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Добавлен: 22.12.2020

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Ich sehe das Klassenzimmer vor mir: vorne rechts die Tür, an der rechten Wand die Holzleiste mit den Kleiderhaken, links Fenster an Fenster und dadurch der Blick auf den Heiligenberg und, wenn wir in den Pausen an den Fenstern standen, hinunter auf die Straße, den Fluß und die Wiesen am anderen Ufer, vorne Tafel, Ständer für Landkarten und Schaubilder und Lehrerpult und -stuhl auf fußhohem Podest. Die Wände waren bis in Kopfhöhe in gelber Ölfarbe, darüber weiß gestrichen, und von der Decke hingen zwei milchige Kugellampen. Der Raum enthielt nichts Überflüssiges, keine Bilder, keine Pflanzen, keinen überzähligen Einzelsitz, keinen Schrank mit vergessenen Büchern und Heften oder farbiger Kreide. Wenn der Blick schweifte, schweifte er zum Fenster hinaus oder verstohlen zu Nachbarin und Nachbar. Wenn Sophie merkte, daß ich sie ansah, wandte sie sich mir zu und lächelte mich an.

»Berg, daß Sophia ein griechischer Name ist, ist kein Grund, daß Sie im Griechischunterricht Ihre Nachbarin studieren. Übersetzen Sie!«

Wir übersetzten die Odyssee. Ich hatte sie auf deutsch gelesen, liebte sie und liebe sie bis heute. Wenn ich drankam, brauchte ich nur Sekunden, bis ich mich zurechtfand und übersetzte. Als der Lehrer mich mit Sophie aufgezogen und die Klasse zu lachen aufgehört hatte, stotterte ich wegen etwas anderem. Nausikaa, den Unsterblichen an Wuchs und Aussehen gleichend, jungfräulich und weißarmig – sollte ich mir dabei Hanna oder Sophie vorstellen? Es mußte eine von beiden sein.

14

Wenn bei Flugzeugen die Motoren ausfallen, ist das nicht das Ende des Flugs. Die Flugzeuge fallen nicht wie Steine vom Himmel. Sie gleiten weiter, die riesengroßen, mehrstrahligen Passagierflugzeuge eine halbe bis Dreiviertelstunde lang, um dann beim Versuch des Landens zu zerschellen. Die Passagiere merken nichts. Fliegen fühlt sich bei ausgefallenen Motoren nicht anders an als bei arbeitenden. Es ist leiser, aber nur ein bißchen leiser: Lauter als die Motoren ist der Wind, der sich an Rumpf und Flügeln bricht. Irgendwann sind beim Blick durchs Fenster die Erde oder das Meer bedrohlich nah. Oder der Film läuft, und die Stewardessen und Stewards haben die Jalousien geschlossen. Vielleicht empfinden die Passagiere den ein bißchen leiseren Flug sogar als besonders angenehm.

Der Sommer war der Gleitflug unserer Liebe. Oder vielmehr meiner Liebe zu Hanna; über ihre Liebe zu mir weiß ich nichts.

Wir haben unser Ritual des Vorlesens, Duschens, Liebens und Beieinanderliegens beibehalten. Ich habe »Krieg und Frieden« vorgelesen, mit allen Darlegungen Tolstois über Geschichte, große Männer, Rußland, Liebe und Ehe, es müssen vierzig bis fünfzig Stunden gewesen sein. Wieder ist Hanna dem Fortgang des Buchs gespannt gefolgt. Aber es war anders als bisher; sie hielt sich mit ihren Urteilen zurück, machte Natascha, Andrej und Pierre nicht zum Teil ihrer Welt, wie sie das mit Luise und Emilia getan hatte, sondern betrat ihre Welt, wie man staunend eine ferne Reise tut oder ein Schloß betritt, in das man eingelassen ist, in dem man verweilen darf, mit dem man vertraut wird, ohne doch die Scheu je völlig zu verlieren. Was ich ihr bisher vorgelesen hatte, hatte ich davor schon gekannt. »Krieg und Frieden« war auch für mich neu. Wir taten die ferne Reise gemeinsam.

