Файл: Bernhard Schlink - Der Vorleser.docx

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»Aber Sie können nicht ausschließen, daß diese Angeklagte«, der Anwalt einer der anderen Angeklagten zeigte auf Hanna, »die Entscheidungen traf?«

Sie konnten es nicht, wie sollten sie auch, und angesichts der anderen Angeklagten, sichtbar älter, müder, feiger und bitterer, wollten sie es auch nicht. Im Vergleich mit den anderen Angeklagten war Hanna die Führerin. Außerdem entlastete die Existenz einer Führerin die Bewohner des Dorfs; gegenüber einer straff geführten Einheit auf die Leistung von Hilfe verzichtet zu haben, machte sich besser als der Verzicht gegenüber einer Gruppe verwirrter Frauen.

Hanna kämpfte weiter. Sie gab zu, was stimmte, und bestritt, was nicht stimmte. Sie bestritt mit zunehmend verzweifelter Heftigkeit. Sie wurde nicht laut. Aber schon die Intensität, mit der sie redete, befremdete das Gericht.

Schließlich gab sie auf. Sie redete nur noch, wenn sie gefragt wurde, sie antwortete kurz, dürftig, manchmal fahrig. Wie um sichtbar zu machen, daß sie aufgegeben hatte, blieb sie jetzt, wenn sie redete, sitzen. Der Vorsitzende Richter, der ihr zu Beginn der Verhandlung mehrfach gesagt hatte, sie müsse nicht stehen, sie könne gerne sitzen, nahm auch das befremdet zur Kenntnis. Manchmal hatte ich gegen Ende der Verhandlung den Eindruck, das Gericht habe genug, wolle die Sache endlich hinter sich bringen, sei schon nicht mehr bei der Sache, sondern anderswo, wieder in der Gegenwart nach langen Wochen in der Vergangenheit.

Auch ich hatte genug. Aber ich konnte die Sache nicht hinter mir lassen. Für mich ging die Verhandlung nicht zu Ende, sondern begann. Ich war Zuschauer gewesen und plötzlich Teilnehmer geworden, Mitspieler und Mitentscheider. Ich hatte diese neue Rolle nicht gesucht und gewählt, aber ich hatte sie, ob ich wollte oder nicht, ob ich etwas tat oder mich völlig passiv verhielt.

Etwas tat – es ging nur um eines. Ich konnte zum Vorsitzenden Richter gehen und ihm sagen, daß Hanna Analphabetin war. Daß sie nicht die Hauptakteurin und -schuldige war, zu der die anderen sie machten. Daß ihr Verhalten im Prozeß nicht besondere Unbelehrbarkeit, Uneinsichtigkeit oder Dreistigkeit anzeigte, sondern aus der mangelnden vorherigen Kenntnis der Anklage und des Manuskripts und wohl auch aus dem Fehlen jeden strategischen oder taktischen Sinns resultierte. Daß sie in ihrer Verteidigung erheblich beeinträchtigt war. Daß sie schuldig, aber nicht so schuldig war, wie es den Anschein hatte.

Vielleicht würde ich den Vorsitzenden nicht überzeugen. Aber ich würde ihn zum Nachdenken und Nachforschen bringen. Am Ende würde sich erweisen, daß ich recht hatte, und Hanna würde zwar bestraft, aber geringer bestraft werden. Sie würde zwar ins Gefängnis müssen, aber früher wieder rauskönnen, früher wieder frei sein – war es nicht das, worum sie kämpfte?

Ja, sie kämpfte darum, war aber nicht willens, für den Erfolg den Preis ihrer Bloßstellung als Analphabetin zu zahlen. Sie würde auch nicht wollen, daß ich ihre Selbstdarstellung für ein paar Gefängnisjahre verkaufen würde. Sie konnte solchen Handel selbst machen, sie machte ihn nicht, also wollte sie ihn nicht. Ihr war ihre Selbstdarstellung die Gefängnisjahre wert.

Aber war sie's wirklich wert? Was hatte sie von dieser verlogenen Selbstdarstellung, die sie fesselte, lahmte, nicht sich entfalten ließ? Mit der Energie, mit der sie ihre Lebenslüge aufrechterhielt, hätte sie längst lesen und schreiben lernen können.

