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fing an, als ich fünfzehn war, und ging weiter, als sie im

Gefängnis saß.«

»Wie haben Sie…«

»Ich habe ihr Kassetten geschickt. Frau Schmitz war

fast ihr ganzes Leben lang Analphabetin; sie hat erst im

Gefängnis lesen und schreiben gelernt.«

»Warum haben Sie das alles gemacht?«

»Wir hatten, als ich fünfzehn war, eine Beziehung.«

202 »Sie meinen, Sie haben zusammen geschlafen?«

»Ja.«

»Was ist diese Frau brutal gewesen. Haben Sie’s

verkraftet, daß sie Sie mit fünfzehn… Nein, Sie sagen

selbst, daß Sie ihr wieder vorzulesen begonnen haben, als

sie im Gefängnis war. Haben Sie jemals geheiratet?«

Ich nickte.

»Und die Ehe war kurz und unglücklich, und Sie haben

nicht wieder geheiratet, und das Kind, wenn’s eines gibt,

ist im Internat.«

»Das trifft für Tausende zu; dazu braucht es keine Frau

Schmitz.«

»Hatten Sie, wenn Sie in den letzten Jahren mit ihr

Kontakt hatten, jemals das Gefühl, daß sie wußte, was sie

Ihnen angetan hat?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls wußte sie,

was sie anderen im Lager und auf dem Marsch angetan

hat. Sie hat mir das nicht nur gesagt, sie hat sich in

den letzten Jahren im Gefängnis auch intensiv damit

beschäftigt.« Ich berichtete, was mir die Leiterin der

Anstalt erzählt hatte.

Sie stand auf und ging mit großen Schritten im Zimmer

auf und ab. »Um wieviel Geld geht es denn?«

Ich ging zur Garderobe, wo ich meine Tasche gelassen

hatte, und kam mit Scheck und Teedose zurück. »Hier.«

Sie sah auf den Scheck und legte ihn auf den Tisch. Die

Dose öffnete sie, leerte sie, schloß sie wieder und hielt

sie in der Hand, den Blick fest darauf gerichtet. »Als

Mädchen hatte ich eine Teedose für meine Schätze. Keine

wie diese, obwohl es diese Teedosen damals auch schon

gab, sondern eine mit kyrillischen Schriftzeichen, der

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Deckel nicht zum Reindrücken, sondern zum

Drüberstülpen. Ich habe sie bis ins Lager gebracht, dort

wurde sie mir eines Tages gestohlen.«

»Was war drin?«

»Was wohl. Eine Locke von unserem Pudel,

Eintrittskarten von Opern, zu denen mein Vater mich

mitgenommen hat, ein Ring, irgendwo gewonnen oder in

einer Packung gefunden – gestohlen wurde mir die Dose

nicht wegen des Inhalts. Die Dose selbst und was man mit

ihr machen konnte, war im Lager viel wert.« Sie stellte die

Dose auf den Scheck. »Haben Sie einen Vorschlag für die

Verwendung des Gelds? Es für irgendwas zu verwenden,

was mit dem Holocaust zu tun hat, käme mir wirklich wie

eine Absolution vor, die ich weder erteilen kann noch

will.«

»Für Analphabeten, die lesen und schreiben lernen

wollen. Da gibt es sicher gemeinnützige Stiftungen,

Vereinigungen, Gesellschaften, denen man das Geld

geben könnte.«

»Sicher gibt es die.« Sie dachte nach.

»Gibt es auch entsprechende jüdische Vereinigungen?«

»Sie können sich darauf verlassen, daß, wenn

es Vereinigungen für etwas gibt, es auch jüdische

Vereinigungen dafür gibt. Analphabetismus ist allerdings

nicht gerade ein jüdisches Problem.«

Sie schob mir den Scheck und das Geld hin.

