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Добавлен: 21.12.2020
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Dabei will ich nicht die Befriedigung verhehlen, die ich dem Eintauchen in Vergangenheiten verdanke, deren Bedeutung für die Gegenwart geringer ist. Das erstemal habe ich sie empfunden, als ich über Gesetzeswerke und -entwürfe der Aufklärung arbeitete. Getragen waren sie von dem Glauben, daß in der Welt eine gute Ordnung angelegt ist und daß die Welt daher auch in eine gute Ordnung gebracht werden kann. Zu sehen, wie aus diesem Glauben Paragraphen als feierliche Wächter der guten Ordnung geschaffen und zu Gesetzen gefügt wurden, die schön sein und mit ihrer Schönheit den Beweis für ihre Wahrheit antreten wollten, hat mich beglückt. Lange glaubte ich, daß es einen Fortschritt in der Geschichte des Rechts gibt, trotz furchtbarer Rückschläge und -schritte eine Entwicklung zu mehr Schönheit und Wahrheit, Rationalität und Humanität. Seit mir klar ist, daß dieser Glaube eine Schimäre ist, spiele ich mit einem anderen Bild vom Gang der Rechtsgeschichte. Darin ist er zwar zielgerichtet, aber das Ziel, bei dem er nach vielfältigen Erschütterungen, Verwirrungen und Verblendungen ankommt, ist der Anfang, von dem er ausgegangen ist und von dem er, kaum angekommen, erneut ausgehen muß.
Ich las damals die Odyssee wieder, die ich erstmals in der Schule gelesen und als die Geschichte einer Heimkehr in Erinnerung behalten hatte. Aber es ist nicht die Geschichte einer Heimkehr. Wie sollten die Griechen, die wissen, daß man nicht zweimal in denselben Fluß steigt, auch an Heimkehr glauben. Odysseus kehrt nicht zurück, um zu bleiben, sondern um erneut aufzubrechen. Die Odyssee ist die Geschichte einer Bewegung, zugleich zielgerichtet und ziellos, erfolgreich und vergeblich. Was ist die Geschichte des Rechts anderes!
5
Mit der Odyssee habe ich angefangen. Ich las sie, nachdem Gertrud und ich uns getrennt hatten. In vielen Nächten konnte ich nur wenige Stunden schlafen; ich lag wach, und wenn ich das Licht anmachte und ein Buch zur Hand nahm, fielen mir die Augen zu, und wenn ich das Buch weglegte und das Licht ausschaltete, war ich wieder wach. So las ich laut. Dabei fielen mir die Augen nicht zu. Und weil im wirren, von Erinnerungen und Träumen durchsetzten, in quälenden Zirkeln kreisenden, halbwachen Nachdenken über meine Ehe und meine Tochter und mein Leben Hanna immer wieder dominierte, las ich für Hanna. Ich las für Hanna auf Kassetten.
Bis ich die Kassetten abschickte, dauerte es mehrere Monate. Zuerst wollte ich keine Teile schicken und wartete, bis ich die ganze Odyssee aufgenommen hatte. Dann wurde mir fraglich, ob Hanna die Odyssee hinreichend interessant finden würde, und ich nahm auf, was ich nach der Odyssee las, Erzählungen von Schnitzler und Tschechow. Dann schob ich vor mir her, bei dem Gericht anzurufen, von dem Hanna verurteilt worden war, und herauszufinden, wo sie ihre Strafe verbüßte. Schließlich hatte ich alles zusammen, Hannas Adresse in einem Gefängnis in der Nähe der Stadt, in der ihr der Prozeß gemacht und sie verurteilt worden war, ein Kassettengerät und die Kassetten, von Tschechow über Schnitzler zu Homer numeriert. Und schließlich schickte ich das Paket mit dem Kassettengerät und den Kassetten auch ab.
