ВУЗ: Не указан
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Добавлен: 22.12.2020
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der Fingerzeig auf Hanna wies auf mich zurück. Ich hatte
sie geliebt. Ich hatte sie nicht nur geliebt, ich hatte sie
gewählt. Ich habe versucht, mir zu sagen, daß ich, als
ich Hanna wählte, nichts von dem wußte, was sie getan
hatte. Ich habe versucht, mich damit in den Zustand der
Unschuld zu reden, in dem Kinder ihre Eltern lieben.
Aber die Liebe zu den Eltern ist die einzige Liebe, für die
man nicht verantwortlich ist.
Und vielleicht ist man sogar für die Liebe zu den Eltern
verantwortlich. Damals habe ich die anderen Studenten
beneidet, die sich von ihren Eltern und damit von der
ganzen Generation der Täter, Zu- und Wegseher, Tolerierer
und Akzeptierer absetzten und dadurch wenn nicht ihre
Scham, dann doch ihr Leiden an der Scham überwanden.
Aber woher kam die auftrumpfende Selbstgerechtigkeit,
die mir bei ihnen so oft begegnete? Wie kann man
Schuld und Scham empfinden und zugleich selbstgerecht
auftrumpfen? War die Absetzung von den Eltern nur
Rhetorik, Geräusch, Lärm, die übertönen sollten, daß mit
der Liebe zu den Eltern die Verstrickung in deren Schuld
unwiderruflich eingetreten war?
Das sind spätere Gedanken. Auch später waren sie kein
Trost. Wie sollte es ein Trost sein, daß mein Leiden an
meiner Liebe zu Hanna in gewisser Weise das Schicksal
meiner Generation, das deutsche Schicksal war, dem ich
mich nur schlechter entziehen, das ich nur schlechter
überspielen konnte als die anderen. Gleichwohl hätte es
mir damals gutgetan, wenn ich mich meiner Generation
hätte zugehörig fühlen können.
164 Ich habe als Referendar geheiratet. Gertrud und ich
hatten uns auf der Skihütte kennengelernt, und als die
anderen am Ende der Ferien zurückfuhren, blieb sie
noch, bis ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde und
sie mich mitnehmen konnte. Auch sie war Juristin; wir
studierten zusammen, bestanden zusammen das Examen
und wurden zusammen Referendare. Wir heirateten, als
Gertrud ein Kind erwartete.
Ich habe ihr nichts von Hanna erzählt. Wer will,
dachte ich, von den früheren Beziehungen des anderen
hören, wenn er nicht deren Erfüllung ist? Gertrud
war gescheit, tüchtig und loyal, und wenn es unser
Leben gewesen wäre, einen Bauernhof zu führen mit
vielen Knechten und Mägden, vielen Kindern, viel
Arbeit und ohne Zeit füreinander, wäre es erfüllt und
glücklich geworden. Aber unser Leben waren eine
Dreizimmerwohnung in einem Neubau in einem Vorort,
unsere Tochter Julia und Gertruds und meine Arbeit
als Referendare. Ich habe nie aufhören können, das
Zusammensein mit Gertrud mit dem Zusammensein
mit Hanna zu vergleichen, und immer wieder hielten
Gertrud und ich uns im Arm und hatte ich das
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Gefühl, daß es nicht stimmt, daß sie nicht stimmt, daß
sie sich falsch anfaßt und anfühlt, daß sie falsch riecht
und schmeckt. Ich dachte, es würde sich verlieren. Ich
hoffte, es würde sich verlieren. Ich wollte von Hanna frei
sein. Aber das Gefühl, daß es nicht stimmt, hat sich nie
verloren.
Als Julia fünf war, haben wir uns scheiden lassen. Wir
konnten beide nicht mehr, sind ohne Bitterkeit gegangen
und in Loyalität verbunden geblieben. Gequält hat mich,
daß wir Julia die Geborgenheit verweigerten, die sie
sich spürbar wünschte. Wenn Gertrud und ich einander
vertraut und zugetan waren, schwamm Julia darin wie
ein Fisch im Wasser. Sie war in ihrem Element. Wenn
sie Spannungen zwischen uns merkte, lief sie vom einen
zum anderen und versicherte, wir seien lieb und sie habe
uns lieb. Sie wünschte sich ein Brüderchen und hätte sich
wohl auch über mehr Geschwister gefreut. Sie begriff
lange nicht, was Scheidung bedeutet, und wollte, wenn
ich zu Besuch kam, daß ich bleibe, und wenn sie mich
besuchte, daß Gertrud mitkommt. Wenn ich ging und sie
aus dem Fenster sah und ich unter ihrem traurigen Blick
ins Auto stieg, brach es mir das Herz. Und ich hatte das
Gefühl, daß das, was wir ihr verweigerten, nicht nur ihr
Wunsch war, sondern daß sie ein Recht darauf hatte. Wir
haben sie um ihr Recht betrogen, indem wir uns haben
scheiden lassen, und daß wir es gemeinsam taten, hat die
Schuld nicht halbiert.