»Machen wir’s so. Sie machen sich kundig, was für

einschlägige jüdische Einrichtungen es gibt, hier oder in

Deutschland, und überweisen das Geld auf das Konto der

Einrichtung, die Sie am meisten überzeugt. Sie können

ja«, sie lachte, »wenn die Anerkennung sehr wichtig ist,

das Geld im Namen von Hanna Schmitz überweisen.«

Sie nahm wieder die Dose in die Hand. »Ich behalte die

Dose.«

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Inzwischen liegt das alles zehn Jahre zurück. In den

ersten Jahren nach Hannas Tod haben mich die alten

Fragen gequält, ob ich sie verleugnet und verraten habe,

ob ich ihr etwas schuldig geblieben bin, ob ich schuldig

geworden bin, indem ich sie geliebt habe, ob ich und wie

ich mich ihr hätte lossagen, loslösen müssen. Manchmal

habe ich mich gefragt, ob ich für ihren Tod verantwortlich

bin. Und manchmal war ich zornig auf sie und über das,

was sie mir angetan hat. Bis der Zorn kraftlos und die

Fragen unwichtig wurden. Was ich getan und nicht getan

habe und sie mir angetan hat – es ist nun eben mein

Leben geworden.

Den Vorsatz, Hannas und meine Geschichte zu

schreiben, habe ich bald nach ihrem Tod gefaßt.

Seitdem hat sich unsere Geschichte in meinem Kopf

viele Male geschrieben, immer wieder ein bißchen

anders, immer wieder mit neuen Bildern, Handlungsund

Gedankenfetzen. So gibt es neben der Version,

die ich geschrieben habe, viele andere. Die Gewähr

dafür, daß die geschriebene die richtige ist, liegt darin,

daß ich sie geschrieben und die anderen Versionen

nicht geschrieben habe. Die geschriebene Ver-

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206

sion wollte geschrieben werden, die vielen anderen

wollten es nicht.

Zuerst wollte ich unsere Geschichte schreiben, um

sie loszuwerden. Aber zu diesem Zweck haben sich die

Erinnerungen nicht eingestellt. Dann merkte ich, wie

unsere Geschichte mir entglitt, und wollte sie durchs

Schreiben zurückholen, aber auch das hat die Erinnerung

nicht hervorgelockt. Seit einigen Jahren lasse ich unsere

Geschichte in Ruhe. Ich habe meinen Frieden mit ihr

gemacht. Und sie ist zurückgekommen, Detail um Detail

und in einer Weise rund, geschlossen und gerichtet, daß


sie mich nicht mehr traurig macht. Was für eine traurige

Geschichte, dachte ich lange. Nicht daß ich jetzt dächte,

sie sei glücklich. Aber ich denke, daß sie stimmt und

daß daneben die Frage, ob sie traurig oder glücklich ist,

keinerlei Bedeutung hat.

Jedenfalls denke ich das, wenn ich einfach so an sie

denke. Wenn ich jedoch verletzt werde, kommen wieder

die damals erfahrenen Verletzungen hoch, wenn ich

mich schuldig fühle, die damaligen Schuldgefühle, und

in heutiger Sehnsucht, heutigem Heimweh spüre ich

Sehnsucht und Heimweh von damals. Die Schichten

unseres Lebens ruhen so dicht aufeinander auf, daß

uns im Späteren immer Früheres begegnet, nicht

als Abgetanes und Erledigtes, sondern gegenwärtig

und lebendig. Ich verstehe das. Trotzdem finde ich es

manchmal schwer erträglich. Vielleicht habe ich unsere

Geschichte doch geschrieben, weil ich sie loswerden will,

auch wenn ich es nicht kann.

Hannas Geld habe ich gleich nach der Rückkehr aus

New York unter ihrem Namen der Jewish League Against

Illiteracy überwiesen. Ich bekam einen kurzen

computergeschriebenen Brief, in dem die Jewish League

Ms. Hanna Schmitz für ihre Spende dankt. Mit dem Brief

in der Tasche bin ich auf den Friedhof zu Hannas Grab

gefahren. Es war das erste und einzige Mal, daß ich an

ihrem Grab stand.

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil