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Bernhard
Schlink
Der Vorleser
Roman ∙ Diogenes
Diogenes Taschenbuch 22953
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Scan & Layout: gnophilea
Korrektur: homebrew
Bernhard Schlink
Der Vorleser
Roman
Φ
Die Erstausgabe erschien 1995
im Diogenes Verlag
Umschlagillustration: Ernst Ludwig Kirchner,
›Nollendorfplatz‹, 1912 (Ausschnitt)
Copyright © by Dr. Wolfgang & Ingeborg
Henze-Kletterer, Wichtrach/Bern
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 1995
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN 3 257 22953 4
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Als ich fünfzehn war, hatte ich Gelbsucht. Die Krankheit
begann im Herbst und endete im Frühjahr. Je kälter und
dunkler das alte Jahr wurde, desto schwächer wurde ich.
Erst mit dem neuen Jahr ging es aufwärts. Der Januar
war warm, und meine Mutter richtete mir das Bett auf
dem Balkon. Ich sah den Himmel, die Sonne, die Wolken
und hörte die Kinder im Hof spielen. Eines frühen Abends
im Februar hörte ich eine Amsel singen.
Mein erster Weg führte mich von der Blumenstraße, in
der wir im zweiten Stock eines um die Jahrhundertwende
gebauten, wuchtigen Hauses wohnten, in die
Bahnhofstraße. Dort hatte ich mich an einem Montag
im Oktober auf dem Weg von der Schule nach
Hause übergeben. Schon seit Tagen war ich schwach
gewesen, so schwach wie noch nie in meinem Leben.
Jeder Schritt kostete mich Kraft. Wenn ich zu Hause
oder in der Schule Treppen stieg, trugen mich meine
Beine kaum. Ich mochte auch nicht essen. Selbst
wenn ich mich hungrig an den Tisch setzte, stellte
sich bald Widerwillen ein. Morgens wachte ich mit
trockenem Mund und dem Gefühl auf, meine Organe
lägen schwer und falsch in meinem Leib. Ich schämte
ERSTER TEIL
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mich, so schwach zu sein. Ich schämte mich besonders,
als ich mich übergab. Auch das war mir noch nie in
meinem Leben passiert. Mein Mund füllte sich, ich
versuchte, es hinunterzuschlucken, preßte die Lippen
aufeinander, die Hand vor den Mund, aber es brach aus
dem Mund und durch die Finger. Dann stützte ich mich
an die Hauswand, sah auf das Erbrochene zu meinen
Füßen und würgte hellen Schleim.
Die Frau, die sich meiner annahm, tat es fast grob. Sie
nahm meinen Arm und führte mich durch den dunklen
Hausgang in den Hof. Oben waren von Fenster zu Fenster
Leinen gespannt und hing Wäsche. Im Hof lagerte Holz;
in einer offenstehenden Werkstatt kreischte eine Säge
und flogen die Späne. Neben der Tür zum Hof war ein
Wasserhahn. Die Frau drehte den Hahn auf, wusch
zuerst meine Hand und klatschte mir dann das Wasser,
das sie in ihren hohlen Händen auffing, ins Gesicht. Ich
trocknete mein Gesicht mit dem Taschentuch.
»Nimm den anderen!« Neben dem Wasserhahn standen
zwei Eimer, sie griff einen und füllte ihn. Ich nahm und
füllte den anderen und folgte ihr durch den Gang. Sie
holte weit aus, das Wasser platschte auf den Gehweg und
schwemmte das Erbrochene in den Rinnstein. Sie nahm
mir den Eimer aus der Hand und schickte einen weiteren
Wasserschwall über den Gehweg.
Sie richtete sich auf und sah, daß ich weinte.
»Jungchen«, sagte sie verwundert, »Jungchen«. Sie nahm
mich in die Arme. Ich war kaum größer als sie, spürte ihre
Brüste an meiner Brust, roch in der Enge der Umarmung
meinen schlechten Atem und ihren frischen Schweiß und
wußte nicht, was ich mit meinen Armen machen sollte.