Meine späteren Beziehungen habe ich besser an- und
einzugehen versucht. Ich habe mir eingestanden, daß eine
Frau sich ein bißchen wie Hanna anfassen und anfühlen,
ein bißchen wie sie riechen und schmecken muß, damit
unser Zusammensein stimmt. Und ich habe von Hanna
erzählt. Ich habe den anderen Frauen auch mehr von
mir erzählt, als ich Gertrud erzählt hatte; sie sollten
sich ihren Reim auf das machen können, was ihnen an
meinem Verhalten und meinen Stimmungen befremdlich
erscheinen mochte. Aber viel wollten die Frauen nicht
hören. Ich erinnere mich an Helen, eine amerikanische Li
teraturwissenschaftlerin, die mir wortlos begütigend über
den Rücken strich, als ich erzählte, und ebenso wortlos
begütigend weiterstrich, als ich zu erzählen aufhörte.
Gesina, eine Psychoanalytikerin, meinte, ich müsse
mein Verhältnis zu meiner Mutter aufarbeiten. Falle mir
nicht auf, daß meine Mutter in meiner Geschichte kaum
vorkomme? Hilke, eine Zahnärztin, fragte immer wieder
nach der Zeit, bevor wir zusammengekommen waren,
aber vergaß alsbald, was ich ihr erzählte. So gab ich das
Erzählen wieder auf. Weil die Wahrheit dessen, was man
redet, das ist, was man tut, kann man das Reden auch
lassen.
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Als ich mein zweites Examen schrieb, starb der Professor,
der das KZ-Seminar veranstaltet hatte. Gertrud stieß in
der Zeitung auf die Todesanzeige. Die Beerdigung war auf
dem Bergfriedhof. Ob ich nicht hingehen wolle?
Ich wollte nicht. Die Beerdigung war an einem
Donnerstagnachmittag, und am Donnerstag- und
Freitagvormittag hatte ich Klausuren zu schreiben. Auch
waren der Professor und ich einander nicht besonders
nah gewesen. Und ich mochte Beerdigungen nicht. Und
ich mochte nicht an den Prozeß erinnert werden.
Aber es war schon zu spät. Die Erinnerung war geweckt,
und als ich am Donnerstag aus der Klausur kam, war mir,
als hätte ich eine Verabredung mit der Vergangenheit, die
ich nicht versäumen durfte.
Ich bin, was ich sonst nicht tat, mit der Straßenbahn
gefahren. Schon das war eine Begegnung mit der
Vergangenheit, wie die Rückkehr an einen Ort, der einem
vertraut war und der sein Gesicht verändert hat. Als Hanna
bei der Straßenbahn war, gab es Straßenbahnzüge mit
zwei oder drei Wagen, Plattformen am Wagenanfang und
-ende, Trittbretter an den Plattformen, auf die man noch
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168 aufspringen konnte, wenn der Zug schon abgefahren
war, und eine durch den Zug laufende Schnur, mit der
der Schaffner klingelnd das Signal zur Abfahrt gab.
Im Sommer fuhren Straßenbahnwagen mit offenen
Plattformen. Der Schaffner verkaufte, lochte und
kontrollierte die Fahrscheine, rief die Stationen aus,
signalisierte die Abfahrten, hatte ein Auge auf die Kinder,
die sich auf den Plattformen drängten, schimpfte mit
den Fahrgästen, die auf- und absprangen, und verwehrte
den Zutritt, wenn der Wagen voll war. Es gab lustige,
witzige, ernste, muffige und grobe Schaffner, und wie
das Temperament oder die Stimmung des Schaffners war
oft auch die Atmosphäre im Wagen. Wie töricht, daß ich
mich nach der mißlungenen Überraschung auf der Fahrt
nach Schwetzingen gescheut habe, Hanna als Schaffnerin
abzupassen und mitzuerleben.
Ich stieg in den schaffnerlosen Straßenbahnzug und
fuhr zum Bergfriedhof. Es war ein kalter Herbsttag mit
wolkenlosem, dunstigem Himmel und gelber Sonne, die
nicht mehr wärmt und in die das Auge schauen kann,
ohne daß es weh tut. Ich mußte eine Welle suchen, bis
ich das Grab, an dem auch die Beerdigungsfeierlichkeiten
stattfanden, gefunden hatte. Ich lief unter hohen, kahlen
Bäumen zwischen alten Grabsteinen. Gelegentlich
begegnete ich einem Friedhofsgärtner oder einer alten
Frau mit Gießkanne und Gartenschere. Es war ganz still,
und ich hörte schon von weitem das Kirchenlied, das am
Grab des Professors gesungen wurde.
Ich blieb abseits stehen und musterte die kleine Trauergemeinde.
Manche darunter waren offensichtlich Eigen169
brötler und Sonderlinge. In den Reden über Leben
und Werk des Professors klang an, daß er selbst sich
den Zwängen der Gesellschaft entzogen und dabei den
Kontakt mit ihr verloren hatte, eigenständig geblieben
und dabei eigenbrötlerisch geworden war.
Ich erkannte einen ehemaligen Teilnehmer des KZSeminars;
er hatte vor mir Examen gemacht, war zunächst
Anwalt geworden und dann Kneipier und kam in langem,
rotem Mantel. Er sprach mich an, als alles vorbei und ich
auf dem Rückweg zum Friedhofseingang war. »Wir waren
zusammen im Seminar – erinnerst du dich nicht mehr?«
»Doch.« Wir gaben uns die Hand.
»Ich war immer mittwochs im Prozeß, und manchmal
habe ich dich im Auto mitgenommen.« Er lachte. »Du
warst jeden Tag dabei, jeden Tag und jede Woche. Sagst
du jetzt, warum?« Er sah mich an, gutmütig und lauernd,
und ich erinnerte mich, daß mir dieser Blick schon im
Seminar aufgefallen war.
»Mich hat der Prozeß besonders interessiert.«
»Dich hat der Prozeß besonders interessiert?« Er
lachte wieder. »Der Prozeß oder die Angeklagte, die
du immer angestarrt hast? Die eine, die ganz passabel
aussah? Wir alle haben uns gefragt, was mit dir und
ihr ist, aber dich fragen hat sich keiner getraut. Wir
waren damals furchtbar einfühlsam und rücksichtsvoll.
Weißt du noch…« Er erinnerte an einen anderen
Seminarteilnehmer, der stotterte oder lispelte und
viel und dumm redete und dem wir zuhörten, als
seien seine Worte eitel Gold. Er kam auf weitere
Seminarteilnehmer zu sprechen, wie sie damals waren
und was sie heute machten. Er erzählte und erzählte. Aber
ich wußte, daß er mich am Ende noch mal fragen
würde: »So, und was war jetzt mit dir und der einen
Angeklagten?« Und ich wußte nicht, was ich antworten,
wie ich verleugnen, bekennen, ausweichen sollte.
Dann waren wir am Friedhofseingang, und er fragte. An
der Haltestelle fuhr gerade die Straßenbahn an, und ich
rief »Tschüß« und rannte los, als könne ich aufs Trittbrett
springen, und rannte neben der Bahn her und schlug mit
der flachen Hand an die Tür, und es passierte, woran ich
gar nicht geglaubt, worauf ich gar nicht gehofft hatte. Die
Straßenbahn hielt noch mal an, die Tür ging auf, und ich
stieg ein.
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Nach dem Referendariat mußte ich mich für einen Beruf
entscheiden. Ich ließ mir eine Weile Zeit; Gertrud fing
sofort als Richterin an, hatte alle Hände voll zu tun, und
wir waren froh, daß ich zu Hause bleiben und mich um
Julia kümmern konnte. Als Gertrud die Schwierigkeiten
des Anfangs überwunden hatte und Julia in den
Kindergarten kam, drängte die Entscheidung.
Ich tat mich schwer. Ich sah mich in keiner der
Rollen, in denen ich beim Prozeß gegen Hanna Juristen
erlebt hatte. Anklagen kam mir als ebenso groteske
Vereinfachung vor wie Verteidigen, und Richten war
unter den Vereinfachungen überhaupt die groteskeste.
