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Добавлен: 22.12.2020

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Keine Unterschrift auf dem zerknüllten Papier, das von irgendeinem alten Prospekt abgefetzt war... hastige, ver­worrene Bleistiftzüge einer sonst sicheren Schrift... ich weiß nicht, warum mich das Blatt so erschütterte... Irgend etwas von Grauen, von Geheimnis haftete ihm an, es war wie auf einer Flucht geschrieben, stehend an einer Fensternische oder in einem fahrenden Wagen... Etwas Unbeschreibliches von Angst, von Hast, von Entsetzen schlug mir kalt von diesem heimlichen Zettel in die Seele... und doch... und doch, ich war glücklich: sie hatte mir geschrieben, ich mußte noch nicht ster­ben, ich durfte ihr helfen... vielleicht... ich durfte... oh, ich verlor mich ganz in den wahnwitzigsten Konjekturen und Hoff­nungen... Hundertmal, tausendmal habe ich den kleinen Zet­tel gelesen, ihn geküßt... ihn durchforscht nach irgendeinem vergessenen, übersehenen Wort... immer tiefer, immer ver­worrener wurde meine Träumerei, ein phantastischer Zustand von Schlaf mit offenen Augen... eine Art Lähmung, irgend et­was ganz Dumpfes und doch Bewegtes zwischen Schlaf und Wachsein, das vielleicht Viertelstunden dauerte, vielleicht Stun­den...

Plötzlich schrak ich jäh auf... Hatte es nicht geklopft?.. Ich hielt den Atem an... eine Minute, zwei Minuten reglose Stil­le... Und dann wieder ganz leise, so wie eine Maus knabbert, ein leises, aber heftiges Pochen... Ich sprang auf, noch ganz taumelig, riß die Tür auf — draußen stand der Boy, ihr Boy, derselbe, dem ich den Mund damals mit der Faust zerschla­gen... sein braunes Gesicht war aschfahl, sein verwirrter Blick kündete Unglück... Sofort spürte ich Grauen... ,Was... was ist geschehen?* konnte ich noch stammeln. ,Come quickly', sagte er... sonst nichts... Sofort raste ich die Treppe hinun­ter, er mir nach... Ein Sado, so ein kleiner Wagen, stand be-reit,'wir stiegen ein... ,Was ist geschehen?' fragte ich ihn... Er­sah mich zitternd an und schwieg mit verbissenen Lippen... Ich fragte nochmals — er schwieg und schwieg... Ich hatte ihm am liebsten wieder ins Gesicht geschlagen mit der Faust, aber... gerade seine hündische Treue zu ihr rührte mich... so fragte ich nicht mehr... Das Wägelchen trabte so-hastig durch das Gewirr, daß die Menschen fluchend auseinanderstoben, lief aus dem Europäerviertel am Strand in die niedere Stadt und weiter, weiter ins schreiende Gewirr der Chinesenstadt... Endlich kamen wir in eine enge Gasse, ganz abseits lag sie... vor einem niedrigen Hause hielt er an... Es war schmutzig und wie in sich zusammengekrochen, vorne ein kleiner Laden mit einem Talglicht... irgendeine dieser Buden, in die sich die Opiumhäuser oder Bordelle verstecken, ein Diebsnest oder ein Hehlerkeller... Hastig klopfte der Boy an... Hinter dem Türspalt zischelte eine Stimme, fragte und fragte... Ich konn­te es nicht mehr ertragen, sprang vom Sitz, stieß die ange­lehnte Tür auf... ein altes chinesisches Weib flüchtete mit ei­nem Schrei zurück... hinter mir kam der Boy, führte mich durch den Gang... klinkte eine andere Tür auf... eine andere Türe in einen dunklen Raum, der übel roch von Branntwein und gestocktem Blut... Irgend etwas stöhnte darin... ich tappte hin..."

Wieder stockte die Stimme. Und was dann ausbrach, war mehr ein Schluchzen als ein Sprechen.

Ich... ich tappte hin... und dort... dort lag auf einer schmutzigen Matte... verkrümmt vor Schmerz... ein stöhnen­des Stück Mensch... dort lag sie...

Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen im Dunkel... Meine Au­gen waren noch nicht gewöhnt... so tastete ich nur hin... ihre Hand... heiß... brennend heiß... Fieber, hohes Fieber... und ich schauerte... ich wußte sofort alles... sie war hierher ge­flüchtet vor mir... hatte sich verstümmeln lassen von irgend­einer schmutzigen Chinesin, nur weil sie hier mehr Schweig­samkeit erhoffte... hatte sich morden lassen von irgendeiner teuflischen Hexe, lieber, als mir zu vertrauen... nur weil ich Wahnsinniger... weil ich ihren Stolz nicht geschont, ihr nicht gleich geholfen hatte... weil sie den Tod weniger fürchtete als mich.;.

Ich schrie nach Licht. Der Boy sprang: die abscheuliche Chinesin brachte mit zitternden Händen eine rußende Petro­leumlampe... ich mußte mich halten, um der gelben Kanaille nicht an die Gurgel zu springen... sie stellten die Lampe auf den Tisch... der Lichtschein fiel gelb und hell über den gemar­terten Leib... Und plötzlich... plötzlich war alles weg von mir, alle Dumpfheit, aller Zorn, all diese unreine Jauche von auf­gehäufter Leidenschaft... Ich war nur noch Arzt, helfender, spürender, wissender Mensch... ich hatte mich vergessen... ich kämpfte mit wachen, klaren Sinnen gegen das Entsetzli­che... Ich fühlte den nackten Leib, den ich in meinen Träumen begehrt, nur noch als... wie soll ich es sagen... als Materie, als Organismus... Ich spürte nicht mehr sie, sondern nur das Le­ben, das sich gegen den Tod wehrte, den Menschen, der sich krümmte in mörderischer Qual... Ihr Blut, ihr heißes, heiliges Blut überströmte meine Hände, aber ich spürte es nicht in Lust und nicht in Grauen... ich war nur Arzt... ich sah nur das Leiden... und sah...


Und sah sofort,, daß alles verloren war, wenn nicht ein Wunder geschähe... Sie war verletzt und halb verblutet unter der verbrecherisch ungeschickten Hand... und ich hatte nichts, um das Blut zu stillen in dieser stinkenden Höhle, nicht einmal reines Wasser... alles, was ich anrührte, starrte von Schmutz...

,Wir müssen sofort ins Spital, sagte ich. Aber kaum daß ich's gesagt, bäumte sich krampfig der gemarterte Leib auf. ,Nein... nein... lieber sterben... niemand es erfahren... nie­mand es erfahren... nach Hause... nach Hause...'

Ich verstand... nur noch um das Geheimnis, um ihre Ehre rang sie... nicht um ihr Leben... Und — ich gehorchte... Der Boy brachte eine Sänfte... wir betteten sie hinein.., und so... wie eine Leiche schon, matt und fiebernd... trugen wir sie durch die Nacht... nach Hause... die fragende, erschrockene Die­nerschaft abwehrend... wie Diebe trugen wir sie hinein in ihr Zimmer und sperrten die Türen... und dann... dann begann der Kampf, der lange Kampf gegen den Tod..."


Plötzlich krampfte sich eine Hand in meinen Arm, daß ich fast aufschrie vor Schreck und Schmerz. Im Dunkeln war mir das Gesicht mit einem Male fratzenhaft nah, ich sah die weißen Zähne, wie sie sich bleckten in plötzlichem Ausbruch, sah die Augengläser im fahlen Reflex des Mondlichts wie zwei riesige Katzenaugen glimmen. Und jetzt sprach er nicht mehr — er schrie, geschüttelt von einem heulenden Zorn:

Wissen Sie denn, Sie fremder Mensch, der Sie hier lässig auf einem Deckstuhl sitzen, ein Spazierfahrer durch die Welt, wissen Sie, wie das ist, wenn ein Mensch stirbt? Sind Sie schon einmal dabeigewesen, haben Sie es gesehen, wie der Leib sich aufkrümmt, die blauen Nägel ins Leere krallen, wie die Kehle röchelt, jedes Glied sich wehrt, jeder Finger sich stemmt ge­gen das Entsetzliche, und wie das Auge aufspringt in einem Grauen, für das es keine Worte gibt? Haben Sie das schon einmal erlebt, Sie Müßiggänger, Sie Weltfahrer, Sie, der Sie vom Helfen reden als von einer Pflicht? Ich habe es als Arzt oft gesehen, habe es gesehen als... als klinischen Fall, als Tat­sache... habe es sozusagen studiert — aber erlebt habe ich's nur einmal, miterlebt, mitgestorben bin ich nur damals in je­ner Nacht... in jener entsetzlichen Nacht, da ich saß und mir das Hirn zerpreßte, um etwas zu wissen, etwas zu finden, zu erfinden gegen das Blut, das rann und rann und rann, gegen das Fieber, das sie vor meinen Augen verbrannte... gegen den Tod, der immer näher kam und den ich nicht wegdrängen konn­te vom Bett. Verstehen Sie, was das heißt, Arzt zu sein, alles zu wissen gegen alle Krankheiten — die Pflicht zu haben, zu helfen, wie Sie so weise sagen — und doch ohnmächtig bei ei­ner Sterbenden zu sitzen, wissend und doch ohne Macht... nur dies eine, dies Entsetzliche wissend, daß man nicht helfen kann, ob man sich auch jede Ader in seinem Körper aufreißen möch­te... einen geliebten Körper zu sehen, wie er elend verblutet, gemartert von Schmerzen, einen Puls zu fühlen, der fliegt und zugleich verlischt... der einem wegfließt unter den Fingern... Arzt zu sein und nichts zu wissen, nichts, nichts, nichts... nur dazusitzen und irgendein Gebet zu stammeln wie ein Hutzelweib in der Kirche und dann wieder die Fäuste zu ballen gegen ei­nen erbärmlichen Gott, von dem man weiß, daß es ihn nicht gibt... Verstehen Sie das? Verstehen Sie das?.. Ich... ich ver­stehe nur eines nicht, wie... wie man es macht, daß man nicht mitstirbt in solchen Sekunden... daß man dann noch am näch­sten Morgen von einem Schlaf aufsteht und sich die Zähne putzt und eine Krawatte umbindet... daß man noch leben kann, wenn man das miterlebte, was ich fühlte, wie dieser Atem, dieser erste Mensch, um den ich rang und kämpfte, den ich halten wollte mit allen Kräften meiner Seele... wie der wegglitt unter mir... irgendwohin, immer rascher wegglitt, Minute um Minu­te, und ich nichts wußte in meinem fiebernden Gehirn, um die­sen, diesen einen Menschen festzuhalten...

Und dazu, um teuflisch noch meine Qual zu verdoppeln, dazu noch dies... Während ich an ihrem Bett saß — ich hätte ihr Morphium eingegeben, um die Schmerzen zu lindern, und sah sie liegen, mit heißen Wangen, heiß und fahl — ja... wäh­rend ich so saß, spürte ich vom Rücken her immer zwei Augen auf mich gerichtet mit einem fürchterlichen Ausdruck der Span­nung... Der Boy saß dort auf den Boden gekauert und mur­melte leise irgendwelche Gebete... Wenn mein Blick den sei­nen traf, so... nein, ich kann es nicht schildern... so kam et­was so Flehendes, so... so Dankbares in seinen hündischen Blick, und gleichzeitig hob er die Hände zu mir, als wolle er mich beschwören, sie zu retten... verstehen Sie: zu mir, zu mir hob er die Hände wie zu einem Gott... zu mir... dem ohn­mächtigen Schwächling, der wußte, daß alles verloren... daß ich hier so unnötig sei wie eine Ameise, die am Boden raschelt... Ah, dieser Blick, wie er mich quälte, diese fanatische, diese tierische Hoffnung auf meine Kunst... ich hätte ihn anschrei­en können und mit dem Fuß treten, so weh tat er mir... Und doch, ich spürte, wie wir beide zusammenhingen durch unsere Liebe zu ihr... durch das Geheimnis... Ein lauerndes Tier, ein dumpfes Knäuel, saß er zusammengeballt knapp hinter mir... kaum daß ich etwas verlangte, sprang er auf mit seinen nack­ten lautlosen Sohlen und reichte es zitternd... erwartungsvoll her, als sei das die Hilfe... die Rettung... Ich weiß, er hatte sich die Adern aufgeschnitten, um ihr zu helfen... so war diese Frau, solche Macht hatte sie über Menschen... und ich... ich hatte nicht Macht, ein Quentchen Blut zu retten... 0 diese Nacht, diese entsetzliche Nacht, diese unendliche Nacht zwi­schen Leben und Tod!