Ich hörte auf zu weinen.
Sie fragte mich, wo ich wohnte, stellte die Eimer in den
Gang und brachte mich nach Hause. Sie lief neben mir,
in der einen Hand meine Schultasche und die andere an
meinem Arm. Es ist nicht weit von der Bahnhofstraße
in die Blumenstraße. Sie ging schnell und mit einer
Entschlossenheit, die es mir leicht machte, Schritt zu
halten. Vor unserem Haus verabschiedete sie sich.
Am selben Tag holte meine Mutter den Arzt, der
Gelbsucht diagnostizierte. Irgendwann erzählte ich
meiner Mutter von der Frau. Ich glaube nicht, daß ich
sie sonst besucht hätte. Aber für meine Mutter war
selbstverständlich, daß ich, sobald ich könnte, von
meinem Taschengeld einen Blumenstrauß kaufen, mich
vorstellen und bedanken würde. So ging ich Ende Februar
in die Bahnhofstraße.
8 Das Haus in der Bahnhofstraße steht heute nicht mehr.
Ich weiß nicht, wann und warum es abgerissen wurde.
Über viele Jahre war ich nicht in meiner Heimatstadt. Das
neue Haus, in den siebziger oder achtziger Jahren gebaut,
hat fünf Stockwerke und einen ausgebauten Dachstock,
verzichtet auf Erker oder Balkone und ist glatt und hell
verputzt. Viele Klingeln zeigen viele kleine Apartments
an. Apartments, in die man einzieht und aus denen man
auszieht, wie man Mietwagen nimmt und abstellt. Im
Erdgeschoß ist derzeit ein Computerladen; davor waren
dort ein Drogeriemarkt, ein Lebensmittelmarkt und ein
Videoverleih.
Das alte Haus hatte bei gleicher Höhe vier Stockwerke, ein
Erdgeschoß aus diamantgeschliffenen Sandsteinquadern
und drei Geschosse darüber aus Backsteinmauerwerk mit
sandsteinernen Erkern, Balkonen und Fensterfassungen.
Zum Erdgeschoß und ins Treppenhaus führten ein paar
Stufen, unten breiter und oben schmaler, auf beiden
Seiten von Mauern gefaßt, die eiserne Geländer trugen
und unten schneckenförmig ausliefen. Die Tür war von
Säulen flankiert, und von den Ecken des Architravs
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blickte ein Löwe die Bahnhofstraße hinauf, einer sie
hinunter. Der Hauseingang, durch den die Frau mich
in den Hof zum Wasserhahn geführt hatte, war der
Nebeneingang.
Schon als kleiner junge hatte ich das Haus
wahrgenommen. Es dominierte die Häuserzeile. Ich
dachte, wenn es sich noch schwerer und breiter machen
würde, müßten die angrenzenden Häuser zur Seite rücken
und Platz machen. Innen stellte ich mir ein Treppenhaus
mit Stuck, Spiegeln und einem orientalisch gemusterten
Läufer vor, den blankpolierte Messingstangen auf den
Stufen hielten. Ich erwartete, daß in dem herrschaftlichen
Haus auch herrschaftliche Menschen wohnten. Aber da
das Haus von den Jahren und vom Rauch der Züge dunkel
geworden war, stellte ich mir auch die herrschaftlichen
Bewohner düster vor, wunderlich geworden, vielleicht
taub oder stumm, bucklig oder hinkend.
Immer wieder habe ich in späteren Jahren von dem
Haus geträumt. Die Träume waren ähnlich, Variationen
eines Traums und Themas. Ich gehe durch eine fremde
Stadt und sehe das Haus. In einem Stadtviertel, das
ich nicht kenne, steht es in einer Häuserzeile. Ich
gehe weiter, verwirrt, weil ich das Haus, aber nicht
das Stadtviertel kenne. Dann fällt mir ein, daß ich das
Haus schon gesehen habe. Dabei denke ich nicht an
die Bahnhofstraße in meiner Heimatstadt, sondern an
eine andere Stadt oder ein anderes Land. Ich bin im
Traum zum Beispiel in Rom, sehe da das Haus und
erinnere mich, es schon in Bern gesehen zu haben.
