Файл: Bernhard Schlink - Der Vorleser.docx

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An einem Nachbartisch spielten lärmend vier Männer Karten. Die Tür ging auf, und grußlos kam ein kleiner alter Mann herein. Er trug kurze Hosen und hatte ein Holzbein. An der Theke verlangte er Bier. Dem Nachbartisch kehrte er seinen Rücken und seinen viel zu großen kahlen Schädel zu. Die Kartenspieler legten die Karten hin, griffen in die Aschenbecher, nahmen die Kippen, warfen und trafen. Der Mann an der Theke flatterte mit den Händen um seinen Hinterkopf, als wolle er Fliegen abwehren. Der Wirt stellte ihm das Bier hin. Niemand sagte etwas.

Ich hielt es nicht aus, sprang auf und trat an den Nachbartisch. »Hören Sie auf!« Ich zitterte vor Empörung. In dem Moment humpelte der Mann in hüpfenden Sprüngen heran, nestelte an seinem Bein, hatte das Holzbein plötzlich in beiden Händen, schlug es krachend auf den Tisch, daß die Gläser und Aschenbecher tanzten, und ließ sich auf den freien Stuhl fallen. Dabei lachte er mit zahnlosem Mund ein quiekendes Lachen, und die anderen lachten mit, ein dröhnendes Bierlachen. »Hören Sie auf«, lachten sie und zeigten auf mich, »hören Sie auf.«

In der Nacht stürmte der Wind ums Haus. Mir war nicht kalt, und das Heulen des Winds, das Knarren des Baums vor dem Fenster und das gelegentliche Schlagen eines Ladens waren nicht so laut, daß ich darum nicht hätte schlafen können. Aber ich wurde innerlich immer unruhiger, bis ich auch äußerlich am ganzen Körper zitterte. Ich hatte Angst, nicht als Erwartung eines schlimmen Ereignisses, sondern als körperliche Befindlichkeit. Ich lag da, hörte auf den Wind, war erleichtert, wenn er schwächer und leiser wurde, fürchtete sein erneutes Anschwellen und wußte nicht, wie ich am nächsten Morgen aufstehen, zurücktrampen, weiterstudieren und eines Tages Beruf und Frau und Kinder haben sollte.

Ich wollte Hannas Verbrechen zugleich verstehen und verurteilen. Aber es war dafür zu furchtbar. Wenn ich versuchte, es zu verstehen, hatte ich das Gefühl, es nicht mehr so zu verurteilen, wie es eigentlich verurteilt gehörte. Wenn ich es so verurteilte, wie es verurteilt gehörte, blieb kein Raum fürs Verstehen. Aber zugleich wollte ich Hanna verstehen; sie nicht zu verstehen, bedeutete, sie wieder zu verraten. Ich bin damit nicht fertiggeworden. Beidem wollte ich mich stellen: dem Verstehen und dem Verurteilen. Aber beides ging nicht.

Der nächste Tag war wieder ein wunderschöner Sommertag. Das Trampen ging leicht, und ich war in wenigen Stunden zurück. Ich lief durch die Stadt, als sei ich lange weggewesen; mir waren die Straßen und Häuser und Menschen fremd. Aber die fremde Welt der Konzentrationslager war mir darum nicht nähergerückt. Meine Eindrücke vom Struthof gesellten sich den wenigen Bildern von Auschwitz und Birkenau und Bergen-Belsen zu, die ich schon hatte, und erstarrten mit ihnen.

16

Ich bin dann doch noch zum Vorsitzenden Richter gegangen. Zu Hanna zu gehen schaffte ich nicht. Aber nichts zu tun hielt ich auch nicht aus.

Warum ich nicht schaffte, mit Hanna zu reden? Sie hatte mich verlassen, hatte mich getäuscht, war nicht die gewesen, die ich in ihr gesehen oder auch in sie hineinphantasiert hatte. Und wer war ich für sie gewesen? Der kleine Vorleser, den sie benutzt, der kleine Beischläfer, mit dem sie ihren Spaß gehabt hatte? Hätte sie mich auch ins Gas geschickt, wenn sie mich nicht hätte verlassen können, aber loswerden wollen?