Wir haben Kosenamen füreinander erdacht. Sie begann, mich nicht mehr nur Jungchen zu nennen, sondern auch, mit verschiedenen Attributen und Diminutiven, Frosch oder Kröte, Welpe, Kiesel und Rose. Ich blieb bei Hanna, bis sie mich fragte: »An was für ein Tier denkst du, wenn du mich im Arm hältst, die Augen schließt und an Tiere denkst?« Ich schloß die Augen und dachte an Tiere. Wir lagen aneinandergeschmiegt, mein Kopf an ihrem Hals, mein Hals an ihren Brüsten, mein rechter Arm unter ihr und auf ihrem Rücken und mein linker auf ihrem Po. Ich strich mit Armen und Händen über ihren breiten Rücken, ihre harten Schenkel, ihren festen Po und spürte auch ihre Brüste und ihren Bauch fest an Hals und Brust. Glatt und weich fühlte sich ihre Haut an und ihr Körper darunter kraftvoll und verläßlich. Als meine Hand auf ihrer Wade lag, fühlte sie ein stetiges, zuckendes Spiel der Muskeln. Es ließ mich an das Zucken der Haut denken, mit dem Pferde Fliegen zu verscheuchen versuchen. »An ein Pferd.«

»Ein Pferd?« Sie löste sich von mir, richtete sich auf und sah mich an. Sah mich entsetzt an.

»Magst du das nicht? Ich komme drauf, weil du dich so gut anfühlst, glatt und weich und darunter fest und stark. Und weil deine Wade zuckt.« Ich erklärte ihr meine Assoziation.

Sie sah auf das Muskelspiel ihrer Waden. »Pferd«, sie schüttelte den Kopf, »ich weiß nicht...«

Das war nicht ihre Art. Sie war sonst völlig eindeutig, entweder in Zustimmung oder in Ablehnung. Ich war unter ihrem entsetzten Blick bereit gewesen, wenn's sein mußte, alles zurückzunehmen, mich anzuklagen und sie um Entschuldigung zu bitten. Aber jetzt versuchte ich, sie mit dem Pferd zu versöhnen. »Ich könnte Cheval zu dir sagen oder Hottehüh oder Equinchen oder Bukeffelchen. Ich denke bei Pferd nicht an Pferdegebiß oder Pferdeschädel oder was immer dir nicht gefällt, sondern an etwas Gutes, Warmes, Weiches, Starkes. Du bist kein Häschen oder Kätzchen, und Tigerin – da ist was drin, was Böses, was du auch nicht bist.«


Sie legte sich auf den Rücken, die Arme hinter dem Kopf. Jetzt richtete ich mich auf und sah sie an. Ihr Blick ging ins Leere. Nach einer Weile wandte sie mir ihr Gesicht zu. Sein Ausdruck war von eigentümlicher Innigkeit. »Doch, ich mag, wenn du Pferd zu mir sagst oder die anderen Pferdenamen – erklärst du sie mir?«

Einmal sind wir zusammen in der Nachbarstadt im Theater gewesen und haben »Kabale und Liebe« gesehen. Es war Hannas erster Theaterbesuch, und sie genoß alles, von der Aufführung bis zum Sekt in der Pause. Ich legte meinen Arm um ihre Taille, und mir war egal, was die Leute von uns als Paar denken mochten. Ich war stolz darauf, daß es mir egal war. Zugleich wußte ich, daß es mir im Theater in meiner Heimatstadt nicht egal gewesen wäre. Wußte sie es auch?

