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Добавлен: 14.11.2024
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11
Der alte Motte haute auf den Tisch. »Spielverderber«, sagte einer.
»So geht das nicht, Jungs. Wir müssen hier Ordnung hineinbringen.«
»Bö, Ordnung«, sagte Jon und kratzte sich am Kopf. »Das haben unsere Eltern versucht, dann unsere Lehrer und jetzt…« »Aber jetzt«, sagte der Alte, »jetzt versuchen wir es zusammen.« Er klopfte auf den Tisch. Alles wurde still. »Heil Hitler!« sagte er und hob den Arm. »Und ihr antwortet dabei
auch mit ›Heil Hitler!‹ und redet mich mit ›Herr Motte‹ an.« »Seh ich nicht ein«, sagte Jon. Er wollte aufstehen, wollte
zum Bahnhof gehen. »Da ist wenigstens was los, wissen Sie, Herr Motte, wenn Sie das schon so hören wollen. Solche Versuche haben wir schon jede Menge hinter uns, das wollen wir nicht.« Und er grinste und ging.
»Ihr wollt doch die alte Ordnung«, sagte der Alte. »Aber ihr selbst wollt euch an keine Ordnung halten.«
Komischerweise saßen die andern jetzt seltsam gespannt da. Sie saßen um den Tisch, aufrecht, und sie waren einfach gespannt.
Der alte Motte ließ sich nicht so schnell beirren. »Fangen wir noch einmal an«, sagte er. »Heil Hitler!«, und er streckte seinen Arm aus.
»Heil Hitler!« riefen wir alle im Chor, standen auf und streckten den Arm aus. Das machte wieder Jux. Mal einfach so.
»Jungs«, sagte er, »wir haben zwar heute keinen richtigen Kameradschaftsabend, aber vielleicht ist es wichtig, daß wir
uns Gedanken machen, warum wir hier eigentlich zusammen sind und was wir wollen.«
»Saufen«, sagte einer, aber der Alte ließ sich nicht beirren. »Wenn wir hier nämlich zusammen sind, gehört dazu eine gewisse Ordnung. Diese Ordnung gibt uns Zusammenhalt. Das müssen wir als erstes kapieren. Und nur dann, wenn wir in dieser Ordnung leben und diesen Zusammenhalt haben, können wir etwas tun für Deutschland, für unser Land.«
Jetzt hörten wirklich alle zu. Es war gespannte Stille.
»Wenn wir in dieser Ordnung leben«, fuhr der Alte fort, »dann müssen Befehle gegeben werden und Befehle ohne Widerrede befolgt werden. Das ist das Grundprinzip eines jeden Zusammenlebens. Auch eines ganzen Volkes. Und Befehle müssen befolgt werden, ohne daß alle erst einmal wenn und aber und warum schreien. Ein Befehl ist ein Befehl, und Ordnung ist Ordnung.«
In dem Augenblick schaute ich Andy an. Der Satz hatte mich daran erinnert, wie Andy gesagt hatte: »Mensch ist Mensch.« Und ich hatte gesagt: »Nein, ein Deutscher ist ein Deutscher, und ein Türke ist ein Türke.«
Der Alte hörte jetzt auf. Er war schlau. »Immer nur schluckweise«, hatte er mal gesagt. »Dann packen wir die.«
Er sagte, er freue sich, daß wir zusammen wären, und jetzt sollten wir zum gemütlichen Teil des Abends übergehen. Zum Abschluß sagte er: »Heil Hitler!«, und alle hoben die Hand und sagten: »Heil Hitler!« Komisch war das schon, aber es zog.
»Übrigens«, fragte er dann, ob wir etwas dagegen hätten, daß er zu unseren Kameradschaftsabenden noch zwei Jungs mitbrächte, aus einer Gruppe, die er schon lange leite. »Nette Kerle«, sagte er, »die gefallen euch bestimmt.«
Was sollten wir dagegen haben?
Sie waren dann häufiger bei uns. Sie hatten wirklich Ahnung, von Rassenkunde, Drittem Reich, Hitlerreden. Sogar »Mein Kampf« hatten die drauf.
