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Добавлен: 22.12.2020

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Die Fahrt in der Bahn war wie ein böser Traum gewesen. Wenn ich das Nachspiel nicht in so deutlicher Erinnerung hätte, wäre ich versucht, sie tatsächlich für einen bösen Traum zu halten. An der Haltestelle stehen, die Vögel hören und die Sonne aufgehen sehen war wie aufwachen. Aber das Aufwachen aus einem bösen Traum muß einen nicht erleichtern. Es kann einen auch erst richtig gewahr werden lassen, was man Furchtbares geträumt hat, vielleicht sogar welcher furchtbaren Wahrheit man im Traum begegnet ist. Ich machte mich auf den Weg nach Hause, mir liefen die Tränen, und erst als ich Eppelheim erreichte, konnte ich aufhören zu weinen.

Ich machte den Weg nach Hause zu Fuß. Ein paarmal versuchte ich vergebens zu trampen. Als ich die Hälfte des Wegs geschafft hatte, fuhr die Straßenbahn an mir vorbei. Sie war voll. Ich sah Hanna nicht.

Ich erwartete sie um zwölf auf dem Treppenabsatz vor ihrer Wohnung, traurig, ängstlich und wütend. »Schwänzst du wieder Schule?«

»Ich habe Ferien. Was war heute morgen los?« Sie schloß auf, und ich folgte ihr in die Wohnung und in die Küche.

»Was soll heute morgen los gewesen sein?«

»Warum hast du getan, als kennst du mich nicht? Ich wollte...«

»Ich habe getan, als kenne ich dich nicht?« Sie drehte sich um und sah mir kalt ins Gesicht. »Du hast mich nicht kennen wollen. Steigst in den zweiten Wagen, wo du doch siehst, daß ich im ersten bin.«

»Warum fahre ich am ersten Tag meiner Ferien um halb fünf nach Schwetzingen? Doch nur weil ich dich überraschen wollte, weil ich dachte, du freust dich. In den zweiten Wagen bin ich...«

»Du armes Kind. Warst schon um halb fünf auf, und das auch noch in deinen Ferien.« Ich hatte sie noch nie ironisch erlebt. Sie schüttelte den Kopf. »Was weiß ich, warum du nach Schwetzingen fährst. Was weiß ich, warum du mich nicht kennen willst. Ist deine Sache, nicht meine. Würdest du jetzt gehen?«

Ich kann nicht beschreiben, wie empört ich war. »Das ist nicht fair, Hanna. Du hast gewußt, du mußtest wissen, daß ich nur für dich mitgefahren bin. Wie kannst du dann glauben, ich hätte dich nicht kennen wollen? Wenn ich dich nicht hätte kennen wollen, wäre ich gar nicht mitgefahren.«

»Ach, laß mich. Ich hab dir schon gesagt, was du machst, ist deine Sache, nicht meine.« Sie hatte sich so gestellt, daß der Küchentisch zwischen uns war, ihr Blick, ihre Stimme und ihre Gesten behandelten mich als Eindringling und forderten mich auf zu gehen.

Ich setzte mich aufs Sofa. Sie hatte mich schlecht behandelt, und ich hatte sie zur Rede stellen wollen. Aber ich war gar nicht an sie herangekommen. Statt dessen hatte sie mich angegriffen. Und ich begann, unsicher zu werden. Hatte sie vielleicht recht, nicht objektiv, aber subjektiv? Konnte, mußte sie mich falsch verstehen? Hatte ich sie verletzt, ohne meine Absicht, gegen meine Absicht, aber eben doch verletzt?

»Es tut mir leid, Hanna. Alles ist schiefgelaufen. Ich habe dich nicht kränken wollen, aber es scheint...«

»Es scheint? Du meinst, es scheint, du hast mich gekränkt? Du kannst mich nicht kränken, du nicht. Und gehst du jetzt endlich? Ich habe gearbeitet, ich will baden, ich will meine Ruhe haben.« Sie sah mich auffordernd an. Als ich nicht aufstand, zuckte sie mit den Schultern, drehte sich um, ließ Wasser in die Wanne und zog sich aus.