Sie wußte, daß mein Leben im Sommer nicht mehr nur um sie, die Schule und das Lernen kreiste. Immer öfter kam ich, wenn ich am späten Nachmittag zu ihr kam, aus dem Schwimmbad. Dort trafen sich die Klassenkameradinnen und -kameraden, machten zusammen Schulaufgaben, spielten Fuß- und Volleyball und Skat und flirteten. Dort fand das gesellschaftliche Leben der Klasse statt, und es bedeutete mir viel, dabeizusein und dazuzugehören. Daß ich, je nach Hannas Arbeit, später als die anderen kam oder früher ging, war meinem Ansehen nicht abträglich, sondern machte mich interessant. Ich wußte das. Ich wußte auch, daß ich nichts verpaßte, und hatte doch oft das Gefühl, es passiere, gerade wenn ich nicht dabei war, Wunder weiß was. Ob ich lieber im Schwimmbad wäre als bei Hanna, habe ich mich lange nicht zu fragen gewagt. Aber an meinem Geburtstag im Juli wurde ich im Schwimmbad gefeiert und nur bedauernd gehengelassen und von einer erschöpften Hanna schlecht gelaunt empfangen. Sie wußte nicht, daß mein Geburtstag war. Als ich nach ihrem gefragt und sie mir den 21. Oktober genannt hatte, hatte sie mich nach meinem nicht gefragt. Sie war auch nicht schlechter gelaunt als sonst, wenn sie erschöpft war. Aber mich ärgerte ihre schlechte Laune, und ich wünschte mich weg, ins Schwimmbad, zu den Klassenkameradinnen und -kameraden, zur Leichtigkeit unseres Redens, Scherzens, Spielens und Flirtens. Als auch ich schlecht gelaunt reagierte, wir in Streit gerieten und Hanna mich wie Luft behandelte, kam wieder die Angst, sie zu verlieren, und ich erniedrigte und entschuldigte mich, bis sie mich zu sich nahm. Aber ich war voll Groll.

15

Dann habe ich begonnen, sie zu verraten.

Nicht daß ich Geheimnisse preisgegeben oder Hanna bloßgestellt hätte. Ich habe nichts offenbart, was ich hätte verschweigen müssen. Ich habe verschwiegen, was ich hätte offenbaren müssen. Ich habe mich nicht zu ihr bekannt. Ich weiß, das Verleugnen ist eine unscheinbare Variante des Verrats. Von außen ist nicht zu sehen, ob einer verleugnet oder nur Diskretion übt, Rücksicht nimmt, Peinlichkeiten und Ärgerlichkeiten meidet. Aber der, der sich nicht bekennt, weiß es genau. Und der Beziehung entzieht das Verleugnen ebenso den Boden wie die spektakulären Varianten des Verrats.

Ich weiß nicht mehr, wann ich Hanna erstmals verleugnet habe. Aus der Kameradschaft der sommerlichen Nachmittage im Schwimmbad entwickelten sich Freundschaften. Außer meinem Banknachbarn, den ich aus der alten Klasse kannte, mochte ich in der neuen Klasse besonders Holger Schlüter, der sich wie ich für Geschichte und Literatur interessierte und mit dem der Umgang rasch vertraut wurde. Vertraut wurde er bald auch mit Sophie, die wenige Straßen weiter wohnte und mit der ich daher den Weg zum Schwimmbad gemeinsam hatte. Zunächst sagte ich mir, die Vertrautheit mit den Freunden sei noch nicht groß genug, um von Hanna zu erzählen. Dann fand ich nicht die richtige Gelegenheit, die richtige Stunde, das richtige Wort. Schließlich war es zu spät, von Hanna zu erzählen, sie mit den anderen jugendlichen Geheimnissen zu präsentieren. Ich sagte mir, so spät von ihr zu erzählen, müsse den falschen Eindruck erwecken, ich hätte Hanna so lange verschwiegen, weil unsere Beziehung nicht recht sei und ich ein schlechtes Gewissen hätte. Aber was ich mir auch vormachte – ich wußte, daß ich Hanna verriet, wenn ich tat, als ließe ich die Freunde wissen, was in meinem Leben wichtig war, und über Hanna schwieg.

Daß sie merkten, daß ich nicht ganz offen war, machte es nicht besser. An einem Abend gerieten Sophie und ich bei der Heimfahrt in ein Gewitter und stellten uns im Neuenheimer Feld, in dem damals noch nicht Gebäude der Universität, sondern Felder und Gärten lagen, unter das Vordach eines Gartenhauses. Es blitzte und donnerte, stürmte und regnete in dichten, schweren Tropfen. Zugleich fiel die Temperatur um wohl fünf Grad. Wir froren, und ich legte den Arm um sie.