Warum ich nicht aushielt, nichts zu tun? Ich sagte mir, ich müsse ein Fehlurteil verhindern. Ich müsse dafür sorgen, daß Gerechtigkeit geschieht, ungeachtet Hannas Lebenslüge, Gerechtigkeit sozusagen für und gegen Hanna. Aber es ging mir nicht wirklich um Gerechtigkeit. Ich konnte Hanna nicht lassen, wie sie war oder sein wollte. Ich mußte an ihr rummachen, irgendeine Art von Einfluß und Wirkung auf sie haben, wenn nicht direkt, dann indirekt.

Der Vorsitzende Richter kannte unsere Seminargruppe und war gerne bereit, mich nach einer Sitzung zu einem Gespräch zu empfangen. Ich klopfte, wurde hereingerufen, begrüßt und aufgefordert, mich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch zu setzen. Er saß in Hemdsärmeln hinter dem Schreibtisch. Die Robe hing über Rücken- und Seitenlehnen seines Stuhls; er hatte sich in der Robe hingesetzt und sie dann hinabgleiten lassen. Er wirkte entspannt, ein Mann, der sein Tagwerk vollbracht hat und damit zufrieden ist. Ohne den irritierten Gesichtsausdruck, hinter dem er sich während der Verhandlung verschanzte, hatte er ein nettes, intelligentes, harmloses Beamtengesicht. Er plauderte drauflos und fragte mich nach diesem und jenem. Was unsere Seminargruppe über das Verfahren denke, was unser Professor mit den Protokollen vorhabe, in welchem Semester wir seien, in welchem Semester ich sei, warum ich Jura studiere und wann ich Examen machen wolle. Ich solle mich auf keinen Fall zu spät zum Examen melden.

Ich beantwortete alle Fragen. Dann hörte ich ihm zu, wie er mir von seinem Studium und seinem Examen erzählte. Er hatte alles richtig gemacht. Er hatte zur rechten Zeit und mit gehörigem Erfolg die erforderlichen Übungen und Seminare und schließlich das Examen absolviert. Er war gerne Jurist und Richter, und wenn er, was er gemacht hatte, noch mal machen müßte, würde er es ebenso machen.


Das Fenster stand offen. Auf dem Parkplatz wurden Türen zugeschlagen und Motoren angelassen. Ich hörte den Wagen nach, bis ihr Geräusch vom Rauschen des Verkehrs geschluckt wurde. Dann spielten und lärmten Kinder auf dem leeren Parkplatz. Manchmal war ein Wort ganz deutlich zu vernehmen: ein Name, ein Schimpfwort, ein Zuruf.

Der Vorsitzende Richter stand auf und verabschiedete mich. Ich könne gerne wiederkommen, wenn ich weitere Fragen hätte. Auch wenn ich Rat im Studium brauchte. Und unsere Seminargruppe solle ihn ihre Aus- und Bewertung des Verfahrens wissen lassen.

Ich ging über den leeren Parkplatz. Von einem größeren Jungen ließ ich mir den Weg zum Bahnhof beschreiben. Unsere Fahrgemeinschaft war gleich nach der Sitzung zurückgefahren, und ich mußte den Zug nehmen. Es war ein Feierabend- und Bummelzug; er hielt Station um Station, Leute stiegen ein und aus, ich saß am Fenster, umgeben von immer anderen Mitreisenden, Gesprächen, Gerüchen. Draußen zogen Häuser vorbei, Straßen, Autos, Bäume und in der Ferne die Berge, Burgen und Steinbrüche. Ich nahm alles wahr und fühlte nichts. Ich war nicht mehr gekränkt, von Hanna verlassen, getäuscht und benutzt worden zu sein. Ich mußte auch nicht mehr an ihr rummachen. Ich spürte, wie sich die Betäubung, unter der ich den Entsetzlichkeiten der Verhandlung gefolgt war, auf die Gefühle und Gedanken der letzten Wochen legte. Daß ich darüber froh gewesen wäre, wäre viel zuviel gesagt. Aber ich empfand, daß es richtig war. Daß es mir ermöglichte, in meinen Alltag zurückzukehren und in ihm weiterzuleben.

