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Добавлен: 21.12.2020
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Sie hat wohl gesehen, wie es um mich stand. »Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen Frau Schmitz' Zelle.« Sie ging voraus, drehte sich aber immer wieder um, um mir etwas zu berichten oder zu erklären. Hier habe es einen Anschlag von Terroristen gegeben, hier sei die Näherei, in der Hanna gearbeitet hatte, hier habe Hanna einmal einen Sitzstreik gemacht, bis die Streichung der Bibliotheksmittel korrigiert wurde, hier gehe es zur Bibliothek. Vor der Zelle blieb sie stehen. »Frau Schmitz hat nicht gepackt. Sie sehen die Zelle so, wie sie in ihr gelebt hat.«
Bett, Schrank, Tisch und Stuhl, an der Wand über dem Tisch ein Regal und in der Ecke hinter der Tür Waschbecken und Klo. Statt eines Fensters Glasbausteine. Der Tisch war leer. Im Regal standen Bücher, ein Wecker, ein Stoffbär, zwei Becher, Pulverkaffee, Teedosen, das Kassettengerät und in zwei niedrigen Fächern die von mir besprochenen Kassetten.
»Es sind nicht alle.« Die Leiterin war meinem Blick gefolgt. »Frau Schmitz hat immer einige Kassetten dem Hilfsdienst blinder Strafgefangener geliehen.«
Ich trat an das Regal. Primo Levi, Elie Wiesel, Tadeusz Borowski, Jean Amery – die Literatur der Opfer neben den autobiographischen Aufzeichnungen von Rudolf Höss, Hannah Arendts Bericht über Eichmann in Jerusalem und wissenschaftliche Literatur über Konzentrationslager.
»Hat Hanna das gelesen?«
»Sie hat die Bücher jedenfalls mit Bedacht bestellt. Ich habe ihr schon vor mehreren Jahren eine allgemeine KZ-Bibliographie besorgen müssen, und dann hat sie mich vor ein oder zwei Jahren gebeten, ihr Bücher über Frauen in KZs zu nennen, Gefangene und Wärterinnen. Ich habe an das Institut für Zeitgeschichte geschrieben und eine entsprechende Spezialbibliographie geschickt bekommen. Nachdem Frau Schmitz lesen gelernt hat, hat sie
gleich angefangen, über KZs zu lesen.«
Über dem Bett hingen viele kleine Bilder und Zettel. Ich kniete mich auf das Bett und las. Es waren Zitate, Gedichte, kleine Meldungen, auch Kochrezepte, die Hanna notiert oder wie die Bildchen aus Zeitungen und Zeitschriften ausgeschnitten hatte. »Frühling läßt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte«, »Wolkenschatten fliehen über Felder« – die Gedichte waren alle voller Naturfreude und -Sehnsucht, und die Bildchen zeigten frühlingshellen Wald, blumenbunte Wiesen, Herbstlaub und einzelne Bäume, eine Weide am Bach, einen Kirschbaum mit reifen roten Kirschen, eine herbstlich gelb und orange flammende Kastanie. Ein Zeitungsphoto zeigte einen älteren und einen jüngeren Mann in dunklen Anzügen, die einander die Hand gaben, und in dem jüngeren, der sich vor dem älteren verbeugte, erkannte ich mich. Ich war Abiturient und bekam bei der Abiturfeier vom Rektor einen Preis überreicht. Das war lange, nachdem Hanna die Stadt verlassen hatte. Hatte sie, die nicht las, die lokale Zeitung, in der das Photo erschienen war, damals abonniert? Jedenfalls mußte sie einigen Aufwand getrieben haben, um von dem Photo zu erfahren und es zu bekommen. Und während des Prozesses hatte sie es gehabt, dabeigehabt? Ich spürte wieder die Tränen in Brust und Hals.