»Du?« Sie sah mich nicht an, sondern hinaus in den Regen.

»Ja?«

»Du warst doch lange krank, Gelbsucht. Ist es das, was dir zu schaffen macht? Hast du Angst, daß du nicht mehr richtig gesund wirst? Haben die Ärzte was gesagt? Und mußt du jeden Tag in die Klinik, Blut austauschen oder Infusionen kriegen?«


Hanna als Krankheit. Ich schämte mich. Aber von Hanna reden konnte ich erst recht nicht. »Nein, Sophie. Ich bin nicht mehr krank. Meine Leberwerte sind normal, und in einem Jahr dürfte ich sogar Alkohol trinken, wenn ich wollte, aber ich will nicht. Was mir...« Ich mochte, wo es um Hanna ging, nicht sagen: was mir zu schaffen macht. »Warum ich später komme oder früher gehe, ist was anderes.«

»Möchtest du nicht darüber reden, oder möchtest du eigentlich schon und weißt nicht, wie?«

Mochte ich nicht, oder wußte ich nicht, wie? Ich konnte es selbst nicht sagen. Aber wie wir da standen, unter den Blitzen, dem hell und nah knatternden Donner und dem prasselnden Regen gemeinsam frierend, einander ein bißchen wärmend, hatte ich das Gefühl, daß ich ihr, gerade ihr von Hanna erzählen müßte. »Vielleicht kann ich ein andermal darüber reden.«

Aber es kam nie dazu.

16

Ich habe nie erfahren, was Hanna machte, wenn sie weder arbeitete noch wir zusammen waren. Fragte ich danach, wies sie meine Frage zurück. Wir hatten keine gemeinsame Lebenswelt, sondern sie gab mir in ihrem Leben den Platz, den sie mir geben wollte. Damit hatte ich mich zu begnügen. Wenn ich mehr haben und nur schon mehr wissen wollte, war's vermessen. Waren wir besonders glücklich zusammen und fragte ich aus dem Gefühl, jetzt sei alles möglich und erlaubt, dann konnte es vorkommen, daß sie meiner Frage auswich, statt sie zurückzuweisen. »Was du alles wissen willst, Jungchen!« Oder sie nahm meine Hand und legte sie auf ihren Bauch. »Möchtest du, daß er Löcher kriegt?« Oder sie zählte an ihren Fingern. »Ich muß waschen, ich muß bügeln, ich muß fegen, ich muß wischen, ich muß kaufen, ich muß kochen, ich muß die Pflaumen schütteln, auflesen, nach Hause tragen und schnell einkochen, sonst ißt der Kleine«, sie nahm den kleinen Finger ihrer Linken zwischen den rechten Daumen und Zeigefinger, »sonst ißt er sie ganz allein auf.«

Ich habe sie auch nie zufällig getroffen, auf der Straße oder in einem Geschäft oder im Kino, wohin sie, wie sie sagte, gerne und oft ging und wohin ich in den ersten Monaten immer wieder mit ihr zusammen gehen wollte, aber sie wollte nicht. Manchmal redeten wir über Filme, die wir beide gesehen hatten. Sie ging eigentümlich wahllos ins Kino und sah alles, vom deutschen Kriegs- und Heimatfilm über den Wildwestfilm bis zur Nouvelle vague, und ich mochte, was aus Hollywood kam, egal ob's im alten Rom oder im Wilden Westen spielte. Einen Wildwestfilm liebten wir beide besonders; Richard Widmark spielt einen Sheriff, der am nächsten Morgen ein Duell bestehen muß und nur verlieren kann und am Abend an die Tür von Dorothy Malone klopft, die ihm vergebens zu fliehen geraten hat. Sie macht auf. »Was willst du jetzt? Dein ganzes Leben in einer Nacht?« Hanna neckte mich manchmal, wenn ich zu ihr kam und voller Verlangen war. »Was willst du jetzt? Dein ganzes Leben in einer Stunde?«

Ich sah Hanna nur einmal unverabredet. Es war Ende Juli oder Anfang August, die letzten Tage vor den großen Ferien.

