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Добавлен: 22.12.2020
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fing an, als ich fünfzehn war, und ging weiter, als sie im
Gefängnis saß.«
»Wie haben Sie…«
»Ich habe ihr Kassetten geschickt. Frau Schmitz war
fast ihr ganzes Leben lang Analphabetin; sie hat erst im
Gefängnis lesen und schreiben gelernt.«
»Warum haben Sie das alles gemacht?«
»Wir hatten, als ich fünfzehn war, eine Beziehung.«
202 »Sie meinen, Sie haben zusammen geschlafen?«
»Ja.«
»Was ist diese Frau brutal gewesen. Haben Sie’s
verkraftet, daß sie Sie mit fünfzehn… Nein, Sie sagen
selbst, daß Sie ihr wieder vorzulesen begonnen haben, als
sie im Gefängnis war. Haben Sie jemals geheiratet?«
Ich nickte.
»Und die Ehe war kurz und unglücklich, und Sie haben
nicht wieder geheiratet, und das Kind, wenn’s eines gibt,
ist im Internat.«
»Das trifft für Tausende zu; dazu braucht es keine Frau
Schmitz.«
»Hatten Sie, wenn Sie in den letzten Jahren mit ihr
Kontakt hatten, jemals das Gefühl, daß sie wußte, was sie
Ihnen angetan hat?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls wußte sie,
was sie anderen im Lager und auf dem Marsch angetan
hat. Sie hat mir das nicht nur gesagt, sie hat sich in
den letzten Jahren im Gefängnis auch intensiv damit
beschäftigt.« Ich berichtete, was mir die Leiterin der
Anstalt erzählt hatte.
Sie stand auf und ging mit großen Schritten im Zimmer
auf und ab. »Um wieviel Geld geht es denn?«
Ich ging zur Garderobe, wo ich meine Tasche gelassen
hatte, und kam mit Scheck und Teedose zurück. »Hier.«
Sie sah auf den Scheck und legte ihn auf den Tisch. Die
Dose öffnete sie, leerte sie, schloß sie wieder und hielt
sie in der Hand, den Blick fest darauf gerichtet. »Als
Mädchen hatte ich eine Teedose für meine Schätze. Keine
wie diese, obwohl es diese Teedosen damals auch schon
gab, sondern eine mit kyrillischen Schriftzeichen, der
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Deckel nicht zum Reindrücken, sondern zum
Drüberstülpen. Ich habe sie bis ins Lager gebracht, dort
wurde sie mir eines Tages gestohlen.«
»Was war drin?«
»Was wohl. Eine Locke von unserem Pudel,
Eintrittskarten von Opern, zu denen mein Vater mich
mitgenommen hat, ein Ring, irgendwo gewonnen oder in
einer Packung gefunden – gestohlen wurde mir die Dose
nicht wegen des Inhalts. Die Dose selbst und was man mit
ihr machen konnte, war im Lager viel wert.« Sie stellte die
Dose auf den Scheck. »Haben Sie einen Vorschlag für die
Verwendung des Gelds? Es für irgendwas zu verwenden,
was mit dem Holocaust zu tun hat, käme mir wirklich wie
eine Absolution vor, die ich weder erteilen kann noch
will.«
»Für Analphabeten, die lesen und schreiben lernen
wollen. Da gibt es sicher gemeinnützige Stiftungen,
Vereinigungen, Gesellschaften, denen man das Geld
geben könnte.«
»Sicher gibt es die.« Sie dachte nach.
»Gibt es auch entsprechende jüdische Vereinigungen?«
»Sie können sich darauf verlassen, daß, wenn
es Vereinigungen für etwas gibt, es auch jüdische
Vereinigungen dafür gibt. Analphabetismus ist allerdings
nicht gerade ein jüdisches Problem.«
Sie schob mir den Scheck und das Geld hin.