Mit dieser geträumten Erinnerung bin ich beruhigt;
das Haus in der anderen Umgebung wiederzuse10
hen, kommt mir nicht sonderbarer vor als das zufällige
Wiedersehen mit einem alten Freund in fremder
Umgebung. Ich kehre um, gehe zum Haus zurück und die
Stufen hinauf. Ich will eintreten. Ich drücke die Klinke.
Wenn ich das Haus auf dem Land sehe, dauert der
Traum länger, oder ich erinnere mich danach besser an
seine Details. Ich fahre im Auto. Ich sehe rechter Hand
das Haus und fahre weiter, zuerst nur darüber verwirrt,
daß ein Haus, das offensichtlich in einen städtischen
Straßenzug gehört, auf freiem Feld steht. Dann fällt mir
ein, daß ich es schon gesehen habe, und ich bin doppelt
verwirrt. Wenn ich mich erinnere, wo ich ihm schon
begegnet bin, wende ich und fahre zurück. Die Straße ist
im Traum stets leer, ich kann mit quietschenden Reifen
wenden und mit hoher Geschwindigkeit zurückfahren.
Ich habe Angst, zu spät zu kommen, und fahre schneller.
Dann sehe ich es. Es ist von Feldern umgeben, Raps,
Korn oder Wein in der Pfalz, Lavendel in der Provence.
Die Gegend ist flach, allenfalls leicht hügelig. Es gibt
keine Bäume. Der Tag ist ganz hell, die Sonne scheint,
die Luft flimmert, und die Straße glänzt vor Hitze.
Die Brandmauern lassen das Haus abgeschnitten,
unzulänglich aussehen. Es könnten die Brandmauern
irgendeines Hauses sein. Das Haus ist nicht düsterer als
in der Bahnhofstraße. Aber die Fenster sind ganz staubig
und lassen in den Räumen nichts erkennen, nicht einmal
Vorhänge. Das Haus ist blind.
Ich halte am Straßenrand und gehe über die Straße zum
Eingang. Niemand ist zu sehen, nichts zu hören, nicht
einmal ein ferner Motor, ein Wind, ein Vogel. Die Welt ist
tot. Ich gehe die Stufen hinauf und drücke die Klinke.
Aber ich öffne die Tür nicht. Ich wache auf und weiß
nur, daß ich die Klinke ergriffen und gedrückt habe. Dann
kommt mir der ganze Traum in Erinnerung und auch,
daß ich ihn schon geträumt habe.
12 Ich wußte den Namen der Frau nicht. Mit dem Blumenstrauß
in der Hand stand ich unschlüssig vor der Tür und
den Klingeln. Ich wäre lieber umgekehrt. Aber dann kam
ein Mann aus dem Haus, fragte, zu wem ich wolle, und
schickte mich zu Frau Schmitz im dritten Stock.
Kein Stuck, keine Spiegel, kein Läufer. Was das
Treppenhaus ursprünglich an bescheidener, der
Prächtigkeit der Fassade nicht vergleichbarer Schönheit
besessen haben mochte, war längst vergangen. Der
rote Anstrich der Stufen war in der Mitte abgetreten,
das geprägte grüne Linoleum, das neben der Treppe
schulterhoch an der Wand klebte, abgewetzt, und wo
im Geländer die Stäbe fehlten, waren Schnüre gespannt.