Hanna war tagelang in sonderbarer Stimmung gewesen, launisch und herrisch und zugleich spürbar unter einem Druck, der sie aufs äußerste quälte und empfindlich, verletzlich machte. Sie nahm, sie hielt sich zusammen, als müsse sie verhindern, unter dem Druck zu zerspringen. Auf meine Frage, was sie quäle, reagierte sie unwirsch. Ich kam damit nicht gut zurecht. Immerhin spürte ich nicht nur meine Zurückweisung, sondern auch ihre Hilflosigkeit und versuchte, für sie dazusein und sie zugleich in Ruhe zu lassen. Eines Tages war der Druck weg. Zuerst dachte ich, Hanna sei wieder wie immer. Wir hatten nach dem Ende von »Krieg und Frieden« nicht sogleich ein neues Buch begonnen, ich hatte versprochen, mich darum zu kümmern, und hatte mehrere Bücher zur Auswahl dabei.

Aber sie wollte nicht. »Laß mich dich baden, Jungchen.«

Es war nicht die sommerliche Schwüle, die sich beim Betreten der Küche wie ein schweres Gewebe auf mich gelegt hatte. Hanna hatte den Badeofen angemacht. Sie ließ das Wasser einlaufen, gab ein paar Tropfen Lavendel dazu und wusch mich. Die blaßblaue, geblümte Kittelschürze, unter der sie keine Wäsche trug, klebte in der heißen, feuchten Luft an ihrem schwitzenden Körper. Sie erregte mich sehr. Als wir uns liebten, hatte ich das Gefühl, sie wolle mich zu Empfindungen jenseits alles bisher Empfundenen treiben, dahin, wo ich's nicht mehr aushalten konnte. Auch ihre Hingabe war einzig. Nicht rückhaltlos; ihren Rückhalt hat sie nie preisgegeben. Aber es war, als wolle sie mit mir zusammen ertrinken.

»Jetzt ab zu deinen Freunden.« Sie verabschiedete mich, und ich fuhr. Die Hitze stand zwischen den Häusern, lag über den Feldern und Gärten und flimmerte über dem Asphalt. Ich war benommen. Im Schwimmbad drang das Geschrei der spielenden und planschenden Kinder an mein Ohr, als komme es aus ferner Ferne. Überhaupt ging ich durch die Welt, als gehöre sie nicht zu mir und ich nicht zu ihr. Ich tauchte in das chlorige, milchige Wasser und hatte kein Bedürfnis, wieder aufzutauchen. Ich lag bei den anderen, hörte ihnen zu und fand, was sie redeten, lächerlich und nichtig.


Irgendwann war die Stimmung verflogen. Irgendwann wurde es ein normaler Nachmittag im Schwimmbad mit Hausaufgaben und Volleyball und Tratsch und Flirt. Ich habe keine Erinnerung daran, womit ich gerade beschäftigt war, als ich aufblickte und sie sah.

Sie stand zwanzig bis dreißig Meter entfernt, in Shorts und offener, in der Taille geknoteter Bluse, und schaute zu mir herüber. Ich schaute zurück. Ich konnte über die Entfernung den Ausdruck ihres Gesichts nicht lesen. Ich bin nicht aufgesprungen und zu ihr gelaufen. Mir ging durch den Kopf, warum sie im Schwimmbad ist, ob sie von mir und mit mir gesehen werden will, ob ich mit ihr gesehen werden will, daß wir uns noch nie zufällig getroffen haben, was ich tun soll. Dann stand ich auf. In dem kurzen Moment, in dem ich dabei meinen Blick von ihr ließ, ist sie gegangen.

Hanna in Shorts und geknoteter Bluse, mir ihr Gesicht zugewandt, das ich nicht lesen kann – auch das ist ein Bild, das ich von ihr habe.