»Sie hat mit Ihnen lesen gelernt. Sie hat sich in der Bibliothek die Bücher geliehen, die Sie auf Kassette gesprochen haben, und Wort um Wort, Satz um Satz verfolgt, was sie gehört hat. Das Kassettengerät hat das viele Ein- und Ausschalten, Vor- und Zurückspulen nicht lange ausgehalten, ging immer wieder kaputt, mußte immer wieder repariert werden, und weil's dafür Genehmigungen braucht, habe ich schließlich mitgekriegt, was Frau Schmitz macht. Sie wollte es zunächst nicht sagen, aber als sie auch zu schreiben begann und mich um ein Buch mit Schreibschrift bat, hat sie es nicht länger zu verbergen versucht. Sie war auch einfach stolz, daß sie es geschafft hatte, und wollte ihre Freude mitteilen.«
Ich hatte, während sie sprach, weiter mit dem Blick auf die Bilder und Zettel gekniet und die Tränen niedergekämpft. Als ich mich umdrehte und aufs Bett setzte, sagte sie: »Sie hat so darauf gehofft, daß Sie ihr schreiben. Sie bekam nur von Ihnen Post, und wenn die Post verteilt wurde und sie fragte ‚Kein Brief für mich?’, meinte sie mit Brief nicht das Päckchen, in dem die Kassetten kamen. Warum haben Sie nie geschrieben?«
Ich schwieg wieder. Ich hätte nicht reden, ich hätte nur stammeln und weinen können.
Sie ging zum Regal, griff eine Teedose, setzte sich neben mich und nahm ein gefaltetes Blatt aus der Tasche ihres Kostüms. »Sie hat mir einen Brief hinterlassen, eine Art Testament. Ich lese Ihnen vor, was Sie betrifft.« Sie faltete das Blatt auf. »’In der lila Teedose ist noch Geld. Geben Sie es Michael Berg; er soll es mit den 7000 Mark, die auf der Sparkasse liegen, der Tochter geben, die mit ihrer Mutter den Brand der Kirche überlebt hat. Sie soll entscheiden, was damit geschieht. Und sagen Sie ihm, ich grüße ihn.’«
Sie hatte mir also keine Nachricht hinterlassen. Wollte sie mich kränken? Wollte sie mich strafen? Oder war ihre Seele so müde, daß sie nur noch das Allernötigste hatte tun und schreiben können? »Wie war sie all die Jahre«, ich wartete, bis ich weiterreden konnte, »und wie war sie die letzten Tage?«
»Über viele Jahre hat sie hier gelebt wie in einem Kloster. Als hätte sie sich freiwillig hierher zurückgezogen, als hätte sie sich der hiesigen Ordnung freiwillig unterworfen, als sei die einigermaßen eintönige Arbeit eine Art Meditation. Bei den anderen Frauen, zu denen sie freundlich, aber distanziert war, genoß sie besonderes Ansehen. Mehr noch, sie hatte Autorität, wurde um Rat gefragt, wenn es Probleme gab, und wenn sie bei einem Streit dazwischenging, wurde akzeptiert, was sie entschied. Bis sie sich vor einigen Jahren aufgab. Sie hatte immer auf sich gehalten, war bei ihrer kräftigen Gestalt doch schlank und von peinlicher, gepflegter Sauberkeit. Jetzt fing sie an, viel zu essen, sich selten zu waschen, sie wurde dick und roch. Sie wirkte dabei nicht unglücklich oder unzufrieden. Eigentlich war es, als hätte der Rückzug ins Kloster nicht mehr genügt, als gehe es selbst im Kloster noch zu gesellig und geschwätzig zu und als müsse sie sich daher weiter zurückziehen, in eine einsame Klause, in der einen niemand mehr sieht und Aussehen, Kleidung und Geruch keine Bedeutung mehr haben. Nein, daß sie sich aufgegeben hat, war falsch gesagt. Sie hat ihren Ort neu definiert, in einer Weise, die für sie gestimmt, aber die anderen Frauen nicht mehr beeindruckt hat.«
»Und die letzten Tage?«
»Sie war wie immer.«
»Kann ich sie sehen?«
Sie nickte, blieb aber sitzen. »Kann einem die Welt in Jahren der Einsamkeit so unerträglich werden? Bringt man sich lieber um, als aus dem Kloster, aus der Einsiedelei wieder in die Welt zurückzukehren?« Sie wandte sich mir zu. »Frau Schmitz hat nicht geschrieben, warum sie sich umgebracht hat. Und Sie sagen nicht, was zwischen Ihnen beiden gewesen ist und vielleicht dazu geführt hat, daß Frau Schmitz sich in der Nacht vor dem Tag umbringt, an dem Sie sie abholen wollten.« Sie faltete das Blatt zusammen, steckte es ein, stand auf und strich den Rock glatt. »Mich trifft ihr Tod, wissen Sie, und im Moment bin ich zornig, auf Frau Schmitz und auf Sie. Aber gehen wir.«
Sie ging wieder voraus, diesmal wortlos. Hanna lag auf der Krankenstation in einer kleinen Kammer. Wir konnten gerade zwischen Wand und Trage treten. Die Leiterin schlug das Tuch zurück.