Es roch nach Putzmitteln. Vielleicht ist mir das alles
auch erst später aufgefallen. Es war immer gleich
schäbig und gleich sauber und gab immer den gleichen
Putzmittelgeruch, manchmal gemischt mit dem Geruch
nach Kohl oder Bohnen, nach Gebratenem oder nach
kochender Wäsche. Von den anderen Bewohnern des
Hauses lernte ich nie mehr kennen als diese Gerüche,
die Fußabtritte vor den Wohnungstüren und die
Namensschilder unter den Klingelknöpfen. Ich erinnere
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mich nicht, im Treppenhaus jemals einem anderen
Bewohner begegnet zu sein.
Ich erinnere mich auch nicht mehr, wie ich Frau
Schmitz begrüßt habe. Vermutlich hatte ich mir zwei, drei
Sätze über meine Krankheit, ihre Hilfe und meinen Dank
zurechtgelegt und habe sie aufgesagt. Sie hat mich in die
Küche geführt.
Die Küche war der größte Raum der Wohnung. In ihr
standen Herd und Spüle, Badewanne und Badeofen,
ein Tisch und zwei Stühle, ein Küchenschrank, ein
Kleiderschrank und eine Couch. Über die Couch war eine
rote Samtdecke gebreitet. Die Küche hatte kein Fenster.
Licht fiel durch die Scheiben der Tür, die auf den Balkon
führte. Nicht viel Licht – hell war die Küche nur, wenn die
Tür offenstand. Dann hörte man aus der Schreinerei im
Hof das Kreischen der Säge und roch das Holz.
Zur Wohnung gehörte noch ein kleines und enges
Wohnzimmer mit Anrichte, Tisch, vier Stühlen,
Ohrensessel und einem Ofen. Dieses Zimmer wurde im
Winter fast nie beheizt und auch im Sommer fast nie
benutzt. Das Fenster ging zur Bahnhofstraße und der
Blick auf das Gelände des ehemaligen Bahnhofs, das umund
umgewühlt wurde und auf dem hier und da schon
die Fundamente neuer Gerichts- und Behördengebäude
gelegt waren. Schließlich gehörte zur Wohnung noch ein
fensterloses Klo. Wenn es im Klo stank, stank es auch im
Gang.
Ich erinnere mich auch nicht mehr, was wir in der
Küche geredet haben. Frau Schmitz bügelte; sie hatte eine
Wolldecke und ein Leintuch über den Tisch gebreitet und
nahm ein Wäschestück nach dem anderen aus dem Korb,
bügelte es, faltete es und legte es auf den einen der beiden
Stühle. Auf dem anderen saß ich. Sie bügelte auch ihre
Unterwäsche, und ich wollte nicht hinschauen, konnte
aber auch nicht wegschauen. Sie trug eine ärmellose
Kittelschürze, blau mit kleinen, blassen, roten Blüten. Sie
hatte ihr schulterlanges, aschblondes Haar im Nacken mit
einer Spange gefaßt. Ihre nackten Arme waren blaß. Die
Handgriffe, mit denen sie das Bügeleisen aufnahm, führte
und absetzte und dann die Wäschestücke zusammen- und
weglegte, waren langsam und konzentriert, und ebenso
langsam und konzentriert bewegte sie sich, bückte sich
und richtete sich auf. Über ihr damaliges Gesicht haben
sich in meiner Erinnerung ihre späteren Gesichter gelegt.
Wenn ich sie vor meine Augen rufe, wie sie damals
war, dann stellt sie sich ohne Gesicht ein. Ich muß es
rekonstruieren. Hohe Stirn, hohe Backenknochen,
blaßblaue Augen, volle, ohne Einbuchtung gleichmäßig
geschwungene Lippen, kräftiges Kinn. Ein großflächiges,
herbes, frauliches Gesicht. Ich weiß, daß ich es schön
fand. Aber ich sehe seine Schönheit nicht vor mir.
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»Wart noch«, sagte sie, als ich aufstand und gehen wollte,
»ich muß auch los und komm ein Stück mit.«
Ich wartete im Flur. Sie zog sich in der Küche um. Die
Tür stand einen Spalt auf. Sie zog die Kittelschürze aus
und stand in hellgrünem Unterkleid. Über der Lehne des
Stuhls hingen zwei Strümpfe. Sie nahm einen und raffte
ihn mit wechselnd greifenden Händen zu einer Rolle.