Ich habe unlängst das Heft gefunden, in das ich eintrug, was ich für Hanna im Lauf der Jahre aufgenommen habe. Die ersten zwölf Titel sind offensichtlich gleichzeitig notiert; ich habe wohl zunächst drauflosgelesen und dann gemerkt, daß ich ohne Notizen nicht behalte, was ich schon gelesen habe. Bei den folgenden Titeln findet sich manchmal ein Datum, manchmal keines, aber auch ohne Daten weiß ich, daß ich Hanna die erste Sendung im achten und die letzte im achtzehnten Jahr ihrer Haft geschickt habe. Im achtzehnten Jahr wurde ihrem Gnadengesuch stattgegeben.
Weithin las ich Hanna vor, was ich selbst gerade lesen mochte. Bei der Odyssee fiel es mir anfangs nicht leicht, beim lauten Vorlesen so konzentriert aufzunehmen wie beim leisen Lesen für mich. Das gab sich. Als Nachteil des Vorlesens blieb, daß es länger dauerte. Aber dafür haftete das Vorgelesene auch besser im Gedächtnis. Noch heute erinnere ich mich an manches besonders deutlich.
Ich las aber auch vor, was ich schon kannte und liebte. So bekam Hanna viel Keller und Fontane zu hören, Heine und Mörike. Lange wagte ich mich nicht ans Vorlesen von Gedichten, aber dann machte es mir viel Spaß, und ich lernte eine ganze Reihe der vorgelesenen Gedichte auswendig. Ich kann sie noch heute aufsagen.
Insgesamt weisen die Titel des Hefts ein großes bildungsbürgerliches Urvertrauen aus. Ich erinnere mich auch nicht, mir jemals die Frage gestellt zu haben, ob ich über Kafka, Frisch, Johnson, Bachmann und Lenz hinausgehen und experimentelle Literatur, Literatur, in der ich die Geschichte nicht erkenne und keine der Personen mag, vorlesen sollte. Es verstand sich für mich, daß experimentelle Literatur mit dem Leser experimentiert, und das brauchten weder Hanna noch ich.
Als ich selbst zu schreiben begann, las ich ihr auch das vor. Ich wartete, bis ich mein handschriftliches Manuskript diktiert, das maschinenschriftliche überarbeitet und das Gefühl hatte, jetzt sei es fertig. Beim Vorlesen merkte ich, ob das Gefühl stimmte. Wenn nicht, konnte ich alles noch mal überarbeiten und eine neue Aufnahme über die alte spielen. Aber ich machte das nicht gerne. Ich wollte mit dem Vorlesen abschließen. Hanna wurde die Instanz, für die ich noch mal alle meine Kräfte, alle meine Kreativität, alle meine kritische Phantasie bündelte. Danach konnte ich das Manuskript an den Verlag schicken.
Ich habe auf den Kassetten keine persönlichen Bemerkungen gemacht, nicht nach Hanna gefragt, nicht von mir berichtet. Ich las den Titel vor, den Namen des Autors und den Text. Wenn der Text zu Ende war, wartete ich einen Moment, klappte das Buch zu und drückte die Stop-Taste.
6
Im vierten Jahr unseres wortreichen, wortkargen Kontakts kam ein Gruß. »Jungchen, die letzte Geschichte war besonders schön. Danke. Hanna.«
Das Papier war liniert, eine aus einem Schreibheft herausgerissene und glattgeschnittene Seite. Der Gruß stand ganz oben und füllte drei Zeilen. Er war mit blauem, schmierendem Kugelschreiber geschrieben. Hanna hatte den Stift mit viel Kraft geführt; die Schrift drückte auf die Rückseite durch. Auch die Adresse hatte sie mit viel Kraft geschrieben; der Abdruck fand sich lesbar auf der unteren und auf der oberen Hälfte des in der Mitte gefalteten Papiers.