Hanna war ein Tuch um den Kopf gebunden worden, um das Kinn bis zum Eintritt der Todesstarre hochzuhalten. Das Gesicht war weder besonders friedlich noch besonders qualvoll. Es sah starr und tot aus. Als ich lange hinschaute, schien im toten Gesicht das lebende auf, im alten das junge. So muß es alten Ehepaaren gehen, dachte ich; für sie bleibt im alten Mann der junge aufgehoben und für ihn die Schönheit und Anmut der jungen Frau in der alten. Warum hatte ich den Aufschein vor einer Woche nicht gesehen?
Ich mußte nicht weinen. Als die Leiterin mich nach einer Weile fragend ansah, nickte ich, und sie breitete das Tuch wieder über Hannas Gesicht.
11
Es wurde Herbst, bis ich Hannas Auftrag erledigte. Die Tochter lebte in New York, und ich nahm eine Tagung in Boston zum Anlaß, ihr das Geld zu bringen: einen Scheck über den Betrag des Sparbuchs und die Teedose mit dem Bargeld. Ich hatte ihr geschrieben, mich als Rechtshistoriker vorgestellt und den Prozeß erwähnt. Ich wäre dankbar, sie sprechen zu können. Sie lud mich zum Tee ein.
Ich fuhr mit dem Zug von Boston nach New York. Die Wälder prunkten in Braun, Gelb, Orange, Rotbraun und Braunrot und im flammenden, leuchtenden Rot des Ahorn. Mir kamen die Herbstbilder in Hannas Zelle in den Sinn. Als ich vom Rollen der Räder und Schaukeln des Wagens müde wurde, träumte ich von Hanna und mir in einem Haus in den herbstbunten Hügeln, durch die der Zug fuhr. Hanna war älter, als ich sie kennengelernt, und jünger, als ich sie wiedergetroffen hatte, älter als ich, schöner als früher, mit dem Alter noch gelassener in ihren Bewegungen und in ihrem Körper noch mehr zu Hause. Ich sah sie aus dem Auto steigen und Einkaufstüten auf die
Arme nehmen, sah sie durch den .Garten ins Haus gehen, sah sie die Einkaufstüten abstellen und vor mir die Treppe hinaufsteigen. Die Sehnsucht nach Hanna wurde so stark, daß sie weh tat. Ich wehrte mich gegen die Sehnsucht, hielt ihr entgegen, sie gehe an Hannas und meiner Realität völlig vorbei, an der Realität unseres Alters, unserer Lebensumstände. Wie sollte Hanna, die nicht englisch sprach, in Amerika leben? Und Auto fahren konnte sie auch nicht.
Ich wachte auf und wußte wieder, daß Hanna tot war. Ich wußte auch, daß die Sehnsucht sich an ihr festmachte, ohne ihr zu gelten. Es war die Sehnsucht danach, nach Hause zu kommen.
Die Tochter lebte in New York in einer kleinen Straße m der Nähe des Central Park. Die Straße war beidseitig von alten Reihenhäusern aus dunklem Sandstein gesäumt, bei denen Treppen aus demselben dunklen Sandstein in den ersten Stock führten. Das gab ein strenges Bild, Haus hinter Haus, die Fassaden nahezu gleich, Treppe hinter Treppe, Straßenbäume, erst unlängst in regelmäßigen Abständen gepflanzt, mit wenigen gelben Blättern an dünnen Ästen.
Die Tochter servierte den Tee vor großen Fenstern mit Blick in die kleinen Gärten des Häusergevierts, mal grün und bunt und mal nur eine Ansammlung von Gerumpel. Sobald wir saßen, der Tee eingeschenkt, der Zucker hineingegeben und umgerührt worden war, wechselte sie vom Englischen, worin sie mich begrüßt hatte, ins Deutsche. »Was führt Sie zu mir?« Sie fragte nicht freundlich und nicht unfreundlich; der Ton war von äußerster Sachlichkeit. Alles an ihr wirkte sachlich, Haltung, Gestik, Kleidung. Das Gesicht war eigentümlich alterslos. So sehen Gesichter aus, die geliftet worden sind. Aber vielleicht war es auch unter dem frühen Leid erstarrt – ich versuchte vergebens, mich an ihr Gesicht während des Prozesses zu erinnern.