Sie balancierte auf einem Bein, stützte auf dessen Knie
die Ferse des anderen Beins, beugte sich vor, führte den
gerollten Strumpf über die Fußspitze, setzte die Fußspitze
auf den Stuhl, streifte den Strumpf über Wade, Knie und
Schenkel, neigte sich zur Seite und befestigte den Strumpf
an den Strumpfbändern. Sie richtete sich auf, nahm den
Fuß vom Stuhl und griff nach dem anderen Strumpf.
Ich konnte die Augen nicht von ihr lassen. Von ihrem
Nacken und von ihren Schultern, von ihren Brüsten, die
das Unterkleid mehr umhüllte als verbarg, von ihrem
Po, an dem das Unterkleid spannte, als sie den Fuß auf
das Knie stützte und auf den Stuhl setzte, von ihrem
Bein, zuerst nackt und blaß und dann im Strumpf seidig
schimmernd.
16 Sie spürte meinen Blick. Sie hielt im Griff nach dem
anderen Strumpf inne, wandte sich zur Tür und sah mir in
die Augen. Ich weiß nicht, wie sie schaute – verwundert,
fragend, wissend, tadelnd. Ich wurde rot. Einen kurzen
Augenblick stand ich mit brennendem Gesicht. Dann
hielt ich es nicht mehr aus, stürzte aus der Wohnung,
rannte die Treppe hinunter und aus dem Haus.
Ich ging langsam. Bahnhofstraße, Häusserstraße,
Blumenstraße – seit Jahren war es mein Schulweg. Ich
kannte jedes Haus, jeden Garten und jeden Zaun, den, der
jedes Jahr frisch gestrichen wurde, den, dessen Holz so
grau und morsch geworden war, daß ich es mit der Hand
zerdrücken konnte, die eisernen Zäune, an deren Stäben
ich als Kind mit dem Stock klingend entlanggerannt bin,
und die hohe Backsteinmauer, hinter der ich Wunderbares
und Schreckliches phantasiert hatte, bis ich hochklettern
konnte und die langweiligen Reihen verwahrloster
Blumen-, Beeren- und Gemüsebeete sah. Ich kannte das
Kopfsteinpflaster und den Teerbelag auf der Straße und
die Wechsel zwischen Platten, wellenförmig gepflasterten
Basaltklötzchen, Teer und Schotter auf dem Gehweg.
Alles war mir vertraut. Als mein Herz nicht mehr
schneller klopfte und mein Gesicht nicht mehr brannte,
war die Begegnung zwischen Küche und Flur weit weg.
Ich ärgerte mich. Ich war wie ein Kind weggelaufen, statt
so souverän zu reagieren, wie ich es von mir erwartete.
Ich war nicht mehr neun, ich war fünfzehn. Allerdings
blieb mir ein Rätsel, was die souveräne Reaktion hätte
sein sollen.
Das andere Rätsel war die Begegnung zwischen Küche
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und Flur selbst. Warum hatte ich die Augen nicht von
ihr lassen können? Sie hatte einen sehr kräftigen und
sehr weiblichen Körper, üppiger als die Mädchen,
die mir gefielen und denen ich nachschaute. Ich war
sicher, daß sie mir nicht aufgefallen wäre, wenn ich
sie im Schwimmbad gesehen hätte. Sie hatte sich auch
nicht nackter gezeigt, als ich Mädchen und Frauen im
Schwimmbad schon gesehen hatte. Überdies war sie
viel älter als die Mädchen, von denen ich träumte. Über
dreißig? Man schätzt das Alter schwer, das man noch
nicht hinter sich hat oder auf sich zukommen sieht.