Jetzt stand ich auf und ging. Ich dachte, ich gehe für immer. Aber nach einer halben Stunde stand ich wieder vor der Wohnung. Sie ließ mich herein, und ich nahm alles auf mich. Ich hatte gedankenlos, rücksichtslos, lieblos gehandelt. Ich verstand, daß sie gekränkt war. Ich verstand, daß sie nicht gekränkt war, weil ich sie nicht kränken konnte. Ich verstand, daß ich sie nicht kränken konnte, daß sie sich mein Verhalten aber einfach nicht bieten lassen durfte. Am Ende war ich glücklich, als sie zugab, daß ich sie verletzt hatte. Also war sie doch nicht so unberührt und unbeteiligt, wie sie getan hatte.

»Verzeihst du mir?«

Sie nickte.

»Liebst du mich?«

Sie nickte wieder. »Die Wanne ist noch voll. Komm, ich bade dich.«

Später habe ich mich gefragt, ob sie das Wasser in der Wanne gelassen hatte, weil sie wußte, daß ich wiederkommen würde. Ob sie sich ausgezogen hatte, weil sie wußte, daß mir das nicht aus dem Sinn gehen und daß es mich zurückbringen würde. Ob sie nur ein Machtspiel hatte gewinnen wollen. Als wir uns geliebt hatten und beieinanderlagen und ich ihr erzählte, warum ich in den zweiten statt den ersten Wagen gestiegen war, neckte sie mich. »Sogar in der Straßenbahn willst du's mit mir machen? Jungchen, Jungchen!« Es war, als sei der Anlaß unseres Streits eigentlich ohne Bedeutung.

Aber sein Ergebnis hatte Bedeutung. Ich hatte nicht nur diesen Streit verloren. Ich hatte nach kurzem Kampf kapituliert, als sie drohte, mich zurückzuweisen, sich mir zu entziehen. In den kommenden Wochen habe ich nicht einmal mehr kurz gekämpft. Wenn sie drohte, habe ich sofort bedingungslos kapituliert. Ich habe alles auf mich genommen. Ich habe Fehler zugegeben, die ich nicht begangen hatte, Absichten eingestanden, die ich nie gehegt hatte. Wenn sie kalt und hart wurde, bettelte ich darum, daß sie mir wieder gut ist, mir verzeiht, mich liebt. Manchmal empfand ich, als leide sie selbst unter ihrem Erkalten und Erstarren. Als sehne sie sich nach der Wärme meiner Entschuldigungen, Beteuerungen und Beschwörungen. Manchmal dachte ich, sie triumphiert einfach über mich. Aber so oder so hatte ich keine Wahl.


Ich konnte mit ihr nicht darüber reden. Das Reden über unser Streiten führte nur zu weiterem Streit. Ein- oder zweimal habe ich ihr lange Briefe geschrieben. Aber sie reagierte nicht, und als ich nachfragte, fragte sie zurück: »Fängst du schon wieder an?«

11

Nicht daß Hanna und ich nach dem ersten Tag der Osterferien nicht mehr glücklich gewesen wären. Wir waren nie glücklicher als in jenen Aprilwochen. So verstellt dieser erste Streit und überhaupt unser Streiten war – alles, was unser Ritual des Vorlesens, Duschens, Liebens und Beieinanderliegens öffnete, tat uns gut. Außerdem hatte sie sich mit ihrem Vorwurf, ich hätte sie nicht kennen wollen, festgelegt. Wenn ich mich mit ihr zeigen wollte, konnte sie keine prinzipiellen Einwände erheben. »Also wolltest du doch nicht mit mir gesehen werden« – das mochte sie sich nicht sagen lassen müssen. So fuhren wir in der Woche nach Ostern mit dem Fahrrad weg, vier Tage Wimpfen, Amorbach und Miltenberg.

Ich weiß nicht mehr, was ich meinen Eltern gesagt habe. Daß ich die Fahrt mit meinem Freund Matthias mache? Mit einer Gruppe? Daß ich einen ehemaligen Klassenkameraden besuche? Vermutlich war meine Mutter besorgt, wie immer, und fand mein Vater, wie immer, sie solle sich keine Sorgen machen. Hatte ich nicht gerade die Klasse geschafft, was mir niemand zugetraut hatte?

Während ich krank war, hatte ich mein Taschengeld nicht ausgegeben. Aber das würde nicht reichen, wenn ich auch für Hanna zahlen wollte. Also bot ich meine Briefmarkensammlung im Briefmarkengeschäft bei der Heiliggeistkirche zum Verkauf. Es war das einzige Geschäft, das an der Tür den Ankauf von Sammlungen anzeigte. Der Verkäufer sah meine Alben durch und bot mir sechzig Mark. Ich wies ihn auf mein Prunkstück hin, eine geradegeschnittene ägyptische Marke mit einer Pyramide, die im Katalog mit vierhundert Mark verzeichnet war. Er zuckte mit den Schultern. Wenn ich so an meiner Sammlung hinge, sollte ich sie vielleicht besser behalten. Dürfte ich sie überhaupt verkaufen? Was sagten meine Eltern dazu? Ich versuchte zu handeln. Wenn die Marke mit der Pyramide doch nicht wertvoll sei, würde ich sie einfach behalten. Dann könne er mir nur noch dreißig Mark geben. Also sei die Marke mit der Pyramide doch wertvoll? Am Ende bekam ich siebzig Mark. Ich fühlte mich betrogen, aber es war mir gleichgültig.

Nicht nur ich hatte Reisefieber. Zu meinem Erstaunen war auch Hanna schon Tage vor der Reise unruhig. Sie überlegte hin und her, was sie mitnehmen sollte, und packte die Satteltaschen und den Rucksack, die ich für sie besorgt hatte, um und um. Als ich ihr auf der Karte die Route zeigen wollte, die ich mir überlegt hatte, wollte sie nichts hören und nichts sehen. »Ich bin jetzt zu aufgeregt. Du machst das schon richtig, Jungchen.«

Wir brachen am Ostermontag auf. Die Sonne schien, und sie schien vier Tage lang. Morgens war es frisch, und tags wurde es warm, nicht zu warm fürs Fahrradfahren, aber warm genug zum Picknicken. Die Wälder waren Teppiche in Grün, mit gelbgrünen, hellgrünen, flaschengrünen, blau- und schwarzgrünen Tupfern, Flecken und Flächen. In der Rheinebene blühten schon die ersten Obstbäume. Im Odenwald gingen gerade die Forsythien auf.

Oft konnten wir nebeneinander fahren. Dann zeigten wir uns, was wir sahen: die Burg, den Angler, das Schiff auf dem Fluß, das Zelt, die Familie im Gänsemarsch am Ufer, den amerikanischen Straßenkreuzer mit offenem Verdeck. Wenn wir eine andere Richtung und Straße nahmen, mußte ich vorausfahren; sie wollte sich um Richtungen und Straßen nicht kümmern. Sonst fuhr, wenn der Verkehr zu dicht war, mal sie hinter mir, mal ich hinter ihr. Sie hatte ein Fahrrad mit verdeckten Speichen und verdecktem Tretwerk und Zahnrad und trug ein blaues Kleid, dessen weiter Rock im Fahrtwind flatterte. Ich brauchte eine Weile, bis ich nicht mehr fürchtete, der Rock werde in die Speichen oder ins Zahnrad geraten und sie werde stürzen. Danach sah ich sie gerne vor mir herfahren.