Auf den ersten Blick hätte man meinen können, es sei eine Kinderschrift. Aber was an der Schrift von Kindern ungelenk und unbeholfen ist, war hier gewaltsam. Man sah den Widerstand, den Hanna überwinden mußte, um die Linien zu Buchstaben und die Buchstaben zu Wörtern zu fügen. Die Kinderhand will hierhin und dorthin abschweifen und muß in der Bahn der Schrift gehalten werden. Hannas Hand wollte nirgendwohin und mußte vorangezwungen werden. Die Linien, die die Buchstaben formten, setzten immer wieder neu an, beim Aufstrich, beim Abstrich, vor den Bogen und Schleifen. Und jeder Buchstabe war neu erkämpft und hatte eine neue Schrägoder Steilrichtung, oft auch eine falsche Höhe und Breite.
Ich las den Gruß und war erfüllt von Freude und Jubel. »Sie schreibt, sie schreibt!« Was immer ich in all den Jahren über Analphabetismus hatte finden können, hatte ich gelesen. Ich wußte von der Hilflosigkeit bei alltäglichen Lebensvollzügen, beim Finden eines Wegs und einer Adresse oder beim Wählen eines Gerichts im Restaurant, von der Ängstlichkeit, mit der der Analphabet vorgegebenen Mustern und bewährten Routinen folgt, von der Energie, die das Verbergen der Lese- und Schreibunfähigkeit erfordert und vom eigentlichen Leben abzieht. Analphabetismus ist Unmündigkeit. Indem Hanna den Mut gehabt hatte, lesen und schreiben zu lernen, hatte sie
den Schritt aus der Unmündigkeit zur Mündigkeit getan, einen aufklärerischen Schritt.
Dann betrachtete ich Hannas Schrift und sah, wieviel Kraft und Kampf sie das Schreiben gekostet hatte. Ich war stolz auf sie. Zugleich war ich traurig über sie, traurig über ihr verspätetes und verfehltes Leben, traurig über die Verspätungen und Verfehlungen des Lebens insgesamt. Ich dachte, wenn die rechte Zeit verpaßt ist, wenn einer etwas zu lange verweigert hat, wenn einem etwas zu lange verweigert wurde, kommt es zu spät, selbst wenn es schließlich mit Kraft angegangen und mit Freude empfangen wird. Oder gibt es »zu spät« nicht, gibt es nur »spät«, und ist »spät« allemal besser als »nie«? Ich weiß es nicht.
Nach dem ersten Gruß kamen die nächsten in steter Folge. Immer waren es wenige Zeilen, ein Dank, ein Wunsch, vom selben Autor mehr oder auch nichts mehr zu hören, eine Bemerkung über einen Autor oder ein Gedicht oder eine Geschichte oder eine Person aus einem Roman, eine Beobachtung aus dem Gefängnis. »Im Hof blühen schon die Forsythien« oder »ich mag, daß es in diesem Sommer so viele Gewitter gibt« oder »aus dem Fenster sehe ich, wie sich die Vögel zum Flug nach Süden sammeln« – oft haben mich erst Hannas Mitteilungen die Forsythien, Sommergewitter oder Vogelscharen wahrnehmen lassen. Ihre Bemerkungen über Literatur trafen oft erstaunlich genau. »Schnitzler bellt, Stefan Zweig ist ein toter Hund« oder »Keller braucht eine Frau« oder »die Gedichte von Goethe sind wie kleine Bilder in schönen Rahmen« oder »Lenz schreibt sicher auf der Schreibmaschine«. Da sie über die Autoren nichts wußte, setzte sie sie als Zeitgenossen voraus, solange es sich nicht eindeutig verbot. Ich war verblüfft, wieviel ältere Literatur sich in der Tat lesen läßt, als sei sie heutig, und wer nichts über Geschichte weiß, kann erst recht in den Lebensumständen früherer Zeiten einfach die Lebensumstände ferner Gegenden sehen.