17

Ende Juni wurde das Urteil verkündet. Hanna bekam lebenslänglich. Die anderen bekamen zeitliche Freiheitsstrafen.

Der Gerichtssaal war voll wie zu Beginn der Verhandlung. Justizpersonal, Studenten meiner und der örtlichen Universität, eine Schulklasse, Journalisten aus dem In- und Ausland und die, die sich immer in Gerichtssälen einfinden. Es war laut. Als die Angeklagten hereingeführt wurden, achtete zunächst niemand auf sie. Aber dann verstummten die Besucher. Als erste wurden die still, die ihre Plätze vorne bei den Angeklagten hatten. Sie stießen ihre Nachbarn an und drehten sich zu denen um, die ihre Plätze hinter ihnen hatten. »Schaut doch«, tuschelten sie, und die, die schauten, wurden auch still, stießen ihre Nachbarn an, drehten sich zu ihren Hintermännern um und tuschelten »schaut doch«. Und schließlich war es ganz still im Gerichtssaal.

Ich weiß nicht, ob Hanna wußte, wie sie aussah, ob sie vielleicht sogar so aussehen wollte. Sie trug ein schwarzes Kostüm und eine weiße Bluse, und der Schnitt des Kostüms und die Krawatte zur Bluse ließen sie aussehen, als trage sie eine Uniform. Ich habe die Uniform der Frauen, die für die SS arbeiteten, nie gesehen. Aber ich meinte, und alle Besucher meinten, sie vor uns zu haben, die Uniform, die Frau, die in ihr für die SS arbeitete, die alles das tat, wessen Hanna angeklagt war.

Die Besucher fingen wieder zu tuscheln an. Viele waren hörbar empört. Sie fanden das Verfahren, das Urteil und auch sich, die sie zur Verkündung des Urteils gekommen waren, von Hanna verhöhnt. Sie wurden lauter, und einige riefen Hanna zu, was sie von ihr hielten. Bis das Gericht in den Saal kam und der Vorsitzende nach irritiertem Blick auf Hanna das Urteil verkündete. Hanna hörte stehend zu, in gerader Haltung und ohne jede Bewegung. Bei der Verlesung der Begründung des Urteils saß sie. Ich wandte den Blick nicht von ihrem Kopf und Nacken.

Die Verlesung dauerte mehrere Stunden. Als die Verhandlung beendet war und die Angeklagten abgeführt wurden, wartete ich, ob Hanna zu mir schauen würde. Ich saß da, wo ich immer gesessen hatte. Aber sie schaute geradeaus und durch alles hindurch. Ein hochmütiger, verletzter, verlorener und unendlich müder Blick. Ein Blick, der niemanden und nichts sehen will.








DRITTER TEIL

1

Den Sommer nach dem Prozeß verbrachte ich im Lesesaal der Universitätsbibliothek. Ich kam, wenn der Lesesaal öffnete, und ging, wenn er schloß. An den Wochenenden lernte ich zu Hause. Ich lernte so ausschließlich, so besessen, daß die Gefühle und Gedanken, die der Prozeß betäubt hatte, betäubt blieben. Ich vermied Kontakte. Ich zog zu Hause aus und mietete ein Zimmer. Die wenigen Bekannten, die mich im Lesesaal oder bei gelegentlichen Kinobesuchen ansprachen, stieß ich zurück.

Im Wintersemester verhielt ich mich kaum anders. Trotzdem wurde ich gefragt, ob ich mit einer Gruppe von Studenten über Weihnachten auf eine Skihütte mitkommen wolle. Verwundert sagte ich zu.