Wie hatte ich mich auf die Nächte gefreut. Ich hatte mir vorgestellt, daß wir uns lieben, einschlafen, aufwachen, uns wieder lieben, wieder einschlafen, wieder aufwachen und so fort, Nacht für Nacht. Aber nur in der ersten Nacht bin ich noch mal aufgewacht. Sie lag mit dem Rücken zu mir, ich beugte mich über sie und küßte sie, und sie drehte sich auf den Rücken, nahm mich in sich auf und hielt mich in ihren Armen. »Mein Jungchen, mein Jungchen.« Dann schlief ich auf ihr ein. Die anderen Nächte schliefen wir durch, müde vom Fahren, von Sonne und Wind. Wir liebten uns am Morgen.

Hanna überließ mir nicht nur die Wahl der Richtungen und Straßen. Ich suchte die Gasthöfe aus, in denen wir über Nacht blieben, trug uns als Mutter und Sohn in die Meldezettel ein, die sie nur noch unterschrieb, und wählte auf der Speisekarte nicht nur für mich, sondern auch für sie das Essen aus. »Ich mag's, mich mal um nichts zu kümmern.«

Den einzigen Streit hatten wir in Amorbach. Ich war früh aufgewacht, hatte mich leise angezogen und aus dem Zimmer gestohlen. Ich wollte das Frühstück hochbringen und wollte auch schauen, ob ich schon ein offenes Blumengeschäft finde und eine Rose für Hanna kriege. Ich hatte ihr einen Zettel auf den Nachttisch gelegt. »Guten Morgen! Hole Frühstück, bin gleich wieder zurück« – oder so ähnlich. Als ich wiederkam, stand sie im Zimmer, halb angezogen, zitternd vor Wut, weiß im Gesicht.


»Wie kannst du einfach so gehen!«

Ich setzte das Tablett mit Frühstück und Rose ab und wollte sie in die Arme nehmen. »Hanna...«

»Faß mich nicht an.« Sie hatte den schmalen ledernen Gürtel in der Hand, den sie um ihr Kleid tat, machte einen Schritt zurück und zog ihn mir durchs Gesicht. Meine Lippe platzte, und ich schmeckte Blut. Es tat nicht weh. Ich war furchtbar erschrocken. Sie holte noch mal aus.

Aber sie schlug nicht noch mal. Sie ließ den Arm sinken und den Gürtel fallen und weinte. Ich hatte sie noch nie weinen sehen. Ihr Gesicht verlor alle Form. Aufgerissene Augen, aufgerissener Mund, die Lider nach den ersten Tränen verquollen, rote Flecken auf Wange und Hals. Aus ihrem Mund kamen krächzende, kehlige Laute, ähnlich dem tonlosen Schrei, wenn wir uns hebten. Sie stand da und sah mich durch ihre Tränen an.

Ich hätte sie in meine Arme nehmen sollen. Aber ich konnte nicht. Ich wußte nicht, was tun. Bei uns zu Hause weinte man nicht so. Man schlug nicht, nicht mit der Hand und erst recht nicht mit einem Lederriemen. Man redete. Aber was sollte ich sagen?

Sie machte zwei Schritte zu mir, warf sich an meine Brust, schlug mit den Fäusten auf mich ein, klammerte sich an mich. Jetzt konnte ich sie halten. Ihre Schultern zuckten, sie schlug mit der Stirn an meine Brust. Dann seufzte sie tief und kuschelte sich in meine Arme.

»Frühstücken wir?« Sie löste sich von mir. »Mein Gott, Jungchen, wie siehst du aus!« Sie holte ein nasses Handtuch und säuberte meinen Mund und mein Kinn. »Und das Hemd ist voller Blut.« Sie zog mir das Hemd aus, dann die Hose und dann zog sie sich aus, und wir liebten uns.

»Was war eigentlich los? Warum warst du so wütend?« Wir lagen beieinander, so befriedigt und zufrieden, daß ich dachte, jetzt werde sich alles klären.