Ich habe Hanna nie geschrieben. Aber ich habe ihr immer weiter vorgelesen. Als ich ein Jahr in Amerika verbrachte, schickte ich von dort Kassetten. Wenn ich in Urlaub fuhr oder besonders viel Arbeit hatte, konnte es länger dauern, bis die nächste Kassette fertig wurde; ich habe keinen festen Rhythmus etabliert, sondern Kassetten mal wöchentlich oder vierzehntäglich und mal auch erst nach drei oder vier Wochen geschickt. Daß Hanna jetzt, nachdem sie selbst lesen gelernt hatte, meine Kassetten nicht mehr brauchen könnte, hat mich nicht beschäftigt. Mochte sie außerdem lesen. Das Vorlesen war meine Art, zu ihr, mit ihr zu sprechen.
Ich habe alle ihre Grüße aufgehoben. Die Schrift wandelt sich. Zuerst zwingt sie die Buchstaben in die gleiche Schrägrichtung und in die richtige Höhe und Breite. Nachdem sie das geschafft hat, kann sie leichter und sicherer werden. Flüssig wird sie nie. Aber sie gewinnt etwas von der strengen Schönheit, die den Schriften alter Leute eignet, die im Leben wenig geschrieben haben.
7
Ich habe mir damals keine Gedanken darüber gemacht, daß Hanna eines Tages entlassen würde. Der Austausch von Grüßen und Kassetten war so normal und vertraut und Hanna mir auf so freie Weise sowohl nah als auch fern, daß ich den Zustand hätte fort- und fortdauern lassen können. Das war bequem und egoistisch, ich weiß. Dann kam der Brief der Leiterin des Gefängnisses.
»Seit Jahren stehen Frau Schmilz und Sie in brieflichem Austausch. Es ist der einzige Kontakt, den Frau Schmilz nach draußen hat, und so wende ich mich an Sie, obwohl ich nicht weiß, wie eng Sie verbunden und ob Sie Verwandter oder Freund sind.
Nächstes Jahr wird Frau Schmilz wieder ein Gnadengesuch stellen, und ich gehe davon aus, daß der Gnadenausschuß ihm stattgeben wird. Sie wird dann bald entlassen werden – nach achtzehn Jahren Haft. Natürlich können wir ihr Wohnung und Arbeit besorgen bzw. zu besorgen versuchen; mit Arbeit wird es in ihrem Alter schwierig werden, auch wenn sie noch völlig gesund ist und in unserer Näherei großes Geschick zeigt. Aber besser, als wenn wir uns darum kümmern, ist es, wenn Verwandte oder Freunde es tun und die Entlassene in ihrer Nähe haben und begleiten und stützen. Sie können sich nicht vorstellen, wie einsam und hilflos man nach achtzehn Jahren Haft draußen sein kann.
Frau Schmitz kann sich ziemlich gut selbst helfen und kommt auch allein zurecht. Es wäre ausreichend, wenn Sie ihr eine kleine Wohnung und Arbeit fänden, sie in den ersten Wochen und Monaten gelegentlich besuchen und einladen könnten und sich darum kümmerten, daß sie von den Angeboten der Kirchengemeinde, Volkshochschule, Familienbildungsstätte usw. erfährt. Außerdem ist es nicht leicht, nach achtzehn Jahren erstmals in die Stadt zu gehen, einzukaufen, bei Behörden vorzusprechen, ein Restaurant aufzusuchen. Es macht sich in Begleitung leichter.
Ich habe bemerkt, daß Sie Frau Schmitz nicht besuchen. Täten Sie es, dann würde ich Ihnen nicht schreiben, sondern Sie anläßlich eines Besuchs zu einem Gespräch bitten. Nun geht es nicht anders, als daß Sie sie vor ihrer Entlassung besuchen. Bitte schauen Sie bei dieser Gelegenheit doch bei mir vorbei.«
Der Brief schloß mit herzlichen Grüßen, die ich nicht auf mich, sondern darauf bezog, daß der Leiterin das Anliegen ein Herzensanliegen war. Ich hatte schon von ihr gehört; ihre Anstalt galt als außergewöhnlich, und ihre Stimme hatte in Fragen der Reform des Strafvollzugs Gewicht. Mir gefiel ihr Brief.