Ich erzählte von Hannas Tod und Auftrag.
»Warum ich?«
»Ich vermute, weil Sie die einzige Überlebende sind.«
»Was soll ich damit?«
»Was immer Sie für sinnvoll halten.«
»Und Frau Schmitz damit die Absolution geben?«
Zuerst wollte ich abwehren, aber Hanna verlangte in der Tat viel. Die Jahre der Haft sollten nicht nur auferlegte Sühne sein; Hanna wollte ihnen selbst einen Sinn geben, und sie wollte mit dieser ihrer Sinngebung anerkannt werden. Ich sagte das.
Sie schüttelte den Kopf. Ich wußte nicht, ob sie damit meine Deutung ablehnen oder Hanna die Anerkennung verweigern wollte.
»Können Sie ihr nicht die Anerkennung ohne die Absolution geben?«
Sie lachte. »Sie mögen sie, nicht wahr? Wie ist eigentlich ihr Verhältnis zueinander gewesen?«
Ich zögerte einen Moment. »Ich war ihr Vorleser. Es fing an, als ich fünfzehn war, und ging weiter, als sie im Gefängnis saß.«
»Wie haben Sie...«
»Ich habe ihr Kassetten geschickt. Frau Schmitz war fast ihr ganzes Leben lang Analphabetin; sie hat erst im Gefängnis lesen und schreiben gelernt.«
»Warum haben Sie das alles gemacht?«
»Wir hatten, als ich fünfzehn war, eine Beziehung.«
»Sie meinen, Sie haben zusammen geschlafen?«
»Ja.«
»Was ist diese Frau brutal gewesen. Haben Sie's verkraftet, daß sie Sie mit fünfzehn... Nein, Sie sagen selbst, daß Sie ihr wieder vorzulesen begonnen haben, als sie im Gefängnis war. Haben Sie jemals geheiratet?«
Ich nickte.
»Und die Ehe war kurz und unglücklich, und Sie haben nicht wieder geheiratet, und das Kind, wenn's eines gibt, ist im Internat.«
»Das trifft für Tausende zu; dazu braucht es keine Frau Schmitz.«
»Hatten Sie, wenn Sie in den letzten Jahren mit ihr Kontakt hatten, jemals das Gefühl, daß sie wußte, was sie Ihnen angetan hat?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls wußte sie, was sie anderen im Lager und auf dem Marsch angetan hat. Sie hat mir das nicht nur gesagt, sie hat sich in den letzten Jahren im Gefängnis auch intensiv damit beschäftigt.« Ich berichtete, was mir die Leiterin der Anstalt erzählt hatte.
Sie stand auf und ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. »Um wieviel Geld geht es denn?«
Ich ging zur Garderobe, wo ich meine Tasche gelassen hatte, und kam mit Scheck und Teedose zurück. »Hier.«
Sie sah auf den Scheck und legte ihn auf den Tisch. Die Dose öffnete sie, leerte sie, schloß sie wieder und hielt sie in der Hand, den Blick fest darauf gerichtet. »Als Mädchen hatte ich eine Teedose für meine Schätze. Keine wie diese, obwohl es diese Teedosen damals auch schon gab, sondern eine mit kyrillischen Schriftzeichen, der Deckel nicht zum Reindrücken, sondern zum Drüberstülpen. Ich habe sie bis ins Lager gebracht, dort wurde sie mir eines Tages gestohlen.«
»Was war drin?«
»Was wohl. Eine Locke von unserem Pudel, Eintrittskarten von Opern, zu denen mein Vater mich mitgenommen hat, ein Ring, irgendwo gewonnen oder in einer Packung gefunden – gestohlen wurde mir die Dose nicht wegen des Inhalts. Die Dose selbst und was man mit ihr machen konnte, war im Lager viel wert.« Sie stellte die Dose auf den Scheck. »Haben Sie einen Vorschlag für die Verwendung des Gelds? Es für irgendwas zu verwenden, was mit dem Holocaust zu tun hat, käme mir wie eine Absolution vor, die ich weder erteilen kann noch will.«
»Für Analphabeten, die lesen und schreiben lernen wollen. Da gibt es sicher gemeinnützige Stiftungen, Vereinigungen, Gesellschaften, denen man das Geld geben könnte.«
»Sicher gibt es die.« Sie dachte nach.
»Gibt es auch entsprechende jüdische Vereinigungen?«
»Sie können sich darauf verlassen, daß, wenn es Vereinigungen für etwas gibt, es auch jüdische Vereinigungen dafür gibt. Analphabetismus ist allerdings nicht gerade ein jüdisches Problem.«
Sie schob mir den Scheck und das Geld hin.
»Machen wir's so. Sie machen sich kundig, was für einschlägige jüdische Einrichtungen es gibt, hier oder in Deutschland, und überweisen das Geld auf das Konto der Einrichtung, die Sie am meisten überzeugt. Sie können ja«, sie lachte, »wenn die Anerkennung sehr wichtig ist, das Geld im Namen von Hanna Schmitz überweisen.«
Sie nahm wieder die Dose in die Hand. »Ich behalte die Dose.«
12
Inzwischen liegt das alles zehn Jahre zurück. In den ersten Jahren nach Hannas Tod haben mich die alten Fragen gequält, ob ich sie verleugnet und verraten habe, ob ich ihr etwas schuldig geblieben bin, ob ich schuldig geworden bin, indem ich sie geliebt habe, ob ich und wie ich mich von ihr hätte lossagen, loslösen müssen. Manchmal habe ich mich gefragt, ob ich für ihren Tod verantwortlich bin. Und manchmal war ich zornig auf sie und über das, was sie mir angetan hat. Bis der Zorn kraftlos und die Fragen unwichtig wurden. Was ich getan und nicht getan habe und sie mir angetan hat – es ist nun eben mein Leben geworden.
Den Vorsatz, Hannas und meine Geschichte zu schreiben, habe ich bald nach ihrem Tod gefaßt. Seitdem hat sich unsere Geschichte in meinem Kopf viele Male geschrieben, immer wieder ein bißchen anders, immer wieder mit neuen Bildern, Handlungs- und Gedankenfetzen. So gibt es neben der Version, die ich geschrieben habe, viele andere. Die Gewähr dafür, daß die geschriebene die richtige ist, liegt darin, daß ich sie geschrieben und die anderen Versionen nicht geschrieben habe. Die geschriebene Version wollte geschrieben werden, die vielen anderen wollten es nicht.
Zuerst wollte ich unsere Geschichte schreiben, um sie loszuwerden. Aber zu diesem Zweck haben sich die Erinnerungen nicht eingestellt. Dann merkte ich, wie unsere Geschichte mir entglitt, und wollte sie durchs Schreiben zurückholen, aber auch das hat die Erinnerung nicht hervorgelockt. Seit einigen Jahren lasse ich unsere Geschichte in Ruhe. Ich habe meinen Frieden mit ihr gemacht. Und sie ist zurückgekommen, Detail um Detail und in einer Weise rund, geschlossen und gerichtet, daß sie mich nicht mehr traurig macht. Was für eine traurige Geschichte, dachte ich lange. Nicht daß ich jetzt dächte, sie sei glücklich. Aber ich denke, daß sie stimmt und daß daneben die Frage, ob sie traurig oder glücklich ist, keinerlei Bedeutung hat.
Jedenfalls denke ich das, wenn ich einfach so an sie denke. Wenn ich jedoch verletzt werde, kommen wieder die damals erfahrenen Verletzungen hoch, wenn ich mich schuldig fühle, die damaligen Schuldgefühle, und in heutiger Sehnsucht, heutigem Heimweh spüre ich Sehnsucht und Heimweh von damals. Die Schichten unseres Lebens ruhen so dicht aufeinander auf, daß uns im Späteren immer Früheres begegnet, nicht als Abgetanes und Erledigtes, sondern gegenwärtig und lebendig. Ich verstehe das. Trotzdem finde ich es manchmal schwer erträglich. Vielleicht habe ich unsere Geschichte doch geschrieben, weil ich sie loswerden will, auch wenn ich es nicht kann.
Hannas Geld habe ich gleich nach der Rückkehr aus New York unter ihrem Namen der Jewish League Against Illiteracy überwiesen. Ich bekam einen kurzen computergeschriebenen Brief, in dem die Jewish League Ms. Hanna Schmitz für ihre Spende dankt. Mit dem Brief in der Tasche bin ich auf den Friedhof zu Hannas Grab gefahren. Es war das erste und einzige Mal, daß ich an ihrem Grab stand.
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