Gegen Morgen ward sie noch einmal wach... sie schlug die Augen auf... jetzt waren sie nicht mehr hochmütig und kalt... ein Fieber glitzerte feucht darin, als sie, gleichsam fremd, das Zimmer abtasteten... Dann sah sie mich an: sie schien nach­zudenken, sich erinnern zu wollen an mein Gesicht... und plötz­lich... ich sah es... erinnerte sie sich... denn irgendein Schreck, eine Abwehr... etwas... etwas Feindliches, Entsetztes spannte ihr Gesicht... sie arbeitete mit den Armen, als wollte sie flüch­ten... weg, weg, weg von mir... ich sah, sie dachte an das... an die Stunde von damals... Aber dann kam ein Besinnen... sie sah mich ruhiger an, atmete schwer... ich fühlte, sie wollte sprechen, etwas sagen... Wieder begannen die Hände sich zu spannen... sie wollte sich aufheben, aber sie war zu schwach... Ich beruhigte sie, beugte mich nieder... da sah sie mich an mit einem langen, gequälten Blick... ihre Lippen regten sich lei­se... es war nur ein letzter erlöschender Laut, als sie sagte...

,Wird es niemand erfahren?... Niemand?'

Niemand', sagte ich mit aller Kraft der Überzeugung, ,ich verspreche es Ihnen.'

Aber ihr Auge war noch unruhig... Mit fiebriger Lippe, ganz undeutlich arbeitete sie's heraus. ,Schwören Sie mir... niemand erfahren... schwören! 'Ich hob die Finger wie zum Eid. Sie sah mich an... mit einem... einem unbeschreiblichen Blick... weich war er, warm, dankbar... ja, wirklich, wirklich dankbar... Sie wollte noch etwas sprechen, aber es ward ihr zu schwer. Lang lag sie, ganz matt von der Anstrengung, mit geschlossenen Augen. Dann begann das Entsetzliche... das Entsetzliche... eine ganze schwere Stunde kämpfte sie noch: erst morgens war es zu Ende..."


Er schwieg lange. Ich merkte es nicht eher, als vom Mittel­deck die Glocke in die Stille schlug, ein, zwei, drei harte Schlä­ge — drei Uhr. Das Mondlicht war matter geworden, aber irgendeine andere gelbe Helle zitterte schon unsicher in der Luft, und Wind flog manchmal leicht wie eine Brise her. Eine halbe Stunde, eine noch, und dann war es Tag, war dies Grau­en ausgelöscht im klaren Licht. Ich sah seine Züge jetzt deutli­cher, da die Schatten nicht mehr so dicht und schwarz in un-sern Winkel fielen — er hatte die Kappe abgenommen, und unter dem blanken Schädel schien sein verquältes Gesicht noch schreckhafter. Aber schon wandten sich die glitzernden Bril­lengläser wieder'mir zu, er straffte sich zusammen, und seine Stimme hatte einen höhnischen, scharfen Ton.

Mit ihr war's nun zu Ende — aber nicht mit mir. Ich war allein mit der Leiche — aber allein in einem fremden Haus, allein in einer Stadt, die kein Geheimnis duldete, und ich... ich hatte das Geheimnis zu hüten... Ja, denken Sie sich das nur aus, die ganze Situation: eine Frau aus der besten Gesellschaft der Kolonie, vollkommen gesund, die noch abends zuvor auf dem Regierungsball getanzt hat, liegt plötzlich tot in ihrem Bett... ein fremder Arzt ist bei ihr, den angeblich ihr Diener gerufen... niemand im Haus hat gesehen, wann und woher er kam... man hat sie nachts auf einer Sänfte hereingetragen und dann die Türe geschlossen... und morgens ist sie tot... dann erst hat man die Diener gerufen, und plötzlich gellt das Haus von Geschrei... im Nu wissen es die Nachbarn, die ganze Stadt... und nur einer ist da, der das alles erklären soll... ich, der fremde Mensch, der Arzt aus einer entlegenen Station... Eine erfreuliche Situation, nicht wahr?...