Jahre später kam ich drauf, daß ich nicht einfach
um ihrer Gestalt, sondern um ihrer Haltungen und
Bewegungen willen die Augen nicht von ihr hatte
lassen können. Ich bat meine Freundinnen, Strümpfe
anzuziehen, aber ich mochte meine Bitte nicht erklären,
das Rätsel der Begegnung zwischen Küche und Flur nicht
erzählen. So kam meine Bitte als Wunsch nach Strapsen
und Spitzen und erotischer Extravaganz an, und wenn
sie erfüllt wurde, geschah es in koketter Pose. Das war
es nicht, wovon ich meine Augen nicht hatte lassen
können. Sie hatte nicht posiert, nicht kokettiert. Ich
erinnere mich auch nicht, daß sie es sonst getan hätte.
Ich erinnere mich, daß ihr Körper, ihre Haltungen und
Bewegungen manchmal schwerfällig wirkten. Nicht daß
sie so schwer gewesen wäre. Vielmehr schien sie sich in
das Innere ihres Körpers zurückgezogen, diesen sich
selbst und seinem eigenen, von keinem Befehl des Kopfs
gestörten ruhigen Rhythmus überlassen und die äußere
Welt vergessen zu haben. Dieselbe Weltvergessenheit
lag in den Haltungen und Bewegungen, mit denen
sie die Strümpfe anzog. Aber hier war sie nicht
schwerfällig, sondern fließend, anmutig, verführerisch
– Verführung, die nicht Busen und Po und Bein ist,
sondern die Einladung, im Inneren des Körpers die Welt
zu vergessen.
Das wußte ich damals nicht – wenn ich es denn jetzt
weiß und mir nicht nur zusammenreime. Aber indem ich
damals darüber nachdachte, was mich so erregt hatte,
kehrte die Erregung wieder. Um das Rätsel zu lösen, rief
ich mir die Begegnung in Erinnerung, und die Distanz,
die ich mir geschaffen hatte, indem ich sie zum Rätsel
gemacht hatte, löste sich auf. Ich sah alles wieder vor mir
und konnte wieder die Augen nicht davon lassen.
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Eine Woche später stand ich wieder bei ihr vor der Tür.
Eine Woche lang hatte ich versucht, nicht an sie zu
denken. Aber da war nichts, was mich ausgefüllt und
abgelenkt hätte; der Arzt ließ noch nicht zu, daß ich die
Schule besuchte, der Bücher war ich nach Monaten des
Lesens überdrüssig, und die Freunde schauten zwar vorbei,
aber ich war schon so lange krank, daß ihre Besuche
die Brücke zwischen ihrem und meinem Alltag nicht mehr
schlagen konnten und immer kürzer wurden. Ich sollte
spazierengehen, jeden Tag ein bißchen weiter, ohne mich
anzustrengen. Die Anstrengung hätte ich gebraucht.
Was sind die Zeiten der Krankheit in Kindheit
und Jugend doch für verwunschene Zeiten! Die
Außenwelt, die Freizeitwelt in Hof oder Garten oder
auf der Straße dringt nur mit gedämpften Geräuschen
ins Krankenzimmer. Drinnen wuchert die Welt der
Geschichten und Gestalten, von denen der Kranke
liest. Das Fieber, das die Wahrnehmung schwächt
und die Phantasie schärft, macht das Krankenzimmer
zu einem neuen, zugleich vertrauten und fremden
Raum; Monster zeigen in den Mustern des Vorhangs
und der Tapete ihre Fratzen, und Stühle, Tische, Re20
gale und Schrank türmen sich zu Gebirgen, Gebäuden
oder Schiffen auf, zugleich zum Greifen nah und in
weiter Ferne. Durch lange Nachtstunden begleiten den
Kranken die Schläge der Kirchturmuhr, das Brummen
gelegentlich vorbeifahrender Autos und der Widerschein
ihrer Scheinwerfer, der über Wände und Decke tastet.