Ich war kein guter Skifahrer. Aber ich fuhr gerne und schnell und hielt mit den guten Skifahrern mit. Manchmal riskierte ich bei Abfahrten, denen ich eigentlich nicht gewachsen war, Stürze und Brüche. Das tat ich bewußt. Das andere Risiko, das ich einging und das sich schließlich erfüllte, nahm ich überhaupt nicht wahr.

Mir war nie kalt. Während die anderen in Pullovern und Jacken Ski fuhren, fuhr ich im Hemd. Die anderen schüttelten darüber den Kopf, zogen mich damit auf. Aber auch ihre besorgten Warnungen nahm ich nicht ernst. Ich fror eben nicht. Als ich anfing zu husten, schob ich's auf die österreichischen Zigaretten. Als ich anfing zu fiebern, genoß ich den Zustand. Ich war schwach und zugleich leicht, und die Sinneseindrücke waren wohltuend gedämpft, wattig, füllig. Ich schwebte.


Dann bekam ich hohes Fieber und wurde ins Krankenhaus gebracht. Als ich es verließ, war die Betäubung vorbei. Alle Fragen, Ängste, Anklagen und Selbstvorwürfe, alles Entsetzen und aller Schmerz, die während des Prozesses aufgebrochen und gleich wieder betäubt worden waren, waren wieder da und blieben auch da. Ich weiß nicht, welche Diagnose Mediziner stellen, wenn jemand nicht friert, obwohl er frieren müßte. Meine eigene Diagnose ist, daß die Betäubung sich meiner körperlich bemächtigen mußte, ehe sie mich loslassen, ehe ich sie loswerden konnte.

Als ich das Studium beendet und das Referendariat begonnen hatte, kam der Sommer der Studentenbewegung. Ich interessierte mich für Geschichte und Soziologie und war als Referendar noch genug in der Universität, um alles mitzukriegen. Mitkriegen hieß nicht mitmachen – Hochschule und Hochschulreform waren mir letztlich ebenso gleichgültig wie Vietkong und Amerikaner. Was das dritte und eigentliche Thema der Studentenbewegung anging, die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, spürte ich eine solche Distanz zu den anderen Studenten, daß ich nicht mit ihnen agitieren und demonstrieren wollte.

Manchmal denke ich, daß die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit nicht der Grund, sondern nur der Ausdruck des Generationenkonflikts war, der als treibende Kraft der Studentenbewegung zu spüren war. Die Erwartungen der Eltern, von denen sich jede Generation befreien muß, waren damit, daß diese Eltern im Dritten Reich oder spätestens nach dessen Ende versagt hatten, einfach erledigt. Wie sollten die, die die nationalsozialistischen Verbrechen begangen oder bei ihnen zugesehen oder von ihnen weggesehen oder die nach 1945 die Verbrecher unter sich toleriert oder sogar akzeptiert hatten, ihren Kindern etwas zu sagen haben. Aber andererseits war die nationalsozialistische Vergangenheit ein Thema auch für Kinder, die ihren Eltern nichts vorwerfen konnten oder wollten. Für sie war die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen


Vergangenheit nicht die Gestalt eines Generationenkonflikts, sondern das eigentliche Problem.

Was immer es mit Kollektivschuld moralisch und juristisch auf sich haben oder nicht auf sich haben mag – für meine Studentengeneration war sie eine erlebte Realität. Sie galt nicht nur dem, was im Dritten Reich geschehen war. Daß jüdische Grabsteine mit Hakenkreuzen beschmiert wurden, daß so viele alte Nazis bei den Gerichten, in der Verwaltung und an den Universitäten Karriere gemacht hatten, daß die Bundesrepublik den Staat Israel nicht anerkannte, daß Emigration und Widerstand weniger überliefert wurden als das Leben in der Anpassung – das alles erfüllte uns mit Scham, selbst wenn wir mit dem Finger auf die Schuldigen zeigen konnten. Der Fingerzeig auf die Schuldigen befreite nicht von der Scham. Aber er überwand das Leiden an ihr. Er setzte das passive Leiden an der Scham in Energie, Aktivität, Aggression um. Und die Auseinandersetzung mit schuldigen Eltern war besonders energiegeladen.