Der eine hieß Bernd. Der ging noch zur Schule. Zehnte Klasse. War 16 oder 17. Der hatte immer ein kleines Heft bei sich und schrieb sich alles, was wichtig war, auf. Auch kleine Leitsätze. Steter Tropfen höhlt den Stein, sagte er. Kleine Zitate erhellen und erklären den Alltag.
Ich schielte nur mal so in sein Heft: Ordnung ist die Grundlage eines jeden Zusammenlebens. Oder: Es gibt verschiedene Rassen, und das ist das eherne Gesetz der Welt. Darunter eingerahmt: Das Germanische stellt die Herrenrasse dar.
Wir haben auch sehr viele Lieder gehört. Die, die mich am meisten beeindruckt haben, sind:
Hängt dem Adolf Hitler, hängt dem Adolf Hitler, hängt dem Adolf Hitler den Nobelpreis um! Hißt die rote Fahne, hißt die rote Fahne,
hißt die rote Fahne mit dem Hakenkreuz!
Schon als kleiner Junge, da war es mir klar, daß dieses Symbol leitend für mich war. Und heut, da stehe ich noch voll dazu,
es gibt nur eines, und das bist du. Für mich gilt es auch noch heut: Rasse, Stolz und Hakenkreuz!
Hängt dem Adolf Hitler, hängt dem Adolf Hitler, hängt dem Adolf Hitler den Nobelpreis um! Hißt die rote Fahne, hißt die rote Fahne,
hißt die rote Fahne mit dem Hakenkreuz! Rache für Heß, Rache für Heß, Rache für Heß!
Und:
Muselmann, o Muselmann, du Haufen Scheiße, schau dich mal an.
Du bist nur ein Schwein, das nach Knoblauch stinkt. Wieviel Deutsche hast du schon abgelinkt?
Die Lieder machten was mit mir. Das war stärker als alle Informationen. Ohrwürmer. Diese Musik ging einfach rein, ganz tief rein. Die Rhythmen, die Texte, die Worte, der Haß. Das ging rein wie Butter. Das turnte an! Und wenn man das alles in sich hatte, dann ging das mit einem um. Das gehörte hinein, in die Sicht der Welt.
Es gibt auch Lieder, die ich nicht so mag. Eines, was Dolfi immer johlte:
Kanaken-Fotzen mag ich nicht,
ich scheiß den Kanaken ins Gesicht Kanaker raus aus diesem Land,
wir nehmen das Recht in unsere Hand.
12
Etwas veränderte sich in dieser Zeit. Unser Zusammensein war anders, unsere ganze Truppe war anders. Daß der alte Motte seine Jungs mitbrachte, wie er sie immer nannte, war nicht der einzige Grund. Es war mehr.
Untereinander grüßten wir mit dem Hitlergruß. Draußen hoben wir nur den Arm. Aber es war noch mehr. Wir hatten plötzlich ein Ziel. Aber das war noch nicht alles. Wir hatten jetzt ein gemeinsames Ziel. Wir waren eine Einheit.
Wir hatten allmählich wieder einen Glauben. Und wenn du den hast, den Glauben an etwas, dann steht alles andere drum herum. Und das, an das du glaubst, ist Mittelpunkt. Dafür lebst du. Und alles andere wird klein daneben. Das war es. Und: Wir glaubten an uns, weil jemand an uns glaubte.
An einem Abend war der alte Motte da und hatte ein Wort an die Wand geschrieben: Stärke. Mitten an die Wand.
»Stärke«, sagte er. »Stark sein wollen alle. Stärke will die kriminelle Ausländer-Mafia. Stärke wollen die Ausländer.
Stärke wollen die Politiker. Stärke wollen auch wir. Denn wer stark ist, ist wichtig. Wer stark ist, wird gehört.
Wie kommen wir zu Stärke? – Durch Ordnung. Das ist der erste Schritt.