»Was war los, was war los — wie dumm du immer fragst. Du kannst nicht einfach so gehen.«

»Aber ich habe dir doch einen Zettel...«

»Zettel?«

Ich setzte mich. Da, wo ich den Zettel auf den Nachttisch gelegt hatte, lag er nicht mehr. Ich stand auf, suchte neben und unter dem Nachttisch, unter dem Bett, im Bett. Ich fand ihn nicht. »Ich versteh das nicht. Ich hatte dir einen Zettel geschrieben, daß ich Frühstück hole und gleich zurück bin.«

»Hast du? Ich seh keinen Zettel.«

»Du glaubst mir nicht?«

»Ich will dir gerne glauben. Aber ich seh keinen Zettel.«

Wir stritten nicht mehr. War ein Windstoß gekommen, hatte den Zettel genommen und irgend- und nirgendwo hingetragen? War alles ein Mißverständnis gewesen, ihre Wut, meine geplatzte Lippe, ihr wundes Gesicht, meine Hilflosigkeit?

Hätte ich weitersuchen sollen, nach dem Zettel, nach der Ursache von Hannas Wut, nach der Ursache meiner Hilflosigkeit? »Lies noch was vor, Jungchen!« Sie schmiegte sich an mich, und ich nahm Eichendorffs »Taugenichts« und fuhr fort, wo ich beim letztenmal geendet hatte. Der »Taugenichts« las sich leicht vor, leichter als »Emilia Galotti« und »Kabale und Liebe«. Hanna folgte wieder mit gespannter Anteilnahme. Sie mochte die eingestreuten Gedichte. Sie mochte die Verkleidungen, Verwechslungen, Verwicklungen und Nachstellungen, in die sich der Held in Italien verstrickt. Zugleich nahm sie ihm übel, daß er ein Taugenichts ist, nichts leistet, nichts kann und auch nichts können will. Sie war hin und her gerissen und konnte noch Stunden, nachdem ich mit dem Vorlesen aufgehört hatte, mit Fragen kommen. »Zolleinnehmer – war das kein guter Beruf?«

Wieder ist der Bericht über unseren Streit so ausführlich geraten, daß ich auch von unserem Glück berichten will. Der Streit hat unser Verhältnis zueinander inniger gemacht. Ich hatte sie weinen sehen, Hanna, die auch weinte, war mir näher als Hanna, die nur stark war. Sie begann, eine sanfte Seite zu zeigen, die ich noch nicht gekannt hatte. Sie hat meine geplatzte Lippe, bis sie heilte, immer wieder betrachtet und zart berührt.

Wir liebten uns anders. Lange hatte ich mich ganz ihrer Führung, ihrem Besitzergreifen überlassen. Dann hatte auch ich von ihr Besitz zu nehmen gelernt. Auf und seit unserer Fahrt haben wir nicht mehr nur Besitz voneinander ergriffen.

Ich habe ein Gedicht, das ich damals geschrieben habe. Als Gedicht ist es nichts wert. Ich habe damals für Rilke und für Benn geschwärmt, und ich erkenne, daß ich beiden zugleich nacheifern wollte. Aber ich erkenne auch wieder, wie nah wir einander damals waren. Hier ist das Gedicht:


Wenn wir uns öffnen

du dich mir und ich dir mich,

wenn wir versinken

in mich du und ich in dich,

wenn wir vergehen

du mir in und dir in ich.


Dann

bin ich ich

und bist du du.

12

Während ich keine Erinnerungen an die Lügen habe, die ich meinen Eltern zur Fahrt mit Hanna präsentierte, erinnere ich mich an den Preis, den ich zahlen mußte, damit ich in der letzten Ferienwoche alleine zu Hause bleiben konnte. Ich weiß nicht mehr, wohin meine Eltern, die große Schwester und der große Bruder verreisten. Das Problem war die kleine Schwester. Sie sollte in die Familie einer Freundin. Aber wenn ich zu Hause bliebe, wollte sie auch zu Hause bleiben. Das wollten meine Eltern nicht. Also sollte auch ich in die Familie eines Freundes.