17

Am nächsten Tag war sie weg. Ich kam zur üblichen Stunde und klingelte. Ich sah durch die Tür, alles sah aus wie sonst, und ich hörte die Uhr ticken.

Wieder setzte ich mich auf die Treppenstufen. In den ersten Monaten hatte ich immer gewußt, auf welchen Strecken sie eingesetzt war, auch wenn ich sie nie mehr zu begleiten oder auch nur abzuholen versucht hatte. Irgendwann hatte ich nicht mehr danach gefragt, mich nicht mehr dafür interessiert. Es fiel mir erst jetzt auf.

Von der Telephonzelle am Wilhelmsplatz rief ich die Straßen- und Bergbahngesellschaft an, wurde ein paarmal weiterverbunden und erfuhr, daß Hanna Schmilz nicht zur Arbeit gekommen war. Ich ging zurück in die Bahnhofstraße, fragte in der Schreinerei im Hof nach dem Eigentümer des Hauses und bekam einen Namen und eine Adresse in Kirchheim. Ich fuhr dorthin.

»Frau Schmitz? Die ist heute morgen ausgezogen.«

»Und ihre Möbel?«

»Das sind nicht ihre Möbel.«

»Seit wann hat sie in der Wohnung gewohnt?«

»Was geht das Sie an?« Die Frau, die sich mit mir durch ein Fenster in der Tür unterhalten hatte, machte das Fenster zu.

Im Verwaltungsgebäude der Straßen- und Bergbahngesellschaft fragte ich mich zur Personalabteilung durch. Der Zuständige war freundlich und besorgt.

»Sie hat heute morgen angerufen, rechtzeitig, daß wir die Vertretung organisieren konnten, und gesagt, daß sie nicht mehr kommt. Gar nicht mehr.« Er schüttelte den Kopf. »Vor vierzehn Tagen saß sie hier, auf Ihrem Stuhl, und ich habe ihr angeboten, daß wir sie zur Fahrerin ausbilden, und sie schmeißt alles hin.«

Erst Tage später habe ich daran gedacht, zum Einwohnermeldeamt zu gehen. Sie hatte sich nach Hamburg abgemeldet, ohne Angabe einer Anschrift.

Tagelang war mir schlecht. Ich achtete darauf, daß Eltern und Geschwister nichts merkten. Bei Tisch redete ich ein bißchen mit, aß ein bißchen mit und schaffte es, wenn ich mich übergeben mußte, bis zum Klo. Ich ging in die Schule und ins Schwimmbad. Dort verbrachte ich die Nachmittage an einer abgelegenen Stelle, wo mich niemand suchte. Mein Körper sehnte sich nach Hanna. Aber schlimmer als die körperliche Sehnsucht war das Gefühl der Schuld. Warum war ich, als sie da stand, nicht sofort aufgesprungen und zu ihr gelaufen! In der einen kleinen Situation bündelte sich für mich die Halbherzigkeit der letzten Monate, aus der heraus ich sie verleugnet, verraten hatte. Zur Strafe dafür war sie gegangen.

Manchmal versuchte ich, mir einzureden, daß nicht sie es war, die ich gesehen hatte. Wie konnte ich sicher sein, daß sie es war, wo ich doch das Gesicht nicht richtig erkannt hatte? Hätte ich, wenn sie es gewesen war, ihr Gesicht nicht erkennen müssen? Konnte ich also nicht sicher sein, daß sie es nicht gewesen sein konnte?

Aber ich wußte, daß sie es war. Sie stand und sah – und es war zu spät.