Ich konnte auf niemanden mit dem Finger zeigen. Auf meine Eltern schon darum nicht, weil ich ihnen nichts vorwerfen konnte. Der aufklärerische Eifer, in dem ich seinerzeit als Teilnehmer des KZ-Seminars meinen Vater zu Scham verurteilt hatte, war mir vergangen, peinlich geworden. Das aber, was andere aus meinem sozialen Umfeld getan hatten und womit sie schuldig geworden waren, war allemal weniger schlimm, als was Hanna getan hatte. Ich mußte eigentlich auf Hanna zeigen. Aber der Fingerzeig auf Hanna wies auf mich zurück. Ich hatte sie geliebt. Ich hatte sie nicht nur geliebt, ich hatte sie gewählt. Ich habe versucht, mir zu sagen, daß ich, als ich Hanna wählte, nichts von dem wußte, was sie getan hatte. Ich habe versucht, mich damit in den Zustand der Unschuld zu reden, in dem Kinder ihre Eltern lieben. Aber die Liebe zu den Eltern ist die einzige Liebe, für die man nicht verantwortlich ist.

Und vielleicht ist man sogar für die Liebe zu den Eltern verantwortlich. Damals habe ich die anderen Studenten beneidet, die sich von ihren Eltern und damit von der ganzen Generation der Täter, Zu- und Wegseher, Tolerierer und Akzeptierer absetzten und dadurch wenn nicht ihre Scham, dann doch ihr Leiden an der Scham überwanden. Aber woher kam die auftrumpfende Selbstgerechtigkeit, die mir bei ihnen so oft begegnete? Wie kann man Schuld und Scham empfinden und zugleich selbstgerecht auftrumpfen? War die Absetzung von den Eltern nur Rhetorik, Geräusch, Lärm, die übertönen sollten, daß mit der Liebe zu den Eltern die Verstrickung in deren Schuld unwiderruflich eingetreten war?

Das sind spätere Gedanken. Auch später waren sie kein Trost. Wie sollte es ein Trost sein, daß mein Leiden an meiner Liebe zu Hanna in gewisser Weise das Schicksal meiner Generation, das deutsche Schicksal war, dem ich mich nur schlechter entziehen, das ich nur schlechter überspielen konnte als die anderen. Gleichwohl hätte es mir damals gutgetan, wenn ich mich meiner Generation hätte zugehörig fühlen können.


2

Ich habe als Referendar geheiratet. Gertrud und ich hatten uns auf der Skihütte kennengelernt, und als die anderen am Ende der Ferien zurückfuhren, blieb sie noch, bis ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde und sie mich mitnehmen konnte. Auch sie war Juristin; wir studierten zusammen, bestanden zusammen das Examen und wurden zusammen Referendare. Wir heirateten, als Gertrud ein Kind erwartete.

Ich habe ihr nichts von Hanna erzählt. Wer will, dachte ich, von den früheren Beziehungen des anderen hören, wenn er nicht deren Erfüllung ist? Gertrud war gescheit, tüchtig und loyal, und wenn es unser Leben gewesen wäre,

einen Bauernhof zu führen mit vielen Knechten und Mägden, vielen Kindern, viel Arbeit und ohne Zeit füreinander, wäre es erfüllt und glücklich geworden. Aber unser Leben waren eine Dreizimmerwohnung in einem Neubau in einem Vorort, unsere Tochter Julia und Gertruds und meine Arbeit als Referendare. Ich habe nie aufhören können, das Zusammensein mit Gertrud mit dem Zusammensein mit Hanna zu vergleichen, und immer wieder hielten Gertrud und ich uns im Arm und hatte ich das Gefühl, daß es nicht stimmt, daß sie nicht stimmt, daß sie sich falsch anfaßt und anfühlt, daß sie falsch riecht und schmeckt. Ich dachte, es würde sich verlieren. Ich hoffte, es würde sich verlieren. Ich wollte von Hanna frei sein. Aber das Gefühl, daß es nicht stimmt, hat sich nie verloren.