Es sind Stunden ohne Schlaf, aber keine schlaflosen
Stunden, nicht Stunden eines Mangels, sondern Stunden
der Fülle. Sehnsüchte, Erinnerungen, Ängste, Lüste
arrangieren Labyrinthe, in denen sich der Kranke verliert
und entdeckt und verliert. Es sind Stunden, in denen alles
möglich wird, Gutes wie Schlechtes.
Das läßt nach, wenn es dem Kranken besser geht. Hat
die Krankheit aber lange genug gedauert, dann ist das
Krankenzimmer imprägniert und noch der Genesende,
der kein Fieber mehr hat, in die Labyrinthe verloren.
Ich wachte jeden Morgen mit schlechtem Gewissen auf,
manchmal mit feuchter oder fleckiger Schlafanzughose.
Die Bilder und Szenen, die ich träumte, waren nicht
recht. Ich wußte, die Mutter, der Pfarrer, der mich als
Konfirmanden unterwiesen hatte und den ich verehrte,
und die große Schwester, der ich die Geheimnisse meiner
Kindheit anvertraut hatte, würden mich zwar nicht
schelten. Aber sie würden mich in einer liebevollen,
besorgten Weise ermahnen, die schlimmer als Schelte
war. Besonders unrecht war, daß ich die Bilder und
Szenen, wenn ich sie nicht passiv träumte, aktiv
phantasierte.
Ich weiß nicht, woher ich die Courage nahm, zu Frau
Schmitz zu gehen. Kehrte sich die moralische Erziehung
gewissermaßen gegen sich selbst? Wenn der begehrliche
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Blick so schlimm war wie die Befriedigung der Begierde,
das aktive Phantasieren so schlimm wie der phantasierte
Akt – warum dann nicht die Befriedigung und den Akt? Ich
erfuhr Tag um Tag, daß ich die sündigen Gedanken nicht
lassen konnte. Dann wollte ich auch die sündige Tat.
Es gab eine weitere Überlegung. Hinzugehen mochte
gefährlich sein. Aber eigentlich war unmöglich, daß
die Gefahr sich realisierte. Frau Schmitz würde mich
verwundert begrüßen, eine Entschuldigung für mein
sonderbares Verhalten anhören und mich freundlich
verabschieden. Gefährlicher war, nicht hinzugehen; ich
lief Gefahr, von meinen Phantasien nicht loszukommen.
Also tat ich das Richtige, wenn ich hinging. Sie würde sich
normal verhalten, ich würde mich normal verhalten, und
alles würde wieder normal sein.
So habe ich damals vernünftelt, aus meiner Begierde
den Posten eines seltsamen moralischen Kalküls gemacht
und mein schlechtes Gewissen zum Schweigen
gebracht. Aber das gab mir nicht die Courage, zu Frau
Schmitz zu gehen. Mir zurechtlegen, warum meine
Mutter, der verehrte Pfarrer und meine große Schwester,
wenn sie gründlich nachdächten, mich nicht abhalten
dürften, sondern auffordern müßten, zu ihr zu
gehen, war das eine. Tatsächlich zu ihr zu gehen, war
etwas völlig anderes. Ich weiß nicht, warum ich es tat.
Aber ich erkenne heute im damaligen Geschehen das
Muster, nach dem sich mein Leben lang Denken und
Handeln zueinander gefügt oder nicht zueinander
gefügt haben. Ich denke, komme zu einem Ergebnis,
halte das Ergebnis in einer Entscheidung fest und
erfahre, daß das Handeln eine Sache für sich ist und der
Entscheidung folgen kann, aber nicht folgen muß. Oft
genug habe ich im Lauf meines Lebens getan, wofür
ich mich nicht entschieden hatte, und nicht getan,
wofür ich mich entschieden hatte. Es, was immer es
sein mag, handelt; es fährt zu der Frau, die ich nicht
mehr sehen will, macht gegenüber dem Vorgesetzten
die Bemerkung, mit der ich mich um Kopf und Kragen
rede, raucht weiter, obwohl ich mich entschlossen habe,
das Rauchen aufzugeben, und gibt das Rauchen auf,
nachdem ich eingesehen habe, daß ich Raucher bin
und bleiben werde. Ich meine nicht, daß Denken und
Entscheiden keinen Einfluß auf das Handeln hätten. Aber
das Handeln vollzieht nicht einfach, was davor gedacht
und entschieden wurde. Es hat seine eigene Quelle und
ist auf ebenso eigenständige Weise mein Handeln, wie
mein Denken mein Denken ist und mein Entscheiden
mein Entscheiden.