Aber mir gefiel nicht, was auf mich zukam. Natürlich mußte ich mich um Arbeit und Wohnung kümmern und habe es auch getan. Freunde, die die Einliegerwohnung in ihrem Haus weder benutzten noch vermieteten, waren bereit, sie für eine geringe Miete Hanna zu überlassen. Der griechische Schneider, bei dem ich gelegentlich Kleider ändern ließ, wollte Hanna beschäftigen; seine Schwester, die die Schneiderei mit ihm zusammen betrieb, zog es zurück nach Griechenland. Ich habe mich auch schon lange, bevor Hanna etwas damit anfangen konnte, um die sozialen und Bildungsangebote kirchlicher und weltlicher Einrichtungen gekümmert. Aber den Besuch bei Hanna schob ich vor mir her.
Gerade weil sie mir auf so freie Weise sowohl nah als auch fern war, wollte ich sie nicht besuchen. Ich hatte das Gefühl, sie könne, was sie mir war, nur in der realen Distanz sein. Ich hatte Angst, die kleine, leichte, geborgene Welt der Grüße und Kassetten sei zu künstlich und zu verletzlich, als daß sie die reale Nähe aushalten könnte. Wie sollten wir uns von Angesicht zu Angesicht begegnen, ohne daß alles hochkam, was zwischen uns geschehen war.
So ging das Jahr dahin, ohne daß ich im Gefängnis gewesen wäre. Von der Leiterin des Gefängnisses habe ich lange nichts gehört; ein Brief, in dem ich von der Wohnungs- und Arbeitssituation berichtete, die Hanna erwartete, blieb unbeantwortet. Sie rechnete wohl damit, mich anläßlich meines Besuchs bei Hanna zu sprechen. Sie konnte nicht wissen, daß ich diesen Besuch nicht nur hinausschob, sondern mich vor ihm drückte. Aber schließlich fiel die Entscheidung, daß Hanna begnadigt und entlassen werden sollte, und die Leiterin rief mich an. Ob ich jetzt kommen könne? In einer Woche komme Hanna raus.
8
Am nächsten Sonntag war ich bei ihr. Es war mein erster Besuch in einem Gefängnis. Ich wurde am Eingang kontrolliert, und auf dem Weg wurden mehrere Türen auf- und zugeschlossen. Aber der Bau war neu und hell, und im inneren Bereich standen die Türen auf und bewegten die Frauen sich frei. Am Ende des Gangs ging eine Tür ins Freie, auf eine belebte kleine Wiese mit Bäumen und Bänken. Ich sah mich suchend um. Die Wärterin, die mich geführt hatte, zeigte auf eine nahe Bank im Schatten einer Kastanie.
Hanna? Die Frau auf der Bank war Hanna? Graue Haare, ein Gesicht mit tiefen senkrechten Furchen in der Stirn, in den Backen, um den Mund und ein schwerer Leib. Sie trug ein zu enges, an Brust, Bauch und Schenkeln spannendes hellblaues Kleid. Ihre Hände lagen im Schoß und hielten ein Buch. Sie las nicht darin. Über den Rand ihrer Lese-Halbbrille schaute sie einer Frau zu, die ein paar Spatzen Brotkrume um Brotkrume vorwarf. Dann merkte sie, daß sie beobachtet wurde, und wandte mir ihr Gesicht zu.
Ich sah die Erwartung in ihrem Gesicht, sah es in Freude aufglänzen, als sie mich erkannte, sah ihre Augen mein Gesicht abtasten, als ich näher kam, sah ihre Augen suchen, fragen, unsicher und verletzt schauen und sah ihr Gesicht erlöschen. Als ich bei ihr war, lächelte sie ein freundliches, müdes Lächeln. »Du bist groß geworden, Jungchen.« Ich setzte mich neben sie, und sie nahm meine Hand.
Ich hatte ihren Geruch früher besonders geliebt. Sie roch immer frisch: frisch gewaschen oder nach frischer Wäsche oder nach frischem Schweiß oder frisch geliebt. Manchmal nahm sie Parfüm, ich weiß nicht, was für eines, und auch dessen Duft war mehr als alles andere frisch. Unter diesen frischen Gerüchen lag noch ein anderer, ein schwerer, dunkler, herber Geruch. Oft habe ich an ihr geschnüffelt wie ein neugieriges Tier, habe an Hals und Schultern angefangen, die frisch gewaschen rochen, habe zwischen den Brüsten den frischen Schweißgeruch eingesogen, der sich in den Achselhöhlen mit dem anderen Geruch mischte, fand diesen schweren, dunklen Geruch um Taille und Bauch fast pur und zwischen den Beinen in einer fruchtigen Färbung, die mich erregte, habe auch ihre Beine und Füße beschnuppert, die Schenkel, an denen sich der schwere Geruch verlor, die Kniekehlen, noch mal mit leichtem frischem Schweißgeruch, und die Füße, mit dem Geruch von Seife oder Leder oder Müdigkeit. Rücken und Arme hatten keinen besonderen Geruch, rochen nach nichts und rochen doch nach ihr, und in den Handflächen war der Duft des Tages und der Arbeit: die Druckerschwärze der Fahrscheine, das Metall der Zange, Zwiebel oder Fisch oder gebratenes Fett, Waschlauge oder Bügelhitze. Werden sie gewaschen, verraten Hände zunächst nichts von alledem. Aber die Seife hat die Gerüche nur überdeckt, und nach einer Weile sind sie wieder da, schwach, verschmolzen in einen einzigen Tages- und Arbeitsduft, in den Duft des Tages- und Arbeitsendes, des Abends, der Heimkehr und des Daheimseins.
Ich saß neben Hanna und roch eine alte Frau. Ich weiß nicht, was diesen Geruch ausmacht, den ich von Großmüttern und alten Tanten kenne und der in Altersheimen in den Zimmern und Fluren hängt wie ein Fluch. Hanna war zu jung für ihn.
Ich rückte näher. Ich hatte gemerkt, daß ich sie zuvor enttäuscht hatte, und wollte es jetzt besser und wiedergutmachen.
»Ich freue mich, daß du rauskommst.«
»Ja?«
»Ja, und ich freue mich, daß du in der Nähe sein wirst.« Ich erzählte ihr von der Wohnung und Arbeit, die ich für sie gefunden hatte, von den kulturellen und sozialen Angeboten im Stadtviertel, von der Stadtbücherei. »Liest du viel?«
»Es geht so. Vorgelesen bekommen ist schöner.« Sie sah mich an. »Damit ist jetzt Schluß, nicht wahr?«
»Warum soll damit Schluß sein?« Aber ich sah mich weder Kassetten für sie besprechen noch ihr begegnen und vorlesen. »Ich habe mich so gefreut und dich so bewundert, daß du lesen gelernt hast. Und was hast du mir für schöne Briefe geschrieben!« Das stimmte; ich hatte sie bewundert und mich gefreut, darüber, daß sie las und darüber, daß sie mir schrieb. Aber ich spürte, wie wenig meine Bewunderung und Freude dem angemessen waren, was Hanna das Lesen- und Schreibenlernen gekostet haben mußte, wie dürftig sie waren, wenn sie mich nicht einmal dazu hatten bringen können, ihr zu antworten, sie zu besuchen, mit ihr zu reden. Ich hatte Hanna eine kleine Nische zugebilligt, durchaus eine Nische, die mir wichtig war, die mir etwas gab und für die ich etwas tat, aber keinen Platz in meinem Leben.
Aber warum hätte ich ihr einen Platz in meinem Leben zubilligen sollen? Ich empörte mich gegen das schlechte Gewissen, das ich bei dem Gedanken bekam, sie auf eine Nische reduziert zu haben. »Hast du vor dem Prozeß an das, was in dem Prozeß zur Sprache kam, eigentlich nie gedacht? Ich meine, hast du nie daran gedacht, wenn wir zusammen waren, wenn ich dir vorgelesen habe?«
»Beschäftigt dich das sehr?« Aber sie wartete nicht auf eine Antwort. »Ich hatte immer das Gefühl, daß mich ohnehin keiner versteht, daß keiner weiß, wer ich bin und was mich hierzu und dazu gebracht hat. Und weißt du, wenn keiner dich versteht, dann kann auch keiner Rechenschaft von dir fordern. Auch das Gericht konnte nicht Rechenschaft von mir fordern. Aber die Toten können es. Sie verstehen. Dafür müssen sie gar nicht dabei gewesen sein, aber wenn sie es waren, verstehen sie besonders gut. Hier im Gefängnis waren sie viel bei mir. Sie kamen jede Nacht, ob ich sie haben wollte oder nicht. Vor dem Prozeß habe ich sie, wenn sie kommen wollten, noch verscheuchen können.«
Sie wartete, ob ich etwas dazu sagen würde, aber mir fiel nichts ein. Daß ich nichts verscheuchen könne, hatte ich zunächst sagen wollen. Aber es stimmte nicht; man verscheucht jemanden auch, indem man ihn in eine Nische stellt.
»Bist du verheiratet?«
»Ich war's. Gertrud und ich sind seit vielen Jahren geschieden, und unsere Tochter lebt im Internat; ich hoffe, daß sie für die letzten Schuljahre nicht dortbleiben, sondern zu mir ziehen will.« Jetzt wartete ich, ob sie etwas dazu sagen oder fragen würde. Aber sie schwieg. »Ich hole dich nächste Woche ab, ja?«
»Ja.«
»Ganz still, oder darf es ein bißchen lauter und lustiger sein?«
»Ganz still.«
»Gut, ich hole dich ganz still und ohne Musik und Champagner ab.« Ich stand auf, und auch sie stand auf. Wir sahen einander an. Es hatte zweimal geklingelt, und die anderen Frauen waren schon ins Haus gegangen. Wieder tasteten ihre Augen mein Gesicht ab. Ich nahm sie in die Arme, aber sie fühlte sich nicht richtig an.
»Mach's gut, Jungchen.«
»Du auch.«
So nahmen wir Abschied, noch ehe wir uns im Haus trennen mußten.
9
Die kommende Woche war besonders geschäftig. Ich weiß nicht mehr, ob ich mit dem Vortrag, an dem ich arbeitete, auch unter Zeitdruck stand oder ob ich mich nur unter Arbeits- und Erfolgsdruck gesetzt hatte.
Die Vorstellung, mit der ich die Arbeit am Vortrag begonnen hatte, taugte nichts. Als ich sie zu überprüfen begann, stieß ich, wo ich Sinn und Regelhaftigkeit erwartet hatte, auf eine Zufälligkeit nach der anderen. Statt mich damit abzufinden, suchte ich weiter, gehetzt, verbissen, ängstlich, als gehe mit meiner Vorstellung von der Wirklichkeit diese selbst fehl, und ich war bereit, die Befunde zu verdrehen, aufzubauschen oder runterzuspielen. Ich geriet in einen Zustand eigentümlicher Unruhe, schlief zwar ein, wenn ich spät ins Bett ging, war aber nach wenigen Stunden hellwach, bis ich mich entschloß, aufzustehen und weiterzulesen oder zu schreiben.
Ich tat auch, was in Vorbereitung auf die Entlassung zu tun war. Ich richtete Hannas Wohnung ein, mit Ikea-Möbeln und ein paar alten Stücken, avisierte Hanna dem griechischen Schneider und brachte die Informationen über soziale und Bildungsangebote auf den neuesten Stand. Ich kaufte Vorräte, stellte Bücher ins Regal und hängte Bilder auf. Ich ließ einen Gärtner kommen, der den kleinen Garten pflegte, der die vor dem Wohnzimmer gelegene Terrasse umgab. Ich tat auch dies eigentümlich gehetzt und verbissen; es war mir alles zuviel.