Ich habe damals mit Freunden über das Problem zu reden versucht. Stell dir vor, jemand rennt in sein Verderben, absichtlich, und du kannst ihn retten – rettest du ihn? Stell dir eine Operation vor und einen Patienten, der Drogen nimmt, mit denen sich die Anästhesie nicht verträgt, der sich aber schämt, daß er die Drogen nimmt, und es dem Anästhesisten nicht sagen will – redest du mit dem Anästhesisten? Stell dir eine Gerichtsverhandlung vor und einen Angeklagten, der bestraft wird, wenn er nicht offenbart, daß er Linkshänder ist und daher die Tat, die mit der rechten Hand ausgeführt wurde, nicht begangen haben kann, der sich aber schämt, daß er Linkshänder ist – sagst du dem Richter, was los ist? Stell dir vor, daß er schwul ist, die Tat als Schwuler nicht begangen haben kann, sich aber schämt, schwul zu sein. Es geht nicht darum, ob man sich schämen sollte, Linkshänder oder schwul zu sein – stell dir einfach vor, daß der Angeklagte sich schämt.

12

Ich beschloß, mit meinem Vater zu reden. Nicht weil wir uns so nahe gewesen wären. Mein Vater war verschlossen, konnte weder uns Kindern seine Gefühle mitteilen noch etwas mit den Gefühlen anfangen, die wir ihm entgegenbrachten. Lange vermutete ich hinter dem unmitteilsamen Verhalten einen Reichtum ungehobener Schätze. Aber später fragte ich mich, ob da überhaupt etwas war. Vielleicht war er als Junge und junger Mann reich an Gefühlen gewesen und hatte sie, ihnen keinen Ausdruck gebend, über die Jahre verdorren und absterben lassen.


Aber gerade wegen der Distanz zwischen uns suchte ich das Gespräch mit ihm. Ich suchte das Gespräch mit dem Philosophen, der über Kant und Hegel geschrieben hatte, von denen ich wußte, daß sie sich mit moralischen Fragen beschäftigt hatten. Er sollte auch in der Lage sein, mein Problem abstrakt zu erörtern, und sich, anders als meine Freunde, nicht an den Defiziten meiner Beispiele aufhalten.

Wenn wir Kinder unseren Vater sprechen wollten, gab er uns Termine wie seinen Studenten. Er arbeitete zu Hause und ging in die Universität nur, um seine Kollegs und Seminare zu halten. Die Kollegen und Studenten, die ihn sprechen wollten, kamen zu ihm nach Hause. Ich erinnere mich an Reihen von Studenten, die im Korridor an der Wand lehnten und warteten, bis sie an die Reihe kamen, manche lesend, andere die Stadtansichten betrachtend, die im Korridor hingen, andere ins Leere starrend, alle stumm, bis auf einen verlegenen Gruß, wenn wir Kinder grüßend durch den Flur gingen. Wir selbst warteten nicht im Flur, wenn unser Vater uns einen Termin gegeben hatte. Aber auch wir klopften zum festgesetzten Zeitpunkt an die Tür seines Arbeitszimmers und wurden hereingerufen.

Ich habe zwei Arbeitszimmer meines Vaters erlebt. Die Fenster des ersten, in dem Hanna die Bücher mit dem Finger abgeschritten hat, gingen auf Straßen und Häuser. Die des zweiten gingen auf die Rheinebene. Das Haus, in das wir Anfang der sechziger Jahre gezogen und in dem meine Eltern wohnen geblieben sind, als wir Kinder groß waren, lag über der Stadt am Hang. Hier wie dort weiteten die Fenster den Raum nicht in die Welt draußen, sondern hängten diese in das Zimmer wie Bilder. Das Arbeitszimmer meines Vaters war ein Gehäuse, in dem die Bücher, Papiere, Gedanken und der Pfeifen- und Zigarrenrauch eigene, von denen der Außenwelt verschiedene Druckverhältnisse geschaffen hatten. Sie waren mir zugleich vertraut und fremd.

Mein Vater ließ mich mein Problem präsentieren, in der abstrakten Fassung und mit den Beispielen. »Es hat mit dem Prozeß zu tun, nicht wahr?« Aber er schüttelte den Kopf, um mir zu bedeuten, daß er keine Antwort erwarte, nicht in mich dringen, von mir nichts wissen wolle, was ich nicht von mir aus sagte. Dann saß er, den Kopf zur Seite geneigt, mit den Händen die Armlehnen festhaltend, und dachte nach. Er sah mich nicht an. Ich betrachtete ihn, sein graues Haar, seine wie immer schlecht rasierten Backen, die scharfen Falten zwischen den Augen und von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln. Ich wartete.

Als er redete, holte er weit aus. Er belehrte mich über Person, Freiheit und Würde, über den Menschen als Subjekt und darüber, daß man ihn nicht zum Objekt machen dürfe. »Erinnerst du dich nicht mehr, wie es dich als kleinen Jungen empören konnte, wenn Mama besser wußte als du, was für dich gut war? Schon wieweit man das bei Kindern tun darf, ist ein wirkliches Problem. Es ist ein philosophisches Problem, aber die Philosophie kümmert sich nicht um die Kinder. Sie hat sie der Pädagogik überlassen, wo sie schlecht aufgehoben sind. Die Philosophie hat die Kinder vergessen«, er lächelte mich an, »für immer vergessen, nicht nur für manchmal, wie ich euch.«

»Aber...«

»Aber bei Erwachsenen sehe ich schlechterdings keinerlei Rechtfertigung dafür, das, was ein anderer für sie für gut hält, über das zu setzen, was sie selbst für sich für gut halten.«

»Auch nicht, wenn sie später selbst glücklich damit sind?«

Er schüttelte den Kopf. »Wir reden nicht über Glück, sondern über Würde und Freiheit. Schon als kleiner Junge hast du den Unterschied gekannt. Es hat dich nicht getröstet, daß Mama immer recht hatte.«

Heute denke ich gerne an das Gespräch mit meinem Vater zurück. Ich hatte es vergessen, bis ich nach seinem Tod begann, im Bodensatz der Erinnerung nach schönen Begegnungen, Erlebnissen und Erfahrungen mit ihm zu suchen. Als ich es fand, betrachtete ich es verwundert und beglückt. Damals war ich zunächst verwirrt von meines Vaters Mischung aus Abstraktion und Anschaulichkeit. Aber schließlich machte ich mir auf das, was er gesagt hatte, den Reim, daß ich nicht mit dem Richter reden mußte, daß ich gar nicht mit ihm reden durfte, und war erleichtert.

Mein Vater sah es mir an. »So gefällt dir die Philosophie?«

»Naja, ich wußte nicht, ob man in der Situation, die ich beschrieben habe, handeln muß, und war eigentlich nicht glücklich mit der Vorstellung, daß man muß, und wenn man nun gar nicht handeln darf – ich finde das...« Ich wußte nicht, was sagen. Erleichternd? Beruhigend? Angenehm? Das klang nicht nach Moral und Verantwortung. Ich finde es gut, klang moralisch und verantwortlich, aber ich konnte nicht sagen, daß ich es gut, daß ich es mehr als nur erleichternd fand.

»Angenehm?« schlug mein Vater vor.

Ich nickte mit dem Kopf und zuckte mit den Schultern.

»Nein, dein Problem hat keine angenehme Lösung. Natürlich muß man handeln, wenn die von dir beschriebene Situation eine Situation zugewachsener oder übernommener Verantwortung ist. Wenn man weiß, was für den anderen gut ist und daß er die Augen davor verschließt, muß man versuchen, ihm die Augen zu öffnen.


Man muß ihm das letzte Wort lassen, aber man muß ihm reden, mit ihm, nicht hinter seinem Rücken mit jemand anderem.«

Mit Hanna reden? Was sollte ich ihr sagen? Daß ich ihre Lebenslüge durchschaut hatte? Daß sie drauf und dran war, ihr ganzes Leben dieser dummen Lüge zu opfern? Daß die Lüge das Opfer nicht wert war? Daß sie darum kämpfen sollte, nicht länger als nötig ins Gefängnis zu müssen, um danach noch viel mit ihrem Leben anzufangen? Was eigentlich? Ob viel, etwas oder wenig – was sollte sie mit ihrem Leben anfangen? Konnte ich ihr ihre Lebenslüge wegnehmen, ohne ihr eine Lebensperspektive zu eröffnen? Ich wußte keine langfristige, und ich wußte auch nicht, wie ich ihr gegenübertreten und sagen sollte, es sei schon richtig, daß nach dem, was sie getan hatte, ihre Lebensperspektive kurz- und mittelfristig Gefängnis heißen würde. Ich wußte nicht, wie ich ihr gegenübertreten und irgend etwas sagen sollte. Ich wußte überhaupt nicht, wie ich ihr gegenübertreten sollte.