Ich wußte, was mir bevorstand. Glücklicherweise war der Boy bei mir, der brave Bursche, der mir jeden Wink von den Augen ablas — auch dieses gelbe dumpfe Tier verstand, daß hier noch ein Kampf ausgetragen werden müsse. Ich hatte ihm nur gesagt: ,Die Frau will, daß niemand erfährt, was gesche­hen ist.' Er sah mir in die Augen mit seinem hündisch feuchten und doch entschlossenen Blick: ,Yes, Sir' mehr sagte er nicht. Aber er wusch die Blutspuren vom Boden, richtete alles in beste Ordnung—und gerade seine Entschlossenheit gab mir die meine wieder.

Nie im Leben, das weiß ich, habe ich eine ähnlich zusam­mengeballte Energie gehabt, nie werde ich sie wieder haben. Wenn man alles verloren hat, dann kämpft man um das Letz­te wie ein Verzweifelter — und das Letzte war ihr Vermächt­nis, das Geheimnis. Ich empfing voll Ruhe die Leute, erzählte ihnen allen die gleiche erdichtete Geschichte, wie der Boy, den sie nach dem Arzt gesandt hatte, mich zufällig auf dem Wege traf. Aber während ich scheinbar ruhig redete, wartete... war­tete ich immer auf das Entscheidende... auf den Toten­beschauer, der erst kommen mußte, ehe wir sie in den Sarg verschließen konnten und das Geheimnis mit ihr... Es war, vergessen Sie nicht, Donnerstag, und Samstag kam ihr Gat­te...

Um neun Uhr hörte ich endlich, wie man den Amtsarzt anmeldete. Ich hatte ihn rufen lassen—er war mein Vorge­setzter im Rang und gleichzeitig mein Konkurrent, derselbe Arzt, von dem sie seinerzeit so verächtlich gesprochen und der offenbar meinen Wunsch nach Versetzung bereits erfah­ren hatte. Bei seinem ersten Blick spürte "ich's schon: er war mir feind. Aber gerade das straffte meine Kraft.


Im Vorzimmer fragte er schon: ,Wann ist Frau...' — er nannte ihren Namen — ,estorben?'

,Um sechs Uhr morgens.'

,Wann sandte sie zu Ihnen?'

Jim elf Uhr abends.'

,Wußten Sie, daß ich ihr Arzt war?'

,Ja, aber es tat Eile not... und dann... die Verstorbene hatte ausdrücklich mich verlangt. Sie hatte verboten, einen andern Arzt rufen zu lassen.'

Er starrte mich an: in seinem bleichen, etwas verfette-ten Gesicht flog eine Röte hoch, ich spürte, daß er erbittert war. Aber gerade das brauchte ich — alle meine Energien dräng­ten sich zu rascher Entscheidung, denn ich spürte, lange hiel­ten es meine Nerven nicht mehr aus. Er wollte etwas Feindli­ches erwidern, dann sagte er lässig: ,Wenn Sie schon meinen, mich entbehren zu können, so ist es doch meine amtliche Pflicht, den Tod zu konstatieren und... wie er eingetreten ist.'

Ich antwortete nicht und ließ ihn vorangehen. Dann trat ich zurück, schloß die Tür und legte den Schlüssel auf den Tisch. Überrascht zog er die Augenbrauen hoch: ,Was bedeutet das?'

Ich stellte mich ihm ruhig gegenüber:

,Es handelt sieh hier nicht darum, die Todesursache fest­zustellen, sondern — eine andere zu finden. Diese Frau hat mich gerufen, um sie nach... nach den Folgen eines verunglückten

Eingriffes zu behandeln... ich konnte sie nicht mehr retten, aber ich habe ihr versprochen, ihre Ehre zu retten, und das werde ich tun. Und ich bitte Sie darum, mir zu helfen!'