Als Julia fünf war, haben wir uns scheiden lassen. Wir konnten beide nicht mehr, sind ohne Bitterkeit gegangen und in Loyalität verbunden geblieben. Gequält hat mich, daß wir Julia die Geborgenheit verweigerten, die sie sich spürbar wünschte. Wenn Gertrud und ich einander vertraut und zugetan waren, schwamm Julia darin wie ein Fisch im Wasser. Sie war in ihrem Element. Wenn sie Spannungen zwischen uns merkte, lief sie vom einen zum anderen und versicherte, wir seien lieb und sie habe uns lieb. Sie wünschte sich ein Brüderchen und hätte sich wohl auch über mehr Geschwister gefreut. Sie begriff lange nicht, was Scheidung bedeutet, und wollte, wenn ich zu Besuch kam, daß ich bleibe, und wenn sie mich besuchte, daß Gertrud mitkommt. Wenn ich ging und sie aus dem Fenster sah und ich unter ihrem traurigen Blick ins Auto stieg, brach es mir das Herz. Und ich hatte das Gefühl, daß das, was wir ihr verweigerten, nicht nur ihr Wunsch war, sondern daß sie ein Recht darauf hatte. Wir haben sie um ihr Recht betrogen, indem wir uns haben scheiden lassen, und daß wir es gemeinsam taten, hat die Schuld nicht halbiert.

Meine späteren Beziehungen habe ich besser an- und einzugehen versucht. Ich habe mir eingestanden, daß eine Frau sich ein bißchen wie Hanna anfassen und anfühlen, ein bißchen wie sie riechen und schmecken muß, damit unser Zusammensein stimmt. Und ich habe von Hanna erzählt. Ich habe den anderen Frauen auch mehr von mir erzählt, als ich Gertrud erzählt hatte; sie sollten sich ihren Reim auf das machen können, was ihnen an meinem Verhalten und meinen Stimmungen befremdlich erscheinen mochte. Aber viel wollten die Frauen nicht hören. Ich erinnere mich an Helen, eine amerikanische Literaturwissenschaftlerin, die mir wortlos begütigend über den Rücken strich, als ich erzählte, und ebenso wortlos begütigend weiterstrich, als ich zu erzählen aufhörte. Gesina, eine Psychoanalytikerin, meinte, ich müsse mein Verhältnis zu meiner Mutter aufarbeiten. Falle mir nicht auf, daß meine Mutter in meiner Geschichte kaum vorkomme? Hilke, eine Zahnärztin, fragte immer wieder nach der Zeit, bevor wir zusammengekommen waren, aber vergaß alsbald, was ich ihr erzählte. So gab ich das Erzählen wieder auf. Weil die Wahrheit dessen, was man redet, das ist, was man tut, kann man das Reden auch lassen.

3

Als ich mein zweites Examen schrieb, starb der Professor, der das KZ-Seminar veranstaltet hatte. Gertrud stieß in der Zeitung auf die Todesanzeige. Die Beerdigung war auf dem Bergfriedhof. Ob ich nicht hingehen wolle?

Ich wollte nicht. Die Beerdigung war an einem Donnerstagnachmittag, und am Donnerstag- und Freitagvormittag hatte ich Klausuren zu schreiben. Auch waren der Professor und ich einander nicht besonders nah gewesen. Und ich mochte Beerdigungen nicht. Und ich mochte nicht an den Prozeß erinnert werden.

Aber es war schon zu spät. Die Erinnerung war geweckt, und als ich am Donnerstag aus der Klausur kam, war mir, als hätte ich eine Verabredung mit der Vergangenheit, die ich nicht versäumen durfte.

Ich bin, was ich sonst nicht tat, mit der Straßenbahn gefahren. Schon das war eine Begegnung mit der Vergangenheit, wie die Rückkehr an einen Ort, der einem vertraut war und der sein Gesicht verändert hat. Als Hanna bei der Straßenbahn war, gab es Straßenbahnzüge mit zwei oder drei Wagen, Plattformen am Wagenanfang und -ende, Trittbretter an den Plattformen, auf die man noch aufspringen konnte, wenn der Zug schon abgefahren war, und eine durch den Zug laufende Schnur, mit der der Schaffner klingelnd das Signal zur Abfahrt gab. Im Sommer fuhren Straßenbahnwagen mit offenen Plattformen. Der Schaffner verkaufte, lochte und kontrollierte die Fahrscheine, rief die Stationen aus, signalisierte die Abfahrten, hatte ein Auge auf die Kinder, die sich auf den Plattformen drängten, schimpfte mit den Fahrgästen, die auf- und absprangen, und verwehrte den Zutritt, wenn der Wagen voll war. Es gab lustige, witzige, ernste, muffige und grobe Schaffner, und wie das Temperament oder die Stimmung des Schaffners war oft auch die Atmosphäre im Wagen. Wie töricht, daß ich mich nach der mißlungenen Überraschung auf der Fahrt nach Schwetzingen gescheut habe, Hanna als Schaffnerin abzupassen und mitzuerleben.


Ich stieg in den schaffnerlosen Straßenbahnzug und fuhr zum Bergfriedhof. Es war ein kalter Herbsttag mit wolkenlosem, dunstigem Himmel und gelber Sonne, die nicht mehr wärmt und in die das Auge schauen kann, ohne daß es weh tut. Ich mußte eine Weile suchen, bis ich das Grab, an dem auch die Beerdigungsfeierlichkeiten stattfanden, gefunden hatte. Ich lief unter hohen, kahlen Bäumen zwischen alten Grabsteinen. Gelegentlich begegnete ich einem Friedhofsgärtner oder einer alten Frau mit Gießkanne und Gartenschere. Es war ganz still, und ich hörte schon von weitem das Kirchenlied, das am Grab des Professors gesungen wurde.

Ich blieb abseits stehen und musterte die kleine Trauergemeinde. Manche darunter waren offensichtlich Eigenbrötler und Sonderlinge. In den Reden über Leben und Werk des Professors klang an, daß er selbst sich den Zwängen der Gesellschaft entzogen und dabei den Kontakt mit ihr verloren hatte, eigenständig geblieben und dabei eigenbrötlerisch geworden war.

Ich erkannte einen ehemaligen Teilnehmer des KZ-Seminars; er hatte vor mir Examen gemacht, war zunächst Anwalt geworden und dann Kneipier und kam in langem, rotem Mantel. Er sprach mich an, als alles vorbei und ich auf dem Rückweg zum Friedhofseingang war. »Wir waren zusammen im Seminar – erinnerst du dich nicht mehr?«

»Doch.« Wir gaben uns die Hand.

»Ich war immer mittwochs im Prozeß, und manchmal habe ich dich im Auto mitgenommen.« Er lachte. »Du warst jeden Tag dabei, jeden Tag und jede Woche. Sagst du jetzt, warum?« Er sah mich an, gutmütig und lauernd, und ich erinnerte mich, daß mir dieser Blick schon im Seminar aufgefallen war.