Ich fragte meinen Vater: »Und was ist, wenn man nicht mit ihm reden kann?«

Er sah mich zweifelnd an, und ich wußte selbst, daß die Frage neben der Sache lag. Es gab nichts mehr zu moralisieren. Ich mußte mich nur noch entscheiden.

»Ich habe dir nicht helfen können.« Mein Vater stand auf und ich auch. »Nein, du mußt nicht gehen, mir tut nur der Rücken weh.« Er stand krumm, die Hände auf die Nieren gepreßt. »Ich kann nicht sagen, daß es mir leid tut, daß ich dir nicht helfen kann. Als der Philosoph, meine ich, als den du mich gefragt hast. Als Vater finde ich die Erfahrung, meinen Kindern nicht helfen zu können, schier unerträglich.«

Ich wartete, aber er redete nicht weiter. Ich fand, er mache es sich leicht; ich wußte, wann er sich mehr um uns hätte kümmern und wie er uns mehr hätte helfen können. Dann dachte ich, daß er das vielleicht selbst weiß und wirklich schwer daran trägt. Aber so oder so konnte ich ihm nichts sagen. Ich wurde verlegen und hatte das Gefühl, daß auch er verlegen war.

»Ja, dann...«

»Du kannst jederzeit kommen.« Mein Vater sah mich an.

Ich glaubte ihm nicht und nickte.

13

Im Juni flog das Gericht für zwei Wochen nach Israel. Die dortige Vernehmung war eine Sache weniger Tage. Aber Richter und Staatsanwälte verbanden das justizielle mit dem touristischen Ereignis, Jerusalem und Tel Aviv, Negev und Rotes Meer. Das war dienst-, urlaubs- und kostenrechtlich sicher in Ordnung. Gleichwohl fand ich es bizarr.

Ich hatte geplant, die zwei Wochen ganz ans Studium zu wenden. Aber es lief nicht so, wie ich es mir vorgestellt und vorgenommen hatte. Ich konnte mich nicht aufs Lernen konzentrieren, nicht auf die Professoren und nicht auf die Bücher. Wieder und wieder schweiften meine Gedanken ab und verloren sich in Bildern.

Ich sah Hanna bei der brennenden Kirche, mit hartem Gesicht, schwarzer Uniform und Reitpeitsche. Mit der Reitpeitsche zeichnet sie Kringel in den Schnee und schlägt gegen die Stiefelschäfte. Ich sah sie, wie sie sich vorlesen läßt. Sie hört aufmerksam zu, stellt keine Fragen und macht keine Bemerkungen. Als die Stunde vorbei ist, teilt sie der Vorleserin mit, daß sie morgen mit dem Transport nach Auschwitz geht. Die Vorleserin, ein schmächtiges Geschöpf mit schwarzen Haarstoppeln und kurzsichtigen Augen, beginnt zu weinen. Hanna schlägt mit der Hand gegen die Wand, und zwei Frauen treten ein, auch sie Häftlinge in gestreiftem Gewand, und zerren die Vorleserin raus. Ich sah Hanna Lagerstraßen entlanggehen und in Häftlingsbaracken treten und Bauarbeiten überwachen. Sie tut alles mit demselben harten Gesicht, mit kalten Augen und schmalem Mund, und die Häftlinge ducken sich, beugen sich über die Arbeit, drücken sich an die Wand, in die Wand, wollen in der Wand verschwinden. Manchmal sind viele Häftlinge angetreten oder laufen hierhin und dorthin oder formen Reihen oder marschieren, und Hanna steht dazwischen und schreit Kommandos, das schreiende Gesicht eine häßliche Fratze, und hilft mit der Reitpeitsche nach. Ich sah den Kirchturm ins Kirchendach schlagen und die Funken stieben und hörte die Verzweiflung der Frauen. Ich sah die ausgebrannte Kirche am nächsten Morgen.