Seine Augen waren ganz weit geworden vor Erstaunen. ,Sie wollen doch nicht etwa sagen', stammelte er dann, ,daß ich, der Amtsarzt, hier ein Verbrechen decken soll?'

Ja, das will ich, das muß ich wollen.'

,Für Ihr Verbrechen soll ich...'

Ich habe Ihnen gesagt, daß ich diese Frauinicht berührt habe, sonst... sonst stünde ich nicht vor Ihnen, sonst hätte ich längst mit mir Schluß gemacht. Sie hat ihr Vergehen — wenn Sie es so nennen wollen — gebüßt, die Welt braucht davon nichts zu wissen. Und ich werde es nicht dulden, daß die Ehre dieser Frau jetzt noch unnötig beschmutzt wird.'

Mein entschlossener Ton reizte ihn nur noch mehr auf;

,Sie werden nicht dulden... so... nun, Sie sind ja mein Vor­gesetzter... oder glauben es wenigstens schon zu sein... Versu­chen Sie nur, mir zu befehlen... ich habe mir's gleich gedacht, da ist Schmutziges im Spiel, wenn man Sie aus Ihrem Winkel herruft... eine saubere Praxis, die Sie da anfangen, ein saube­res Probesück... Aber jetzt werde ich untersuchen, ich, und Sie können sich darauf verlassen, daß ein Protokoll, unter dem mein Name steht, richtig sein wird. Ich werde keine Lüge unterschreiben.'

Ich war ganz ruhig.

,Ja — das müssen Sie diesmal doch. Denn früher werden Sie das Zimmer nicht verlassen.'

Ich griff dabei in die Tasche — meinen Revolver hatte ich nicht bei mir. Aber er zuckte zusammen. Ich trat einen Schritt auf ihn zu und sah ihn an.

,Hören Sie, ich werde Ihnen etwas sagen... damit es nicht zum Äußersten kommt. Mir liegt an meinem Leben nichts... nichts an dem eines andern — ich bin nun schon einmal soweit... mir liegt einzig daran, mein Versprechen einzulösen, daß die Art dieses Todes geheim bleibt... Hören Sie: ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß, wenn Sie das Zer­tifikat unterfertigen, diese Frau sei an... nun, an einer Zu­fälligkeit gestorben, daß ich dann noch im Laufe dieser Woche die Stadt und Indien verlasse... daß ich, wenn Sie es verlangen, meinen Revolver nehme und mich niederschieße, sobald der Sarg in der Erde ist und ich sicher sein kann, daß niemand... Sie verstehen: niemand — mehr nachfor­schen kann. Das wird Ihnen wohl genügen — das muß Ih­nen genügen.'

Es muß etwas Drohendes, etwas Gefährliches in meiner Stimme gewesen sein, denn als ich unwillkürlich nähertrat, wich er zurück mit jenem aufgerissenen Entsetzen, wie... wie eben Menschen vor dem Amokläufer flüchten, wenn er rasend hin­rennt mit geschwungenem Kris... Und mit einem Male war er anders... irgendwie geduckt und gelähmt... seine harte Hal­tung brach zusammen. Er murmelte mit einem letzten ganz weichen Widerstand: ,Es wäre das erste Mal in meinem Le­ben, daß ich ein falsches Zertifikat unterzeichnete... immer­hin, es wird sich schon eine Form finden lassen... man weiß ja auch, was vorkommt... Aber ich durfte doch nicht so ohne weiteres...'

,Gewiß durften Sie nicht', half ich ihm, um ihn zu bestär­ken — (,Nur rasch! nur rasch!' tickte es mir in den Schläfen) —, ,aber jetzt, da Sie wissen, daß Sie nur einen Lebenden kränkten und einer Toten ein Entsetzliches täten, werden Sie doch gewiß nicht zögern.'

Er nickte. Wir traten zum Tisch. Nach einigen Minuten war das Attest fertig (das dann auch in der Zeitung veröffent­licht wurde und glaubhaft eine Herzlähmung schilderte). Dann stand er auf, sah mich an:

,Sie reisen noch diese Woche, nicht wahr?'

,Mein Ehrenwort.'

Er sah mich wieder an. Ich merkte, er wollte streng, woll­te sachlich erscheinen. ,Ich besorge sofort einen Sarg,' sagte er, um seine Verlegenheit zu decken. Aber was war das in mir, das mich so... so furchtbar... so gequält machte — plötzlich streckte er mir die Hand hin und schüttelte sie mit einer auf­springenden Herzlichkeit. ,Überstehen Sie's gut', sagte er — ich wußte nicht, was er meinte. War ich krank? War ich... wahnsinnig? Ich begleitete ihn zur Tür, schloß auf — aber das war meine letzte Kraft, die hinter ihm die Tür schloß. Dann kam dies Ticken wieder in die Schläfen, alles schwankte und kreiste: und gerade vor ihrem Bett fiel ich zusammen... so... so wie der Amokläufer am Ende seines Laufs sinnlos nieder­fällt mit zersprengten Nerven."



Wieder hielt er inne. Mich fröstelte: war das erster Schau­er des Morgenwinds, der jetzt leise sausend über das Schiff lief? Aber das gequälte Gesicht — nun schon halb erhellt vom Widerschein der Frühe — spannte sich wieder zusammen:

Wie lange ich so auf der Matte gelegen hatte, weiß ich nicht. Da rührte mich's an. Ich fuhr auf. Es war der Boy, der zaghaft mit seiner devoten Geste vor mir stand und mir unru­hig in den Blick sah.

,Es will jemand herein... will sie sehen...'

,Niemand darf herein.'

,Ja... aber...'

Seine Augen waren erschrocken. Er wollte etwas sagen und wagte es doch nicht. Das treue Tier litt irgendwie eine Qual.

,Wer ist es?'

Er sah mich zitternd an wie in Furcht vor einem Schlag. Und dann sagte er — er nannte keinen Namen... woher ist in solch einem niederen Wesen mit einem Male so viel Wissen, wie kommt es, daß in manchen Sekunden ein unbeschreibli­ches Zartgefühl derlei ganz dumpfe Menschen beseelt?... Dann sagte er... ganz, ganz ängstlich... ,Er ist es.'

Ich fuhr auf, verstand sofort und war sofort ganz Gier, ganz Ungeduld nach diesem Unbekannten. Denn sehen Sie, wie sonderbar... inmitten all dieser Qual, in diesem Fieber von Verlangen, von Angst und Hast hatte ich ,ihn' ganz verges­sen... vergessen, daß da noch ein Mann im Spiele war... der Mann, den diese Frau geliebt, dem sie leidenschaftlich das ge­geben, was sie mir verweigert... Vor zwölf, vor vierundzwan­zig Stunden hatte ich diesen Mann noch gehaßt, ihn noch zer­fleischen können... Jetzt... ich kann, ich kann Ihnen nicht schil­dern, wie es mich jagte, ihn zu sehen... ihn... zu lieben, weil sie ihn geliebt.

Mit einem Ruck war ich an der Tür. Ein junger, ganz jun­ger blonder Offizier stand dort, sehr linkisch, sehr schmal, sehr blaß. Wie ein Kind sah er aus, so... so rührend jung... und unsäglich erschütterte mich's sogleich, wie er sich mühte. Mann zu sein, Haltung zu zeigen... seine Erregung zu verber­gen... Ich sah sofort, daß seine Hände zitterten, als er zur Mütze fuhr... Am liebsten hätte ich ihn umarmt... weil er ganz so war, wie ich mir's wünschte, daß der Mann sein sollte, der diese Frau besessen... kein Verführer, kein Hochmütiger... nein, ein halbes Kind, ein reines, zärtliches Wesen, dem sie sich geschenkt.

Ganz befangen stand der junge Mensch vor mir. Mein gie­riger Blick, mein leidenschaftlicher Aufsprung machten ihn noch mehr verwirrt. Das kleine Schnurrbärtchen über der Lippe zuckte verräterisch... dieser junge Offizier, dies Kind mußte sich bezwingen, um nicht herauszuschluchzen.

,Verzeihen Sie', sagte er dann endlich, ,ich hatte gerne Frau... gerne noch... gesehen.'