ZWEITER TEIL

1

Nachdem Hanna die Stadt verlassen hatte, dauerte es eine Weile, bis ich aufhörte, überall nach ihr Ausschau zu halten, bis ich mich daran gewöhnte, daß die Nachmittage ihre Gestalt verloren hatten, und bis ich Bücher ansah und aufschlug, ohne mich zu fragen, ob sie zum Vorlesen geeignet wären. Es dauerte eine Weile, bis mein Körper sich nicht mehr nach ihrem sehnte; manchmal merkte ich selbst, wie meine Arme und Beine im Schlaf nach ihr tasteten, und mehrmals gab mein Bruder bei Tisch zum besten, ich hätte im Schlaf »Hanna« gerufen. Ich erinnere mich auch an Schulstunden, in denen ich nur von ihr träumte, nur an sie dachte. Das Gefühl einer Schuld, das mich in den ersten Wochen gequält hatte, verlor sich. Ich mied ihr Haus, nahm andere Wege, und nach einem halben Jahr zog meine Familie in einen anderen Stadtteil. Nicht daß ich Hanna vergessen hätte. Aber irgendwann hörte die Erinnerung an sie auf, mich zu begleiten. Sie blieb zurück, wie eine Stadt zurückbleibt, wenn der Zug weiterfährt. Sie ist da, irgendwo hinter einem, und man könnte hinfahren und sich ihrer versichern. Aber warum sollte man.

Ich habe die letzten Jahre auf der Schule und die ersten auf der Universität als glückliche Jahre in Erinnerung. Zugleich kann ich nur wenig über sie sagen. Sie waren mühelos; das Abitur und das aus Verlegenheit gewählte Studium der Rechtswissenschaft fielen mir nicht schwer, Freundschaften, Liebschaften und Trennungen fielen mir nicht schwer, nichts fiel mir schwer. Alles fiel mir leicht, alles wog leicht. Vielleicht ist das Erinnerungspäckchen deshalb so klein. Oder halte ich es klein? Ich frage mich auch, ob die glückliche Erinnerung überhaupt stimmt. Wenn ich länger zurückdenke, kommen mir genug beschämende und schmerzliche Situationen in den Sinn und weiß ich, daß ich die Erinnerung an Hanna zwar verabschiedet, aber nicht bewältigt hatte. Mich nach Hanna nie mehr demütigen lassen und demütigen, nie mehr schuldig machen und schuldig fühlen, niemanden mehr so lieben, daß ihn verlieren weh tut – ich habe das damals nicht in Deutlichkeit gedacht, aber mit Entschiedenheit gefühlt.


Ich gewöhnte mir ein großspuriges, überlegenes Gehabe an, ich präsentierte mich als einen, den nichts berührt, erschüttert, verwirrt. Ich ließ mich auf nichts ein, und ich erinnere mich an einen Lehrer, der das durchschaute, mich darauf ansprach und den ich arrogant abfertigte. Ich erinnere mich auch an Sophie. Bald nachdem Hanna die Stadt verlassen hatte, wurde bei Sophie Tuberkulose diagnostiziert. Sie verbrachte drei Jahre im Sanatorium und kam zurück, als ich gerade Student geworden war. Sie fühlte sich einsam, suchte den Kontakt zu alten Freunden, und ich hatte es nicht schwer, mich in ihr Herz zu drängen. Nachdem wir zusammen geschlafen hatten, merkte sie, daß es mir nicht wirklich um sie zu tun war, und sagte unter Tränen: »Was ist mit dir passiert, was ist mit dir passiert.« Ich erinnere mich an meinen Großvater, der mich bei einem meiner letzten Besuche vor seinem Tod segnen wollte und dem ich erklärte, ich glaube nicht daran und lege darauf keinen Wert. Daß ich mich nach solchem Verhalten damals gut gefühlt haben soll, ist mir schwer vorstellbar. Ich erinnere mich auch daran, daß ich angesichts kleiner Gesten liebevoller Zuwendung einen Kloß im Hals spürte, ob die Gesten mir galten oder jemand anderem. Manchmal genügte eine Szene in einem Film. Dieses Nebeneinander von Kaltschnäuzigkeit und Empfindsamkeit war mir selbst suspekt.

2

Ich sah Hanna im Gerichtssaal wieder.

Es war nicht der erste KZ-Prozeß und keiner der großen. Der Professor, einer der wenigen, die damals über die Nazi-Vergangenheit und die einschlägigen Gerichtsverfahren arbeiteten, hatte ihn zum Gegenstand eines Seminars gemacht, weil er hoffte, ihn mit Hilfe von Studenten über die ganze Dauer verfolgen und auswerten zu können. Ich weiß nicht mehr, was er überprüfen, bestätigen oder widerlegen wollte. Ich erinnere mich, daß im Seminar über das Verbot rückwirkender Bestrafung diskutiert wurde. Genügt es, daß der Paragraph, nach dem die KZ-Wächter und -Schergen verurteilt werden, schon zur Zeit ihrer Taten im Strafgesetzbuch stand, oder kommt es darauf an, wie er zur Zeit ihrer Taten verstanden und angewandt und daß er damals eben nicht auf sie bezogen wurde? Was ist das Recht? Was im Buch steht oder was in der Gesellschaft tatsächlich durchgesetzt und befolgt wird? Oder ist Recht, was, ob es im Buch steht oder nicht, durchgesetzt und befolgt werden müßte, wenn alles mit rechten Dingen zuginge? Der Professor, ein alter Herr, aus der Emigration zurückgekehrt, aber in der deutschen Rechtswissenschaft ein Außenseiter geblieben, nahm an diesen Diskussionen mit all seiner Gelehrsamkeit und zugleich mit der Distanz dessen teil, der für die Lösung eines Problems nicht mehr auf Gelehrsamkeit setzt. »Sehen Sie sich die Angeklagten an – Sie werden keinen finden, der wirklich meint, er habe damals morden dürfen.«

Das Seminar begann im Winter, die Gerichtsverhandlung im Frühjahr. Sie zog sich über viele Wochen hin. Verhandelt wurde montags bis donnerstags, und für jeden dieser vier Tage hatte der Professor eine Gruppe von Studenten eingeteilt, die ein wörtliches Protokoll führten. Am Freitag war Seminarsitzung und wurden die Ereignisse der vergangenen Woche aufgearbeitet.

Aufarbeitung! Aufarbeitung der Vergangenheit! Wir Studenten des Seminars sahen uns als Avantgarde der Aufarbeitung. Wir rissen die Fenster auf, ließen die Luft herein, den Wind, der endlich den Staub aufwirbelte, den die Gesellschaft über die Furchtbarkeiten der Vergangenheit hatte sinken lassen. Wir sorgten dafür, daß man atmen und sehen konnte. Auch wir setzten nicht auf juristische Gelehrsamkeit. Daß verurteilt werden müsse, stand für uns fest. Ebenso fest stand für uns, daß es nur vordergründig um die Verurteilung dieses oder jenes KZ-Wächters und -Schergen ging. Die Generation, die sich der Wächter und Schergen bedient oder sie nicht gehindert oder sie nicht wenigstens ausgestoßen hatte, als sie sie nach 1945 hätte ausstoßen können, stand vor Gericht, und wir verurteilten sie in einem Verfahren der Aufarbeitung und Aufklärung zu Scham.

Unsere Eltern hatten im Dritten Reich ganz verschiedene Rollen gespielt. Manche Väter waren im Krieg gewesen, darunter zwei oder drei Offiziere der Wehrmacht und ein Offizier der Waffen-SS, einige hatten Karrieren in Justiz und Verwaltung gemacht, wir hatten Lehrer und Ärzte unter unseren Eltern, und einer hatte einen Onkel, der hoher Beamter beim Reichsminister des Inneren gewesen war. Ich bin sicher, daß sie, soweit wir sie gefragt und sie uns geantwortet haben, ganz Verschiedenes mitzuteilen hatten. Mein Vater wollte nicht über sich reden. Aber ich wußte, daß er seine Stelle als Dozent der Philosophie wegen der Ankündigung einer Vorlesung über Spinoza verloren und sich und uns als Lektor eines Verlags für Wanderkarten und -bücher durch den Krieg gebracht hatte. Wie kam ich dazu, ihn zu Scham zu verurteilen? Aber ich tat es. Wir alle verurteilten unsere Eltern zu Scham, und wenn wir sie nur anklagen konnten, die Täter nach 1945 bei sich, unter sich geduldet zu haben.