Im Rückblick finde ich beachtlich, daß meine Eltern bereit waren, mich Fünfzehnjährigen eine Woche lang alleine zu Hause zu lassen. Hatten sie die Selbständigkeit bemerkt, die durch die Begegnung mit Hanna in mir gewachsen war? Oder hatten sie einfach registriert, daß ich trotz der Monate der Krankheit die Klasse geschafft hatte, und daraus geschlossen, daß ich verantwortungsbewußter und vertrauenswürdiger war, als ich bisher hatte erkennen lassen? Ich erinnere mich auch nicht, daß ich wegen der vielen Stunden, die ich damals bei Hanna verbrachte, zur Rechenschaft gezogen worden wäre. Meine Eltern nahmen mir anscheinend ab, daß ich, wieder gesund, viel mit Freunden zusammen sein, zusammen lernen und zusammen Freizeit verbringen wollte. Überdies sind vier Kinder ein Rudel, bei dem die Aufmerksamkeit der Eltern nicht allen gelten kann, sondern sich auf das konzentriert, das gerade besondere Probleme machte. Ich hatte lange genug Probleme gemacht; meine Eltern waren erleichtert, daß ich gesund und in die nächste Klasse versetzt war.

Als ich meine kleine Schwester fragte, was sie haben wolle, damit sie zu ihrer Freundin gehe, während ich zu Hause bliebe, verlangte sie Jeans, wir sagten damals Blue jeans oder Nietenhosen, und einen Nicki, einen samtenen Pullover. Das verstand ich. Jeans waren damals noch etwas Besonderes, Schickes, und überdies versprachen sie die Befreiung von Fischgrätanzügen und großblumig gemusterten Kleidern. Wie ich die Sachen meines Onkels auftragen mußte, mußte meine kleine Schwester die Sachen der großen Schwester auftragen. Aber ich hatte kein Geld.

»Dann klau sie!« Meine kleine Schwester schaute gleichmütig.

Es war verblüffend einfach. Ich probierte verschiedene Jeans an, nahm auch ein Paar ihrer Größe in die Umkleidekabine und trug es unter der weit geschnittenen Anzughose am Bauch aus dem Geschäft. Den Nicki klaute ich im Kaufhof. Am einen Tag schlenderten meine kleine Schwester und ich in der Modeabteilung von Stand zu Stand, bis wir den richtigen Stand und den richtigen Nicki gefunden hatten. Am nächsten Tag ging ich eilenden, entschlossenen Schritts durch die Abteilung, griff den Pullover, barg ihn unter der Anzugsjacke und war auch schon draußen. Am Tag darauf klaute ich für Hanna ein seidenes Nachthemd, wurde vom Kaufhofdetektiv gesehen, rannte wie um mein Leben und entkam mit Mühe und Not. Ich habe den Kaufhof jahrelang nicht betreten.

Seit den gemeinsamen Nächten auf unserer Fahrt hatte ich jede Nacht Sehnsucht danach, sie neben mir zu spüren, mich an sie zu kuscheln, meinen Bauch an ihren Po und meine Brust an ihren Rücken, meine Hand auf ihre Brüste zu legen, beim nächtlichen Aufwachen sie mit dem Arm zu suchen, zu finden, ein Bein über ihre Beine zu schieben und das Gesicht an ihre Schulter zu drücken. Eine Woche alleine zu Hause war sieben Nächte mit Hanna.

An einem Abend habe ich sie eingeladen und für sie gekocht. Sie stand in der Küche, als ich letzte Hand ans Essen legte. Sie stand in der offenen Flügeltür zwischen Eß- und Wohnzimmer, als ich auftrug. Sie saß am runden Eßtisch, wo sonst mein Vater saß. Sie sah sich um.