Neben diesen Bildern sah ich die anderen. Hanna, die in der Küche die Strümpfe anzieht, die vor der Badewanne das Frottiertuch hält, die mit wehendem Rock auf dem Fahrrad fährt, die im Arbeitszimmer meines Vaters steht, die vor dem Spiegel tanzt, die im Schwimmbad zu mir herüberschaut, Hanna, die mir zuhört, die zu mir redet, die mich anlacht, die mich liebt. Schlimm war, wenn die Bilder durcheinandergerieten. Hanna, die mich mit den kalten Augen und dem schmalen Mund liebt, die mir wortlos beim Vorlesen zuhört und am Ende mit der Hand gegen die Wand schlägt, die zu mir redet und deren Gesicht zur Fratze wird. Das schlimmste waren die Träume, in denen mich die harte, herrische, grausame Hanna sexuell erregte und von denen ich in Sehnsucht, Scham und Empörung aufwachte. Und in der Angst, wer ich eigentlich sei.


Ich wußte, daß die phantasierten Bilder armselige Klischees waren. Sie wurden der Hanna, die ich erlebt hatte und erlebte, nicht gerecht. Gleichwohl waren sie von großer Kraft. Sie zersetzten die erinnerten Bilder von Hanna und verbanden sich mit den Bildern vom Lager, die ich im Kopf hatte.

Wenn ich heute an die Jahre damals denke, fällt mir auf, wie wenig Anschauung es eigentlich gab, wie wenig Bilder, die das Leben und Morden in den Lagern vergegenwärtigten. Wir kannten von Auschwitz das Tor mit seiner Inschrift, die mehrstöckigen Holzpritschen, die Haufen von Haar und Brillen und Koffern, von Birkenau den Eingangsbau mit Turm, Seitenflügeln und Durchfahrt für die Züge und aus Bergen-Belsen die Leichenberge, die die Alliierten bei der Befreiung vorgefunden und photographiert hatten. Wir kannten einige Berichte von Häftlingen, aber viele Berichte sind bald nach dem Krieg erschienen und dann erst wieder in den achtziger Jahren aufgelegt worden und gehörten dazwischen nicht in die Programme der Verlage. Heute sind so viele Bücher und Filme vorhanden, daß die Welt der Lager ein Teil der gemeinsamen vorgestellten Welt ist, die die gemeinsame wirkliche vervollständigt. Die Phantasie kennt sich in ihr aus, und seit der Fernsehserie »Holocaust« und Spielfilmen wie »Sophies Wahl« und besonders »Schindlers Liste« bewegt sie sich auch in ihr, nimmt nicht nur wahr, sondern ergänzt und schmückt aus. Damals hat die Phantasie sich kaum bewegt; sie hat gemeint, zu der Erschütterung, die der Welt der Lager geschuldet werde, passe die Bewegung der Phantasie nicht. Die paar Bilder, die sie alliierten Photographien und Häftlingsberichten verdankte, betrachtete sie wieder und wieder, bis sie zu Klischees erstarrten.

14

Ich beschloß wegzufahren. Wenn ich von heute auf morgen nach Auschwitz hätte fahren können, hätte ich es gemacht. Aber ein Visum zu bekommen, dauerte Wochen. So bin ich zum Struthof ins Elsaß gefahren. Es war das nächste Konzentrationslager. Ich hatte noch nie eines gesehen. Ich wollte die Klischees mit der Wirklichkeit austreiben.

Ich bin getrampt und erinnere mich an eine Fahrt in einem Lastwagen, dessen Fahrer eine Flasche Bier nach der anderen leerte, und an einen Mercedes-Fahrer, der mit weißen Handschuhen steuerte. Hinter Straßburg hatte ich Glück; der Wagen fuhr nach Schirmeck, einer kleinen Stadt unweit vom Struthof.

Als ich dem Fahrer sagte, wohin genau ich unterwegs war, schwieg er. Ich sah zu ihm hinüber, konnte in seinem Gesicht aber nicht lesen, warum er mitten in lebhafter Unterhaltung plötzlich verstummt war. Er war mittleren Alters, hatte ein hageres Gesicht, ein dunkelrotes Mutter- oder Brandmal an der rechten Schläfe und strähnig gekämmtes, akkurat gescheiteltes schwarzes Haar. Er sah konzentriert auf die Straße.

Vor uns liefen die Vogesen in Hügeln aus. Wir fuhren durch Weinberge in ein sich weit öffnendes, sachte ansteigendes Tal. Links und rechts wuchs Mischwald die Hänge hinauf, manchmal gab's einen Steinbruch, eine backsteingemauerte Fabrikhalle mit gefaltetem Dach, ein altes Sanatorium, eine große Villa mit vielen Türmchen zwischen hohen Bäumen. Mal links, mal rechts begleitete uns eine Eisenbahnlinie.