»Mich hat der Prozeß besonders interessiert.«

»Dich hat der Prozeß besonders interessiert?« Er lachte wieder. »Der Prozeß oder die Angeklagte, die du immer angestarrt hast? Die eine, die ganz passabel aussah? Wir alle haben uns gefragt, was mit dir und ihr ist, aber dich fragen hat sich keiner getraut. Wir waren damals furchtbar einfühlsam und rücksichtsvoll. Weißt du noch...« Er erinnerte an einen anderen Seminarteilnehmer, der stotterte oder lispelte und viel und dumm redete und dem wir zuhörten, als seien seine Worte eitel Gold. Er kam auf weitere Seminarteilnehmer zu sprechen, wie sie damals waren und was sie heute machten. Er erzählte und erzählte. Aber ich wußte, daß er mich am Ende noch mal fragen würde: »So, und was war jetzt mit dir und der einen Angeklagten?« Und ich wußte nicht, was ich antworten, wie


ich verleugnen, bekennen, ausweichen sollte.

Dann waren wir am Friedhofseingang, und er fragte. An der Haltestelle fuhr gerade die Straßenbahn an, und ich rief »Tschüß« und rannte los, als könne ich aufs Trittbrett springen, und rannte neben der Bahn her und schlug mit der flachen Hand an die Tür, und es passierte, woran ich gar nicht geglaubt, worauf ich gar nicht gehofft hatte. Die Straßenbahn hielt noch mal an, die Tür ging auf, und ich stieg ein.

4

Nach dem Referendariat mußte ich mich für einen Beruf entscheiden. Ich ließ mir eine Weile Zeit; Gertrud fing sofort als Richterin an, hatte alle Hände voll zu tun, und wir waren froh, daß ich zu Hause bleiben und mich um Julia kümmern konnte. Als Gertrud die Schwierigkeiten des Anfangs überwunden hatte und Julia in den Kindergarten kam, drängte die Entscheidung.

Ich tat mich schwer. Ich sah mich in keiner der Rollen, in denen ich beim Prozeß gegen Hanna Juristen erlebt hatte. Anklagen kam mir als ebenso groteske Vereinfachung vor wie Verteidigen, und Richten war unter den Vereinfachungen überhaupt die groteskeste. Ich konnte mich auch nicht als Verwaltungsbeamten sehen; ich hatte als Referendar auf dem Landratsamt gearbeitet und dessen Zimmer, Korridore, Geruch und Bedienstete grau, steril und trist gefunden.

Das ließ nicht mehr viele juristische Berufe übrig, und ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn ein Professor für Rechtsgeschichte mir nicht angeboten hätte, bei ihm zu arbeiten. Gertrud sagte, das sei eine Flucht, eine Flucht vor der Herausforderung und Verantwortung des Lebens, und sie hatte recht. Ich floh und war erleichtert, fliehen zu können. Es sei ja nicht für immer, sagte ich ihr und mir; ich sei jung genug, um auch nach ein paar Jahren Rechtsgeschichte noch jeden handfesten juristischen Beruf zu ergreifen. Aber es war für immer; der ersten Flucht folgte die nächste, als ich von der Universität an eine Forschungseinrichtung wechselte und dort eine Nische suchte und fand, in der ich meinen rechtsgeschichtlichen Interessen nachgehen konnte, niemanden brauchte und niemanden störte.

Nun ist Flucht nicht nur weglaufen, sondern auch ankommen. Und die Vergangenheit, in der ich als Rechtshistoriker ankam, war nicht weniger lebensvoll als die Gegenwart. Es ist auch nicht so, wie der Außenstehende vielleicht annehmen möchte, daß man die vergangene Lebensfülle nur beobachtet, während man an der gegenwärtigen teilnimmt. Geschichte treiben heißt Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlagen und beide Ufer beobachten und an beiden tätig werden. Eines meiner Forschungsgebiete wurde das Recht im Dritten Reich, und hier ist besonders augenfällig, wie Vergangenheit und Gegenwart in eine Lebenswirklichkeit zusammenschießen. Flucht ist hier nicht die Beschäftigung mit der Vergangenheit, sondern gerade die entschlossene Konzentration auf Gegenwart und Zukunft, die blind ist für das Erbe der Vergangenheit, von dem wir geprägt sind und mit dem wir leben müssen.