Aber es war mir gerade genug, um nicht an den Besuch bei Hanna denken zu müssen. Nur manchmal, wenn ich Auto fuhr oder müde am Schreibtisch saß oder wach im Bett lag oder in Hannas Wohnung war, wurde der Gedanke daran übermächtig und trat Erinnerungen los. Ich sah sie auf der Bank, den Blick auf mich gerichtet, sah sie im Schwimmbad, das Gesicht mir zugewandt, und hatte wieder das Gefühl, sie verraten zu haben und an ihr schuldig geworden zu sein. Und wieder empörte ich mich gegen das Gefühl und klagte sie an und fand billig und einfach, wie sie sich aus ihrer Schuld gestohlen hatte. Nur die Toten Rechenschaft fordern zu lassen, Schuld und Sühne auf schlechten Schlaf und schlimme Träume reduzieren – wo blieben da die Lebenden? Aber was ich meinte, waren nicht die Lebenden, sondern war ich. Hatte ich nicht auch Rechenschaft von ihr zu fordern? Wo blieb ich?
Am Nachmittag, bevor ich sie abholen sollte, rief ich im Gefängnis an. Zuerst sprach ich mit der Leiterin.
»Ich bin ein wenig nervös. Wissen Sie, normalerweise wird niemand nach so langer Haft entlassen, bevor er nicht zunächst stunden- oder tageweise draußen war. Frau Schmitz hat das verweigert. Sie wird sich morgen nicht leichttun.«
Ich wurde mit Hanna verbunden.
»Überleg dir, was wir morgen machen. Ob du gleich zu dir nach Hause willst oder ob wir in den Wald oder an den Fluß wollen.«
»Ich überleg's mir. Du bist immer noch ein großer Planer, nicht wahr?«
Das ärgerte mich. Es ärgerte mich, wie wenn mir Freundinnen gelegentlich sagten, ich sei nicht spontan genug, funktioniere zu sehr über den Kopf statt über den Bauch.
Sie merkte in meinem Schweigen meinen Ärger und lachte. »Ärgere dich nicht, Jungchen, ich hab's nicht böse gemeint.«
Ich hatte Hanna auf der Bank als alte Frau wiedergetroffen. Sie hatte ausgesehen wie eine alte Frau und gerochen wie eine alte Frau. Ich hatte gar nicht auf ihre Stimme geachtet. Ihre Stimme war ganz jung geblieben.
10
Am nächsten Morgen war Hanna tot. Sie hatte sich bei Tagesanbruch erhängt.
Als ich kam, wurde ich zur Leiterin gebracht. Erstmals sah ich sie, eine kleine, dünne Frau mit dunkelblonden Haaren und Brille. Sie wirkte unscheinbar, bis sie zu reden begann, mit Kraft und Wärme und strengem Blick und energischen Bewegungen der Hände und Arme. Sie fragte mich nach dem Telephongespräch vom letzten Abend und der Begegnung vor einer Woche. Ob ich etwas geahnt, gefürchtet hätte. Ich verneinte. Es hatte auch keine Ahnung oder Befürchtung gegeben, die ich verdrängt hatte.
»Woher kennen Sie sich?«
»Wir wohnten in der Nähe.« Sie sah mich prüfend an, und ich merkte, daß ich noch mehr sagen mußte. »Wir wohnten in der Nähe und haben uns kennengelernt und befreundet. Als junger Student war ich dann beim Prozeß, bei dem sie verurteilt wurde.«
»Wieso haben Sie Frau Schmilz Kassetten geschickt?«
Ich schwieg.
»Sie wußten, daß sie Analphabetin war, nicht wahr? Woher wußten Sie's?«
Ich zuckte mit den Schultern. Ich sah nicht, was Hannas und meine Geschichte sie anging. Ich hatte Tränen in Brust und Hals und Angst, nicht reden zu können. Ich wollte vor ihr nicht weinen.