Dann redete er wieder. Er fragte mich, warum ich den Struthof besuche, und ich erzählte vom Verfahren und von meinem Mangel an Anschauung.

»Ah, Sie wollen verstehen, warum Menschen so furchtbare Sachen machen können.« Er klang ein bißchen ironisch. Aber vielleicht war es auch nur die mundartliche Färbung von Stimme und Sprache. Ehe ich antworten konnte, redete er weiter. »Was wollen Sie eigentlich verstehen? Daß man aus Leidenschaft mordet, aus Liebe oder Haß oder für Ehre oder Rache, verstehen Sie?«

Ich nickte.

»Sie verstehen auch, daß man mordet, um reich zu werden oder mächtig? Daß man im Krieg mordet oder bei einer Revolution?«

Ich nickte wieder. »Aber...«

»Aber die, die in den Lagern gemordet wurden, hatten denen, die sie gemordet haben, nichts getan? Wollen Sie das sagen? Wollen Sie sagen, daß es keinen Grund zum Haß gab und keinen Krieg?«

Ich wollte nicht wieder nicken. Was er sagte, stimmte, aber nicht, wie er es sagte.

»Sie haben recht, es gab keinen Krieg und keinen Grund zum Haß. Aber auch der Henker haßt den, den er hinrichtet, nicht und richtet ihn doch hin. Weil es ihm befohlen wurde? Sie denken, daß er es tut, weil es ihm befohlen wurde? Und Sie denken, daß ich jetzt von Befehl und Gehorsam rede und davon, daß den Mannschaften in den Lagern befohlen wurde und daß sie gehorchen mußten?« Er lachte verächtlich. »Nein, ich rede nicht von Befehl und Gehorsam. Der Henker befolgt keine Befehle. Er tut seine Arbeit, haßt die nicht, die er hinrichtet, rächt sich nicht an ihnen, bringt sie nicht um, weil sie ihm im Weg stehen oder ihn bedrohen oder angreifen. Sie sind ihm völlig gleichgültig. Sie sind ihm so gleichgültig, daß er sie ebensogut töten wie nicht töten kann.«

Er sah mich an. »Kein ‚aber’? Kommen Sie, sagen Sie, daß ein Mensch einem anderen so gleichgültig nicht sein darf. Haben Sie das nicht gelernt? Solidarität mit allem, was Menschenantlitz trägt? Würde des Menschen? Ehrfurcht vor dem Leben?«


Ich war empört und hilflos. Ich suchte nach einem Wort, einem Satz, der das, was er gesagt hatte, auslöschen und ihm die Sprache verschlagen würde.

»Ich habe einmal«, fuhr er fort, »eine Photographie von Erschießungen von Juden in Rußland gesehen. Die Juden warten nackt in einer langen Reihe, einige stehen am Rand einer Grube, und hinter ihnen stehen Soldaten mit Gewehren und schießen sie ins Genick. Das geschieht in einem Steinbruch, und über den Juden und Soldaten, auf einem Sims in der Wand, sitzt ein Offizier, läßt die Beine baumeln und raucht eine Zigarette. Er kuckt ein bißchen




verdrießlich. Vielleicht geht es ihm nicht schnell genug voran. Er hat aber auch etwas Zufriedenes, sogar Vergnügtes im Gesicht, vielleicht weil immerhin das Tagwerk geschieht und bald Feierabend ist. Er haßt die Juden nicht. Er ist nicht...«

»Waren Sie das? Haben Sie auf dem Sims gesessen und...«

Er hielt an. Er war ganz bleich, und das Mal an seiner Schläfe leuchtete. »Raus!«

Ich stieg aus. Er wendete so, daß ich einen Sprung zur Seite machen mußte. Ich hörte ihn noch in den nächsten Kurven. Dann war es still.

Ich ging die Straße bergan. Kein Auto überholte mich, keines kam mir entgegen. Ich hörte Vögel, den Wind in den Bäumen, manchmal das Rauschen eines Bachs. Ich atmete erlöst. Nach einer Viertelstunde hatte ich das Konzentrationslager erreicht.