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Sie war nicht zu Hause. Die Eingangstür des Hauses
war angelehnt, ich stieg die Treppe hoch, klingelte und
wartete. Ich klingelte noch mal. In der Wohnung standen
die Türen auf, ich sah es durch das Glas der Eingangstür
und erkannte im Flur den Spiegel, die Garderobe und die
Uhr. Ich konnte sie ticken hören.
Ich setzte mich auf die Stufen und wartete. Ich war nicht
erleichtert, wie es einem gehen kann, wenn man bei einem
Entschluß ein flaues Gefühl und vor den Konsequenzen
Angst hat und froh ist, den Entschluß ausgeführt zu
haben und von den Konsequenzen verschont zu bleiben.
Ich war auch nicht enttäuscht. Ich war entschlossen, sie
zu sehen und zu warten, bis sie käme.
Die Uhr im Flur schlug zur Viertel-, halben und vollen
Stunde. Ich versuchte, dem leisen Ticken zu folgen und die
neunhundert Sekunden vom einen Schlagen zum nächsten
mitzuzählen, ließ mich aber immer wieder ablenken. Im
Hof kreischte die Säge des Schreiners, im Haus drangen
aus einer Wohnung Stimmen oder Musik, ging eine Tür.
Dann hörte ich, wie jemand gleichmäßigen, langsamen,
schweren Schritts die Treppe hinaufkam. Ich hoffte, er
24 würde im zweiten Stock wohnen. Wenn er mich sähe
– wie sollte ich erklären, was ich hier machte? Aber
die Schritte hielten auf dem zweiten Stock nicht an. Sie
stiegen weiter. Ich stand auf.
Es war Frau Schmitz. In der einen Hand trug sie eine
Koksschütte, in der anderen einen Brikettbehälter. Sie
hatte eine Uniform an, Jacke und Rock, und ich erkannte,
daß sie Straßenbahnschaffnerin war. Sie bemerkte mich
nicht, bis sie den Treppenabsatz erreicht hatte. Sie schaute
nicht verärgert, nicht verwundert, nicht spöttisch – nichts
von dem, was ich befürchtet hatte. Sie sah müde aus. Als
sie die Kohlen abgestellt hatte und in der Jackentasche
nach dem Schlüssel suchte, klirrten Münzen auf dem
Boden. Ich hob sie auf und gab sie ihr.
»Unten im Keller stehen noch zwei Schütten. Machst
du sie voll und bringst sie hoch? Die Tür ist auf.«
Ich rannte die Treppen hinunter. Die Tür zum
Kellergeschoß stand auf, das Kellerlicht war an,
und am Fuß der langen Kellertreppe fand ich einen
Bretterverschlag, bei dem die Tür nur angelehnt war
und das offene Ringschloß am Riegel hing. Der Raum
war groß, und der Koks häufte sich bis zur Luke unter
der Decke, durch die er von der Straße in den Keller
geschüttet worden war. Neben der Tür waren auf der
einen Seite die Briketts ordentlich geschichtet und
standen auf der anderen die Koksschütten.
Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe. Zu Hause
holte ich auch Kohlen aus dem Keller und hatte damit nie
Probleme. Allerdings lagerte der Koks zu Hause nicht so
hoch gehäuft. Das Füllen der ersten Schütte ging gut. Als
ich auch die zweite Schütte an den Griffen packte und den