Unbewußt, ganz ohne es zu wollen, legte ich ihm, dem Fremden, meinen Arm um die Schulter, führte ihn, wie man einen Kranken führt. Er sah mich erstaunt an mit einem un­endlich warmen und dankbaren Blick... irgendein Verstehen unserer Gemeinschaft war schon in dieser Sekunde zwischen uns beiden... Wir gingen zu der Toten... Sie lag da, weiß, in den weißen Linnen — ich spürte, daß meine Nähe ihn doch bedrückte... so trat ich zurück, um ihn allein zu lassen mit ihr. Er ging langsam näher mit... mit so zuckenden, ziehen­den Schritten... an seinen Schultern sah ich's, wie es in ihm wühlte und riß... er ging so wie... wie einer, der gegen einen ungeheuren Sturm geht... Und plötzlich brach er vor dem Bett in die Knie... genau so, wie ich hingebrochen war.

Ich sprang sofort vor, hob ihn empor und führte ihn zu einem Sessel. Er schämte sich nicht mehr, sondern schluchzte seine Qual heraus. Ich vermochte nichts zu sagen — nur mit der Hand strich ich ihm unbewußt über sein blondes, kindlich weiches Haar. Er griff nach meiner Hand... ganz lind und doch ängstlich... und mit einem Male fühlte ich seinen Blick an mir hängen...

,Sagen Sie mir die Wahrheit, Doktor', stammelte er, ,hat sie selbst Hand an sich gelegt?' ,Nein' sagte ich.

,Und ist... ich meine... ist irgend... irgendjemand schuld an ihrem Tode?'

,Nein', sagte ich wieder, obwohl mir's aufquoll in der Keh­le, ihm entgegenzuschreien: ,Ich! Ich! Ich!... Und du!... Wir beide! Und ihr Trotz, ihr unseliger Trotz!' Aber ich hielt mich zurück. Ich wiederholte noch einmal: ,Nein... niemand hat schuld daran... es war ein Verhängnis!'

Ich kann es nicht glauben', stöhnte er, ,ich kann es nicht glauben. Sie war noch vorgestern auf dem Balle, sie lächel­te, sie winkte mir zu. Wie ist das möglich, wie konnte das geschehen?'

Ich erzählte eine lange Lüge. Auch ihm verriet ich ihr Geheimnis nicht. Wie zwei Brüder sprachen wir zusammen alle diese Tage, gleichsam überstrahlt von dem Gefühl, das uns verband... und das wir einander nicht anvertrauten, aber wir spürten einer vom andern, daß unser ganzes Leben an dieser Frau hing... Manchmal drängte sich's mir würgend an die Lippen, aber dann biß ich die Zähne zusammen — nie hat er erfahren, daß sie ein Kind von ihm trug... daß ich das Kind, sein Kind, hatte töten sollen und daß sie es mit sich selbst in den Abgrund gerissen. Und doch sprachen wir nur von ihr in diesen Tagen, während deren ich mich bei ihm verbarg... denn — das hatte ich vergessen, Ihnen zu sagen — man suchte nach mir... Ihr Mann war gekommen, als der Sarg schon geschlossen war.... er wollte dem Befund nicht glauben... die Leute munkelten allerlei... und er suchte mich... Aber ich konnte es nicht ertragen, ihn zu sehen, ihn, von dem ich wußte, daß sie unter ihm gelitten... ich verbarg mich... vier Tage ging ich nicht aus dem Hause, gingen wir beide nicht aus der Wohnung... ihr Geliebter hatte mir unter ei­nem falschen Namen einen Schiffsplatz genommen, damit ich flüchten könne... wie ein Dieb bin ich nachts auf das Deck geschlichen, damit niemand mich erkenne... Alles habe ich zurückgelassen, was ich besitze... mein Haus mit der ganzen Arbeit dieser sieben Jahre, mein Hab und Gut, alles steht offen für jeden, der es haben will... und die Herren von der Regierung haben mich wohl schon gestrichen, weil ich ohne Urlaub meinen Posten verließ... Aber ich konnte nicht mehr leben in diesem Haus, in dieser Stadt... in dieser Welt, wo alles mich an sie erinnert... wie ein Dieb bin ich geflohen in der Nacht... nur ihr zu entrinnen... nur zu vergessen...