15

Ich bin unlängst noch mal hingefahren. Es war Winter, ein klarer, kalter Tag. Hinter Schirmeck war der Wald verschneit, weiß bepuderte Bäume und weiß bedeckter Boden. Das Gelände des Konzentrationslagers, ein längliches Areal auf abfallender Bergterrasse mit weitem Blick über die Vogesen, lag weiß in der hellen Sonne. Das graublau gestrichene Holz der zwei- und dreistöckigen Wachtürme und der einstöckigen Baracken kontrastierte freundlich mit dem Schnee. Gewiß, da gab es das maschendrahtverhauene Tor mit dem Schild »Konzentrationslager Struthof-Natzweiler« und den um das Lager laufenden doppelten Stacheldrahtzaun. Aber der Boden zwischen den verbliebenen Baracken, auf dem ursprünglich weitere Baracken dicht an dicht gedrängt standen, ließ unter der glitzernden Schneedecke vom Lager nichts mehr erkennen. Er hätte ein Rodelhang für Kinder sein können, die in den freundlichen Baracken mit den gemütlichen Sprossenfenstern Winterferien machen und gleich zu Kuchen und heißer Schokolade hereingerufen werden.

Das Lager war geschlossen. Ich stapfte durch den Schnee darum herum und holte mir nasse Füße. Ich konnte das ganze Gelände gut einsehen und erinnerte mich, wie ich es damals, bei meinem ersten Besuch, auf Stufen, die zwischen den Grundmauern der abgetragenen Baracken hinabführten, abgegangen war. Ich erinnerte mich auch an Krematoriumsöfen, die damals in einer Baracke gezeigt worden waren, und daran, daß eine andere Baracke ein Zellenbau gewesen war. Ich erinnerte mich an meinen damaligen vergeblichen Versuch, mir ein volles Lager und Häftlinge und Wachmannschaften und das Leiden konkret vorzustellen. Ich versuchte es wirklich, schaute auf eine Baracke, schloß die Augen und reihte Baracke an Baracke. Ich durchmaß eine Baracke, errechnete aus dem Prospekt die Belegung und stellte mir die Enge vor. Ich erfuhr, daß die Stufen zwischen den Baracken zugleich als Appellplatz dienten, und füllte sie beim Blick vom unteren zum oberen Ende des Lagers mit Reihen von Rücken. Aber es war alles vergeblich, und ich hatte das Gefühl kläglichen, beschämenden Versagens. Bei der Rückfahrt fand ich weiter unten am Hang ein kleines, einem Restaurant gegenüber gelegenes Haus als Gaskammer ausgewiesen. Es war weiß gestrichen, hatte sandsteingefaßte Türen und Fenster und hätte eine Scheune oder ein Schuppen sein können oder ein Wohngebäude für Dienstboten. Auch dieses Haus war geschlossen, und ich erinnerte mich nicht, damals im Inneren gewesen zu sein. Ich bin nicht ausgestiegen. Ich saß eine Weile bei laufendem Motor im Wagen und schaute. Dann fuhr ich weiter.

Zuerst scheute ich mich, auf dem Heimweg durch die Dörfer des Elsaß zu mäandern und ein Restaurant fürs Mittagessen zu suchen. Aber die Scheu verdankte sich nicht einer echten Empfindung, sondern Überlegungen, wie man sich nach dem Besuch eines Konzentrationslagers zu fühlen habe. Ich merkte es selbst, zuckte die Schultern und fand in einem Dorf am Hang der Vogesen das Restaurant »Au Petit Garçon«. Von meinem Tisch aus hatte ich den Blick in die Ebene. »Jungchen« hatte mich Hanna genannt.

Bei meinem ersten Besuch bin ich auf dem Gelände des Konzentrationslagers herumgelaufen, bis es schloß. Danach habe ich mich unter das Denkmal gesetzt, das oberhalb des Lagers steht, und auf das Gelände hinabgeschaut. In mir fühlte ich eine große Leere, als hätte ich nach der Anschauung nicht da draußen, sondern in mir gesucht und feststellen müssen, daß in mir nichts zu finden ist.

Dann wurde es dunkel. Ich mußte eine Stunde warten, bis mich ein kleiner offener Lastwagen auf die Ladefläche aufsitzen ließ und in das nächste Dorf mitnahm, und gab auf, am selben Tag zurückzutrampen. Ich fand ein billiges Zimmer in einem Dorfgasthof und aß in der Gaststube ein dünnes Steak mit Pommes frites und Erbsen.