mache ihr leichter, über etwas zu sprechen, was sie seit mehr als zwanzig Jah­ren innerlich quäle und beschäftige. Falls ich also ein solches Gespräch nicht als Zudringlichkeit empfände, so würde sie mich gern um diese Stunde bitten.

Der Brief, von dem ich hier nur das rein Inhaltli­che aufzeichne, faszinierte mich ungemein: das Eng­lische allein gab ihm einen hohen Grad von Klarheit und Entschlossenheit Dennoch wurde mir die Antwort nicht ganz leicht, ich zerriss drei Entwürfe, ehe ich ant­wortete:

«Es ist mir eine Ehre, dass Sie mir so viel Ver­täuen schenken, und ich verspreche Ihnen, ehrlich zu antworten, falls Sie dies von mir fordern. Ich darf Sie natürlich nicht bitten, mir mehr zu erzählen, als Sie innerlich wollen. Aber was Sie erzählen, erzäh­len Sie sich und mir ganz wahr. Bitte, glauben Sie mir, dass ich Ihr Vertrauen als eine besondere Ehre empfinde.»

Der Zettel wanderte abends in ihr Zimmer, am näch­sten Morgen fand ich die Antwort

«Sie haben vollkommen Recht: die halbe Wahr­heit ist nichts wert, immer nur die ganze. Ich werde alle Kraft zusammennehmen, um nichts gegen mich selbst oder gegen Sie zu verschweigen. Kommen Sie nach dem Dinner in mein Zimmer — mit siebenund­sechzig Jahren habe ich keine Missdeutung zu furch­ten. Denn im Garten oder in der Nähe von Men­schen kann ich nicht sprechen. Sie dürfen mir glau­ben, es war nicht leicht, mich überhaupt zu ent­schließen.»


Bei Tag trafen wir uns noch bei Tisch und konver­sierten artig über gleichgültige Dinge. Aber im Garten schon wich sie, mir begegnend, mit sichtlicher Verwir­rung aus, und ich empfand es als peinlich und rührend zugleich, wie diese alte weißhaarige Dame mädchen­scheu in eine Pinienallee vor mir flüchtete.

Am Abend, zur vereinbarten Stunde, klopfte ich an, mir wurde sofort aufgetan: das Zimmer lag in einem matten Zwielicht nur die kleine Leselampe auf dem Tisch warf einen gelben Kegel in den sonst dämmer-haft dunklen Raum. Ganz ohne Befangen trat Mrs. С. auf mich zu, bot mir einen Fauteuil und setzte sich mir gegenüber: jede dieser Bewegungen, spürte ich, war innerlich bereitgestellt, aber doch kam eine Pause, offenbar wider ihren Willen, eine Pause des schweren Entschlusses, die lange und immer länger wurde, die ich aber nicht wagte mit einem Wort zu brechen, weil ich spürte, dass hier ein starker Wille gewaltsam mit ei­nem starken Widerstand rang. Vom Konversationszim­mer unten kreiselten manchmal matt die abgerissenen Töne eines Walzers herauf, ich hörte angespannt hin, gleichsam um dem Stillesein etwas von seinem last­enden Druck zu nehmen. Auch sie schien das unna­türlich Gespannte dieses Schweigens schon peinlich zu empfinden, denn plötzlich raffte sie sich zum Absprung und begann:

«Nur das erste Wort ist schwer. Ich habe mich seit zwei Tagen darauf vorbereitet, ganz klar und wahr zu sein: hoffentlich wird es mir gelingen, vielleicht verste­hen Sie jetzt noch nicht, dass ich Ihnen, einem Frem­den, all dies erzähle, aber es vergeht kein lag, kaum eine einzige Stunde, wo ich nicht an dieses bestimmte Geschehnis denke, und Sie können mir alter Frau glau­ben, dass es unerträglich ist, sein ganzes Leben lang auf einen einzigen Punkt seines Lebens zu starren, auf einen einzigen Tag. Denn alles, was ich Ihnen erzäh­len will, umspannt einen Zeitraum von bloß vierund­zwanzig Stunden innerhalb von siebenundsechzig Jah­ren, und ich habe mir selbst bis zum Irrsinn oft gesagt, was bedeutets, wenn man da einmal einen Augenblick unsinnig gehandelt hätte. Aber man wird das nicht los, was wir mit einem sehr unsicheren Ausdruck Gewis­sen nennen, und ich habe mir damals, als ich Sie so sachlich über den Fall Henriette reden hörte, gedacht, vielleicht würde dieses sinnlose Zurückdenken und unablässige Sich-selbst-Anklagen ein Ende haben, konnte ich mich einmal entschließen, vor irgendeinem Menschen frei über diesen einen Tag meines Lebens zu sprechen. Wäre ich nicht anglikanischer Konfessi­on, sondern Katholikin, so hätte mir längst die Beich­te Gelegenheit geboten, dies verschwiegene im Wort zu erlösen — aber diese Tröstung ist uns versagt, und so mache ich heute diesen sonderbaren Versuch, mich selbst freizusprechen, indem ich zu Ihnen spreche. Ich weiß, das alles ist sehr sonderbar, aber Sie sind ohne Zögern auf meinen Vorschlag eingegangen, und ich danke Ihnen dafür.