Ihr Blick tastete alles ab, die Biedermeiermöbel, den Flügel, die alte Standuhr, die Bilder, die Regale mit den Büchern, Geschirr und Besteck auf dem Tisch. Als ich sie alleine gelassen hatte, um den Nachtisch fertigzumachen, fand ich sie nicht am Tisch wieder. Sie war von Zimmer zu Zimmer gegangen und stand im Arbeitszimmer meines Vaters. Ich lehnte mich leise an den Türpfosten und sah ihr zu. Sie ließ ihren Blick über die Bücherregale wandern, die die Wände füllten, als lese sie einen Text. Dann ging sie zu einem Regal, fuhr in Brusthöhe mit dem Zeigefinger der rechten Hand langsam die Buchrücken entlang, ging zum nächsten Regal, fuhr mit dem Finger weiter, Buchrücken um Buchrücken, und schritt das ganze Zimmer ab. Beim Fenster blieb sie stehen, sah in die Dunkelheit, auf den Widerschein der Bücherregale und auf ihr Spiegelbild.

Es ist eines der Bilder von Hanna, die mir geblieben sind. Ich habe sie gespeichert, kann sie auf eine innere Leinwand projizieren und auf ihr betrachten, unverändert, unverbraucht. Manchmal denke ich lange nicht an sie. Aber immer kommen sie mir wieder in den Sinn, und dann kann es sein, daß ich sie mehrfach hintereinander auf die innere Leinwand projizieren und betrachten muß. Eines ist Hanna, die in der Küche die Strümpfe anzieht. Ein anderes ist Hanna, die vor der Badewanne steht und mit ausgebreiteten Händen das Frottiertuch hält. Ein weiteres ist Hanna, die Fahrrad fährt und de\ren Rock im Fahrtwind weht. Dann ist da das Bild von Hanna im Arbeitszimmer meines Vaters. Sie hat ein blau-weiß gestreiftes Kleid an, ein damals so genanntes Hemdblusenkleid. In ihm sieht sie jung aus. Sie ist mit dem Finger die Bücherrücken entlanggefahren und hat ins Fenster gekuckt. Jetzt dreht sie sich zu mir um, schnell genug, daß der Rock einen kurzen Augenblick um ihre Beine schwingt, ehe er wieder glatt hängt. Ihr Blick ist müde.


»Sind das Bücher, die dein Vater nur gelesen oder auch geschrieben hat?«

Ich wußte von einem Kant- und einem Hegel-Buch meines Vater, suchte und fand beide und zeigte sie ihr.

»Lies mir ein bißchen daraus vor. Willst du nicht, Jungchen?«

»Ich...« Ich mochte nicht, mochte ihr aber den Wunsch auch nicht abschlagen. Ich nahm das Kant-Buch meines Vaters und las ihr daraus vor, eine Passage über Analytik und Dialektik, die sie und ich gleichermaßen nicht verstanden. »Langt das?«

Sie sah mich an, als habe sie alles verstanden oder als komme es nicht darauf an, was man versteht und was nicht. »Wirst du eines Tages auch solche Bücher schreiben?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Wirst du andere Bücher schreiben?«

»Ich weiß nicht.«

»Wirst du Stücke schreiben?«

»Ich weiß nicht, Hanna.«

Sie nickte. Dann haben wir den Nachtisch gegessen und sind zu ihr gegangen. Ich hätte gerne mit ihr in meinem Bett geschlafen, aber sie wollte nicht. Sie fühlte sich bei mir zu Hause als Eindringling. Sie sagte es nicht mit Worten, aber durch die Art, mit der sie in der Küche oder in der offenen Flügeltür stand, von Zimmer zu Zimmer ging, die Bücher meines Vaters abschritt und mit mir beim Essen saß.

Ich schenkte ihr das seidene Nachthemd. Es war auberginenfarben, hatte dünne Träger, ließ Schultern und Arme frei und reichte bis an die Knöchel. Es glänzte und schimmerte. Hanna freute sich, lachte und strahlte. Sie sah an sich hinab, drehte sich, tanzte ein paar Schritte, sah sich im Spiegel, betrachtete kurz ihr Spiegelbild und tanzte weiter. Auch das ist ein Bild, das mir von Hanna geblieben ist.