»Machen wir’s so. Sie machen sich kundig, was für
einschlägige jüdische Einrichtungen es gibt, hier oder in
Deutschland, und überweisen das Geld auf das Konto der
Einrichtung, die Sie am meisten überzeugt. Sie können
ja«, sie lachte, »wenn die Anerkennung sehr wichtig ist,
das Geld im Namen von Hanna Schmitz überweisen.«
Sie nahm wieder die Dose in die Hand. »Ich behalte die
Dose.«
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Inzwischen liegt das alles zehn Jahre zurück. In den
ersten Jahren nach Hannas Tod haben mich die alten
Fragen gequält, ob ich sie verleugnet und verraten habe,
ob ich ihr etwas schuldig geblieben bin, ob ich schuldig
geworden bin, indem ich sie geliebt habe, ob ich und wie
ich mich ihr hätte lossagen, loslösen müssen. Manchmal
habe ich mich gefragt, ob ich für ihren Tod verantwortlich
bin. Und manchmal war ich zornig auf sie und über das,
was sie mir angetan hat. Bis der Zorn kraftlos und die
Fragen unwichtig wurden. Was ich getan und nicht getan
habe und sie mir angetan hat – es ist nun eben mein
Leben geworden.
Den Vorsatz, Hannas und meine Geschichte zu
schreiben, habe ich bald nach ihrem Tod gefaßt.
Seitdem hat sich unsere Geschichte in meinem Kopf
viele Male geschrieben, immer wieder ein bißchen
anders, immer wieder mit neuen Bildern, Handlungsund
Gedankenfetzen. So gibt es neben der Version,
die ich geschrieben habe, viele andere. Die Gewähr
dafür, daß die geschriebene die richtige ist, liegt darin,
daß ich sie geschrieben und die anderen Versionen
nicht geschrieben habe. Die geschriebene Ver-
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sion wollte geschrieben werden, die vielen anderen
wollten es nicht.
Zuerst wollte ich unsere Geschichte schreiben, um
sie loszuwerden. Aber zu diesem Zweck haben sich die
Erinnerungen nicht eingestellt. Dann merkte ich, wie
unsere Geschichte mir entglitt, und wollte sie durchs
Schreiben zurückholen, aber auch das hat die Erinnerung
nicht hervorgelockt. Seit einigen Jahren lasse ich unsere
Geschichte in Ruhe. Ich habe meinen Frieden mit ihr
gemacht. Und sie ist zurückgekommen, Detail um Detail
und in einer Weise rund, geschlossen und gerichtet, daß
sie mich nicht mehr traurig macht. Was für eine traurige
Geschichte, dachte ich lange. Nicht daß ich jetzt dächte,
sie sei glücklich. Aber ich denke, daß sie stimmt und
daß daneben die Frage, ob sie traurig oder glücklich ist,
keinerlei Bedeutung hat.
Jedenfalls denke ich das, wenn ich einfach so an sie
denke. Wenn ich jedoch verletzt werde, kommen wieder
die damals erfahrenen Verletzungen hoch, wenn ich
mich schuldig fühle, die damaligen Schuldgefühle, und
in heutiger Sehnsucht, heutigem Heimweh spüre ich
Sehnsucht und Heimweh von damals. Die Schichten
unseres Lebens ruhen so dicht aufeinander auf, daß
uns im Späteren immer Früheres begegnet, nicht
als Abgetanes und Erledigtes, sondern gegenwärtig
und lebendig. Ich verstehe das. Trotzdem finde ich es
manchmal schwer erträglich. Vielleicht habe ich unsere
Geschichte doch geschrieben, weil ich sie loswerden will,
auch wenn ich es nicht kann.
Hannas Geld habe ich gleich nach der Rückkehr aus
New York unter ihrem Namen der Jewish League Against
Illiteracy überwiesen. Ich bekam einen kurzen
computergeschriebenen Brief, in dem die Jewish League
Ms. Hanna Schmitz für ihre Spende dankt. Mit dem Brief
in der Tasche bin ich auf den Friedhof zu Hannas Grab
gefahren. Es war das erste und einzige Mal, daß ich an
ihrem Grab stand.
Erster Teil
Zweiter Teil
Dritter Teil