Ich verlange von euch, daß ihr mich grüßt mit ›Herr Motte‹, daß ihr mit mir redet ›Herr Motte‹ und ›Ja, Herr Motte‹. Ich will, daß ihr eine stramme Haltung einnehmt dabei. Das ist Ordnung. Das hat unser Führer auch so gewollt. Unser Gruß soll sein ›Heil Hitler‹. Und auf der Straße, wo wir diesen Gruß
noch nicht offen zeigen dürfen: ein Heben der rechten Hand, ein fester Blick in die Augen.« Und er schrieb neben das Wort
Stärke das Wort Ordnung.
Wir machten dazu verschiedene Übungen. Haltungsübungen: Wir mußten aufstehen und grüßen. Grußübungen: Wir mußten alle gemeinsam den Gruß sprechen. Verabschiedungsübungen: Da sagte er: »Heil Hitler, der Herr segne unseren Kampf.«
Wir machten mit. Es war eine Faszination da an diesem Abend. Begeisterung. So, als hätten wir alle darauf gewartet, daß uns endlich mal einer an die Hand nähme.
Am nächsten Abend setzte der alte Motte das Wort
Zusammenhalt unter Stärke und Ordnung.
»Nur zusammen sind wir stark«, sagte er. »Das ist«, las er aus Hitlers »Mein Kampf« vor, »tiefstes soziales Verantwortungsgefühlgepaart mit brutaler Entschlossenheit in der Niederbrechung unverbesserlicher Auswüchslinge. Und die Auswüchslinge«, fügte er hinzu, »das sind die Ausländer, die Kanaken, der Jude; da ist Weichheit am falschen Platz.
Hier liegt eine Mission unserer Bewegung. Sie muß unser Volk lehren, über Kleinigkeiten hinweg aufs Größte zu sehen, sich nicht in Nebensächlichkeiten zu zersplittern.« Und er las weiter: »Der Schutz der neuen Ideen muß, wenn notwendig auch durch brachiale Mittel gesichert werden. Also Waffen, Messer, Gewalt sind erlaubt, wenn die Idee dahintersteht. Was sollen wir mit der Lügenwirtschaft und unserem Sprachtohuwabohu, das uns unsere Kultur zerfrißt und zerfetzt? Was sollen wir dem Zerfall unserer Kultur zusehen, der dem Zerfall des Babylonischen Reiches ähnelt? Die Stunde des Deutschtums ist gekommen, und fremde Elemente müssen ausgemerzt werden! Wir wollen die alte Ordnung. Wir wollen eine neue Ordnung! Beides!« Was in uns vorging, ist kaum zu beschreiben: ein Aufatmen, ein Straffen, eine Konzentration, ein Ziel. Und mitten auf unserer Wand stand:
Deutschtum
Stärke – Ordnung
Gewalt – Feind
Zusammenhalt
Das waren die Dinge, auf die wir uns jetzt konzentrierten. Klar, daß es auch Zoff gab. Im Hintergrund spielte das Lied »Blut und Ehre«:
In der Schule lernt man nur noch, über Deutschland zu fluchen. Immer nur die Schuld bei uns
und niemals bei den Schuldigen zu suchen.
Doch nicht mit uns, denn bei uns zählen andere Werte, wir sind stolz, denn wir glauben an Blut und Ehre.
»Wer ist denn schuldig?« fragte Kühler.
Da ging der Alte hoch. »Jahrelang haben sie uns eingeredet, wir seien schuldig! Aber das stimmt nicht! Hitler hatte die richtigen Ziele im Auge, das sagt doch das gesunde Volksempfinden!«
»Und was ist das«, fragte Kühler, »das gesunde Volksempfinden, was ist das?« Der konnte manchmal unheimlich cool drauf sein.
»Was ist das, was ist das!« schrie der Alte. »Wenn der Führer jetzt hier stünde, würde er sagen: Und wir werden es ihnen einhämmern, Stunde für Stunde, Tag für Tag!« Er beruhigte sich wieder und sagte ruhiger: »Das gesunde Volksempfinden, das hast du hier in dir« – und er klopfte sich an die Brust – »das ist das Empfinden, was du mitbekommst in diesem unserem Land. Das ist das, was dir den Weg zeigt: das gesunde Volksempfinden.«
13
In dieser Zeit waren Andy und ich viel zusammen. Ich brachte ihn mit zu Scheuerer. Und oft arbeiteten wir nachmittags zusammen. Andy ging es ähnlich wie mir, nur daß Andy häufig Fragen stellte. Und Scheuerer ging ziemlich geduldig auf diese Fragen ein.
Nur einmal, als wir über Juden redeten, platzte ihm der Kragen. Er hatte uns vom Weltjudentum erzählt. Auch von einem Prozeß, der in Stuttgart anlief. Da habe ein ehemaliger Lagerinsasse gegen den Lügnerjuden Wiesenthal ausgesagt. Der Lagerinsasse habe gesagt, in Auschwitz habe man gewohnt. Es sei gearbeitet worden. Mehr nicht. Und der Lügnerjude Simon Wiesenthal hätte gesagt: »Das stimmt nicht!«
An der Stelle hatte Andy ihn unterbrochen. »Nicht alle Juden sind schlecht«, sagte er. »Was ist denn mit Einstein?«
Da schrie Scheuerer: »Geht weg mit eurer jüdischen Physik und eurer jüdischen Mathematik.«
Der Andy hat nur noch gefragt, seit wann es denn eine französische oder deutsche oder jüdische Physik gebe.
»Das ist doch was anderes«, schrie Scheuerer zurück.
»Das versteht ihr noch nicht. Und Juden sind Juden. Und die sind minderwertig. Ihr müßt rassisch denken!« Sonst war Scheuerer immer geduldig, erstaunlich geduldig. Er sagte immer wieder: »Steter Tropfen höhlt den Stein.« Das war sein Leitspruch.
Kurz darauf zogen wir zu fünft durch die Stadt, als Andy mich plötzlich anstieß: »Mein Vater.« Er zeigte auf einen Mann, mit dem Andy ganz starke Ähnlichkeit hatte. Auch dieses feine, weiche Gesicht, das man bei Andys Kahlkopf noch gut sah, während die meisten Skingesichter doch massig und fleischig wirken.
Der Vater ging auf Andy zu. Begrüßte ihn. Andy gab ihm keine Hand, sah ihn nur an.
Der Vater schaute mich an.
»Das ist Wolf Schwarzer«, sagte Andy.
»Kannst ja mal zu mir kommen mit ihm«, sagte der Vater. »O.K.«, sagte Andy. Für mich überraschend. Aber Andy
hatte in letzter Zeit manchmal überlegt, ob er nicht besser nach Hause zurückginge. »Da laß ich mir die Haare ‘n bißchen wachsen, hab aber ein Zimmer für mich.« Er war immer in dem Keller und kriegte die Kameradschaftsabende mit, unsern Zoff, die Besäufnisse, die Züge durch die Stadt. Er kriegte alles mit. Vielleicht war das zuviel.
»O. K.«, sagte er noch einmal.
»Morgen?« fragte der Vater. »19 Uhr, Abendessen?« Wir nickten und gingen.
»Der ist doch in Ordnung!« sagte ich. »Ist aber ein Sozi«, entgegnete Andy.
»Na ja«, sagte ich, weil ich sonst nichts mehr wußte. Wir standen inzwischen vorm Bahnhof.
»Dahinten ist eben ‘n dicker Rauschgifthandel aufgeflogen«, sagte Dolf. »Kommt, wir gehen mal hin, ob wir noch einen aufklatschen können, den die Polizei nicht kassiert hat. Ich hätte Lust auf 5n Neger. Prost!« Er hob seine Bierflasche.
Aber der Bahnhof wimmelte von Bullen. Die guckten uns auch noch an. Mißtrauisch. Wir haben uns schnell verdrückt. Immerhin suchten sie nach dem Türkenmörder. Auch wenn Schneider schon kassiert war.
»Gut, daß die Rechten so total gegen Rauschgift sind«, sagte Andy. »Das find ich gut. Super. Die Dealer sollten sie aufhängen. In Gaskammern stecken«, sagte Andy. »Dann wäre Schluß damit. Aus, vorbei. Zack.« Das war so’n Spruch vom alten Motte.
14
Am nächsten Abend gingen wir also zu Andys Vater. Ziemlich noble Gegend. Für meine Vorstellung. Tisch gedeckt vom Allerfeinsten. Er hatte sich echt Mühe gegeben.
Wir aßen. Es gab feines kühles Bier. Wir schmatzten vor uns hin. Warum der Andy so blöd gewesen war, hier wegzugehen, verstand ich nicht.
»Das kannste auch nicht verstehen«, hatte er mal gesagt. »Mein Alter macht ja so ‘nen ganz netten Eindruck. Aber wenn du mit dem zusammen bist, bist du ‘ne Null. Auf jeden Fall meinst du das, hast so das Gefühl. Solange alles läuft, braucht er sich ja nicht zu kümmern. Nach dem Motto läuft das. Und das spürste, und das stinkt einem. Wenn du dann aber plötzlich mit rasiertem Kopf kommst, dann guckt er. Und da ist er halt ausgerastet. So ist das doch in unserer Gesellschaft: Jeder rennt für sich herum. Und wenn du auch tausend fremde Gedanken in deiner Birne hast, die will keiner hören. Nur wenn du die Birne von außen veränderst, dann stehen die Zeichen plötzlich auf Sturm. Dann kommen so die Schuldgefühle hoch bei denen. Und dann haben sie auf einmal Zeit und sagen, sie hätten doch immer Zeit gehabt. ›Hast du es denn nicht gut bei mir, mein Sohn?‹ So was bringt mein Vater dann. ›Und war ich nicht immer für dich da?‹ So eine Scheiße! Aber deine Leere vorher, daß du suchst, daß du fragst, das merkt keiner. ›Keine Zeit‹, sagen sie dir, klappen die Ohren zu und rauschen mit Anzug und Aktenkoffer in ihren Luxuslimousinen davon. Bonzen!«
Trotzdem dachte ich, der hat wenigstens einen, zu dem man, ohne rot zu werden, Vater sagen kann. Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen.
»Was haste da denn wieder für’n Scheiß?« fragte Andy den Vater plötzlich. Er hatte schon lange zu einem Tischchen rübergeschielt. Da lagen Zeitungsausschnitte. Er angelte den obersten und las vor:
Rechtsradikale Schläger in Frankfurt/Oder nach Gewalttat gegen jungen Schwarzen vor Gericht. Eine Rotte junger Rechtsradikaler war gerade damit beschäftigt, den dunkelhäutigen Arbeiter aus dem früheren Schlacht-Kombinat Eberswalde… wie einen Spielball hin und her zu prügeln. Er übersprang einige Zeilen. Als Grund nickte der Täter nur, als der Rechtsanwalt vorlas: »Ich kann Neger nicht leiden.«
»Ich auch nicht«, sagte Andy völlig cool. Er las weiter: Von Reue oder Schuldbewußtsein spricht keiner. »Ist doch auch Mist!« Andy knallte den Zeitungsausschnitt auf den Tisch. »Die Ausländer sollen sich dünnemachen, dann haben sie nicht die Scherereien. Schuldbewußtsein, Schuld, das ist doch Mist.«
Andy hatte schon recht. Ich konnte auch nicht viel damit anfangen, denn auch als wir den Türken kurzmachten: Was konnte ich dafür, daß der hier war?
»Warum habt ihr eigentlich überall Feinde? Warum baut ihr euch Feindbilder auf?« fragte der Vater nach einer Pause.
»Macht ihr Sozis das anders?« fragte Andy und zog seinen Kaugummi lang aus dem Mund. Er legte die Beine auf den Tisch.
Der Vater blieb ruhig: »Ich bin kein Sozi, ich bin SPD-Mann. Das ist ein Unterschied.«
»Nicht für mich«, sagte Andy. »Links ist links. Ich glaub, ich hab auch was bei mir«, juxte Andy und fummelte in seiner Jacke herum. Zog zwei Zettel heraus. Hatte der doch glatt eine Rede von Hitler dabei. Echt stark! Andy begann vorzulesen:
Diese Jugend, die lernt ja nichts anderes, als deutsch denken, deutsch handeln. Und wenn nun dieser Knabe und dieses Mädchen mit ihren zehn Jahren in unsere Organisation hineinkommen und dort nun so oft zum erstenmal überhaupt eine frische Luft bekommen und fühlen, dann kommen sie vier Jahre später vom Jungvolk in die Hitlerjugend, und dort behalten wir sie wieder vier Jahre, und dann geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände unserer alten Klassenund Standeserzeuger, sondern dann nehmen wir sie sofort in die Partei oder in die Arbeitsfront, in die SA oder in die SS, in das NSKK und so weiter. Und wenn sie dort zwei Jahre oder anderthalb Jahre sind und noch nicht ganz Nationalsozialisten geworden sein sollten, dann kommen sie in den Arbeitsdienst und werden dort wieder sechs oder sieben Monate geschliffen, alle mit einem Symbol, dem deutschen Spaten. Und was dann nach sechs oder sieben Monaten noch an Klassenbewußtsein oder Standesdünkel da oder dort noch vorhanden sein sollte, das übernimmt dann die Wehrmacht zur weiteren Behandlung auf zwei Jahre. Und wenn sie dann nach zwei oder drei oder vier Jahren zurückkehren, dann nehmen wir sie, damit sie auf keinen Fall rückfällig werden, sofort wieder in die SA, SS und so weiter. Und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben.
»Der letzte Satz sagt doch alles«, sagte der Vater. »Da steht’s doch.«
»Nee, nicht ganz«, sagte Andy. »Was sollen wir mit unserer verdammten Freiheit, wenn sich keiner einen Dreck um uns schert? Für alles ist Geld da, aber nicht für Schüler und Jugendliche. Wer kümmert sich denn um uns?«
Der Vater sagte nichts.
»Siehste«, sagte Andy, »und die Rechten kümmern sich, die stellen uns einen Raum zur Verfügung, die haben Zeit. Und Führer sind da und Ordnung. Scheiß auf eure verdammte
Freiheit!« Er grinste. »Ich hab noch ‘ne Rede. Vom Allerfeinsten.« Er las vor:
Ich will keine intellektuelle Erziehung. Mit Wissen verderbe ich mir die Jugend. Am liebsten ließe ich sie nur das lernen, was sie ihrem Spieltriebe folgend sich freiwillig aneignen. Aber Beherrschung müssen sie lernen. Sie sollen mir in den schwierigsten Proben die Todesfurcht besiegen lernen.
Jetzt war ich echt gespannt. Als wir das beim Kameradschaftsabend besprochen hatten, hatte Andy nämlich gesagt: »Das ist doch Mist. Der Hitler wollte nur verhindern, daß wir denken lernen.« Da hatte es fast eine Prügelei gegeben.
Und jetzt das. Ich wurde aus dem Andy nicht schlau. Was wollte der denn? Er ging zum Kassettenrecorder und schob eine Kassette rein:
Ja, eines Tages, da wacht ihr alle auf. Rettet die Rasse, die man einst verkauft
Ich weiß, in jedem Deutschen, da steckt ein Mann, der das Verderben noch verhindern kann.
Der Vater reagierte ziemlich heftig: »Findest du das in Ordnung? Das ist doch verdammt verkürzt! Da fehlt doch ein Stück. Einfach ein Stück rausgeschnitten, damit jeder mit johlen kann! Es wird alles überschaubar gemacht, für die Doofen!«
»Die Deutschen sind besser, die sind die Herrenrasse. Germanen!« Andy schmatzte und machte eine dicke Blase mit dem Kaugummi. »Geil, was?«
Da rannte der Vater raus.
»Bei dem ist auch was verkürzt.« Andy zog wieder cool an seinem Kaugummi. »Ich glaub, wir können gehn«, sagte er. Nahm sich noch Wurst und Käse und zwei Flaschen Bier.