13

Ich habe den Beginn eines Schuljahres immer als Einschnitt empfunden. Der Wechsel von der Unter- in die Obersekunda brachte eine besonders einschneidende Veränderung. Meine Klasse wurde aufgelöst und auf die drei Parallelklassen verteilt. Ziemlich viele Schüler hatten die Schwelle von der Unter- zur Obersekunda nicht geschafft, und so wurden vier kleine Klassen in drei große zusammengelegt.

Das Gymnasium, das ich besuchte, hatte lange nur Jungen aufgenommen. Als auch Mädchen aufgenommen wurden, waren es zunächst so wenige, daß sie nicht gleichmäßig auf die Parallelklassen verteilt, sondern nur einer, später auch zwei und drei Klassen zugewiesen wurden, bis sie jeweils ein Drittel der Klassenstärke ausmachten. So viele Mädchen, daß auch meiner alten Klasse welche zugewiesen worden wären, gab es in meinem Jahrgang nicht. Wir waren die vierte Parallelklasse, eine reine Jungenklasse. Deswegen wurden auch wir aufgelöst und verteilt und nicht eine der anderen Klassen.

Wir erfuhren davon erst bei Beginn des neuen Schuljahrs. Der Rektor bestellte uns in ein Klassenzimmer und eröffnete uns, daß und wie wir verteilt waren. Zusammen mit sechs Mitschülern ging ich über die leeren Gänge in das neue Klassenzimmer. Wir bekamen die Plätze, die übriggeblieben waren, ich einen in der zweiten Reihe. Es waren Einzelsitze, aber in drei Kolonnen standen jeweils zwei nebeneinander. Ich saß in der mittleren Kolonne. Links von mir saß ein Mitschüler aus meiner alten Klasse, Rudolf Bargen, ein schwergewichtiger, ruhiger, verläßlicher Schach- und Hockeyspieler, mit dem ich in der alten Klasse kaum zu tun gehabt hatte, aber bald gut Freund war. Rechts von mir saßen jenseits des Gangs die Mädchen.

Meine Nachbarin war Sophie. Braunhaarig, braunäugig, sommerlich gebräunt, mit goldenen Härchen auf den nackten Armen. Als ich mich gesetzt hatte und umsah, lächelte sie mich an.

Ich lächelte zurück. Ich fühlte mich gut, freute mich auf den neuen Anfang in der neuen Klasse und auf die Mädchen. Ich hatte meine Mitschüler in der Untersekunda beobachtet: Sie hatten, ob sie Mädchen in der Klasse hatten oder nicht, Angst vor ihnen, wichen ihnen aus und schnitten vor ihnen auf oder himmelten sie an. Ich kannte die Frauen und konnte gelassen und kameradschaftlich sein. Das mochten die Mädchen. Ich würde in der neuen Klasse mit ihnen zurechtkommen und dadurch auch bei den Jungen ankommen.

Geht das allen so? Ich fühlte mich, als ich jung war, immer entweder zu sicher oder zu unsicher. Entweder kam ich mir völlig unfähig, unansehnlich und nichtswürdig vor, oder ich meinte, ich sei alles in allem gelungen und mir müsse auch alles gelingen. Fühlte ich mich sicher, dann bewältigte ich die größten Schwierigkeiten. Aber das kleinste Scheitern genügte, mich von meiner Nichtswürdigkeit zu überzeugen. Die Wiedergewinnung der Sicherheit war nie das Resultat von Erfolg; hinter dem, was ich eigentlich von mir an Leistung erwartete und von anderen an Anerkennung ersehnte, blieb jeder Erfolg kläglich zurück, und ob ich diese Kläglichkeit empfand oder ob mich der Erfolg doch stolz machte, hing davon ab, wie es mir ging. Mit Hanna ging es mir über viele Wochen gut – trotz unserer Auseinandersetzungen, obwohl sie mich immer wieder zurückwies und ich mich immer wieder erniedrigte. Und so fing auch der Sommer in der neuen Klasse gut an.