Ich konnte mich auch nicht als Verwaltungsbeamten
sehen; ich hatte als Referendar auf dem Landratsamt
gearbeitet und dessen Zimmer, Korridore, Geruch und
Bedienstete grau, steril und trist gefunden.
Das ließ nicht mehr viele juristische Berufe übrig, und
ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn ein Professor
für Rechtsgeschichte mir nicht angeboten hätte, bei ihm
zu arbeiten. Gertrud sagte, das sei eine Flucht, eine Flucht
vor der Herausforderung und Verantwortung des Lebens,
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und sie hatte recht. Ich floh und war erleichtert, fliehen
zu können. Es sei ja nicht für immer, sagte ich ihr und
mir; ich sei jung genug, um auch nach ein paar Jahren
Rechtsgeschichte noch jeden handfesten Juristischen
Beruf zu ergreifen. Aber es war für immer; der ersten
Flucht folgte die nächste, als ich von der Universität an eine
Forschungseinrichtung wechselte und dort eine Nische
suchte und fand, in der ich meinen rechtsgeschichtlichen
Interessen nachgehen konnte, niemanden brauchte und
niemanden störte.
Nun ist Flucht nicht nur weglaufen, sondern auch
ankommen. Und die Vergangenheit, in der ich als
Rechtshistoriker ankam, war nicht weniger lebensvoll
als die Gegenwart. Es ist auch nicht so, wie der
Außenstehende vielleicht annehmen möchte, daß man
die vergangene Lebensfülle nur beobachtet, während
man an der gegenwärtigen teilnimmt. Geschichte treiben
heißt Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart
schlagen und beide Ufer beobachten und an beiden
tätig werden. Eines meiner Forschungsgebiete wurde
das Recht im Dritten Reich, und hier ist besonders
augenfällig, wie Vergangenheit und Gegenwart in eine
Lebenswirklichkeit zusammenschießen. Flucht ist
hier nicht die Beschäftigung mit der Vergangenheit,
sondern gerade die entschlossene Konzentration auf
Gegenwart und Zukunft, die blind ist für das Erbe der
Vergangenheit, von dem wir geprägt sind und mit dem
wir leben müssen.
Dabei will ich nicht die Befriedigung verhehlen, die ich
dem Eintauchen in Vergangenheiten verdanke, deren Bedeutung
für die Gegenwart geringer ist. Das erstemal habe
ich sie empfunden, als ich über Gesetzeswerke und -
entwürfe der Aufklärung arbeitete. Getragen waren sie
von dem Glauben, daß in der Welt eine gute Ordnung
angelegt ist und daß die Welt daher auch in eine gute
Ordnung gebracht werden kann. Zu sehen, wie aus diesem
Glauben Paragraphen als feierliche Wächter der guten
Ordnung geschaffen und zu Gesetzen gefügt wurden, die
schön sein und mit ihrer Schönheit den Beweis für ihre
Wahrheit antreten wollten, hat mich beglückt. Lange
glaubte ich, daß es einen Fortschritt in der Geschichte des
Rechts gibt, trotz furchtbarer Rückschläge und -schritte
eine Entwicklung zu mehr Schönheit und Wahrheit,
Rationalität und Humanität. Seit mir klar ist, daß dieser
Glaube eine Schimäre ist, spiele ich mit einem anderen
Bild vom Gang der Rechtsgeschichte. Darin ist er zwar
zielgerichtet, aber das Ziel, bei dem er nach vielfältigen
Erschütterungen, Verwirrungen und Verblendungen
ankommt, ist der Anfang, von dem er ausgegangen ist
und von dem er, kaum angekommen, erneut ausgehen
muß.
Ich las damals die Odyssee wieder, die ich erstmals
in der Schule gelesen und als die Geschichte einer
Heimkehr in Erinnerung behalten hatte. Aber es ist nicht
die Geschichte einer Heimkehr. Wie sollten die Griechen,
die wissen, daß man nicht zweimal in denselben Fluß
steigt, auch an Heimkehr glauben. Odysseus kehrt nicht
zurück, um zu bleiben, sondern um erneut aufzubrechen.
Die Odyssee ist die Geschichte einer Bewegung, zugleich
zielgerichtet und ziellos, erfolgreich und vergeblich. Was
ist die Geschichte des Rechts anderes!
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Mit der Odyssee habe ich angefangen. Ich las sie,
nachdem Gertrud und ich uns getrennt hatten. In vielen
Nächten konnte ich nur wenige Stunden schlafen; ich lag
wach, und wenn ich das Licht anmachte und ein Buch
zur Hand nahm, fielen mir die Augen zu, und wenn ich
das Buch weglegte und das Licht ausschaltete, war ich
wieder wach. So las ich laut. Dabei fielen mir die Augen
nicht zu. Und weil im wirren, von Erinnerungen und
Träumen durchsetzten, in quälenden Zirkeln kreisenden,
halbwachen Nachdenken über meine Ehe und meine
Tochter und mein Leben Hanna immer wieder dominierte,
las ich für Hanna. Ich las für Hanna auf Kassetten.
Bis ich die Kassetten abschickte, dauerte es mehrere
Monate. Zuerst wollte ich keine Teile schicken und
wartete, bis ich die ganze Odyssee aufgenommen
hatte. Dann wurde mir fraglich, ob Hanna die Odyssee
hinreichend interessant finden würde, und ich nahm
auf, was ich nach der Odyssee las, Erzählungen
von Schnitzler und Tschechow. Dann schob ich
vor mir her, bei dem Gericht anzurufen, von dem
Hanna verurteilt worden war, und herauszufinden,
wo sie ihre Strafe verbüßte. Schließlich hatte
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ich alles zusammen, Hannas Adresse in einem Gefängnis
in der Nähe der Stadt, in der ihr der Prozeß gemacht
und sie verurteilt worden war, ein Kassettengerät und
die Kassetten, von Tschechow über Schnitzler zu Homer
numeriert. Und schließlich schickte ich das Paket mit
dem Kassettengerät und den Kassetten auch ab.
Ich habe unlängst das Heft gefunden, in das ich eintrug,
was ich für Hanna im Lauf der Jahre aufgenommen habe.
Die ersten zwölf Titel sind offensichtlich gleichzeitig
notiert; ich habe wohl zunächst drauflos gelesen und
dann gemerkt, daß ich ohne Notizen nicht behalte, was
ich schon gelesen habe. Bei den folgenden Titeln findet
sich manchmal ein Datum, manchmal keines, aber auch
ohne Daten weiß ich, daß ich Hanna die erste Sendung
im achten und die letzte im achtzehnten Jahr ihrer
Haft geschickt habe. Im achtzehnten Jahr wurde ihrem
Gnadengesuch stattgegeben.
Weithin las ich Hanna vor, was ich selbst gerade lesen
mochte. Bei der Odyssee fiel es mir anfangs nicht leicht,
beim lauten Vorlesen so konzentriert aufzunehmen wie
beim leisen Lesen für mich. Das gab sich. Als Nachteil des
Vorlesens blieb, daß es länger dauerte. Aber dafür haftete
das Vorgelesene auch besser im Gedächtnis. Noch heute
erinnere ich mich an manches besonders deutlich.
Ich las aber auch vor, was ich schon kannte und liebte.
So bekam Hanna viel Keller und Fontane zu hören, Heine
und Mörike. Lange wagte ich mich nicht ans Vorlesen
von Gedichten, aber dann machte es mir viel Spaß, und
ich lernte eine ganze Reihe der vorgelesenen Gedichte
auswendig. Ich kann sie noch heute aufsagen.
Insgesamt weisen die Titel des Hefts ein großes
bildungsbürgerliches Urvertrauen aus. Ich erinnere mich
auch nicht, mir jemals die Frage gestellt zu haben, ob
ich über Kafka, Frisch, Johnson, Bachmann und Lenz
hinausgehen und experimentelle Literatur, Literatur,
in der ich die Geschichte nicht erkenne und keine der
Personen mag, vorlesen sollte. Es verstand sich für
mich, daß experimentelle Literatur mit dem Leser
experimentiert, und das brauchten weder Hanna noch
ich.
Als ich selbst zu schreiben begann, las ich ihr auch das
vor. Ich wartete, bis ich mein handschriftliches Manuskript
diktiert, das maschinenschriftliche überarbeitet und das
Gefühl hatte, jetzt sei es fertig. Beim Vorlesen merkte ich,
ob das Gefühl stimmte. Wenn nicht, konnte ich alles noch
mal überarbeiten und eine neue Aufnahme über die alte
spielen. Aber ich machte das nicht gerne. Ich wollte mit
dem Vorlesen abschließen. Hanna wurde die Instanz, für
die ich noch mal alle meine Kräfte, alle meine Kreativität,
alle meine kritische Phantasie bündelte. Danach konnte
ich das Manuskript an den Verlag schicken.
Ich habe auf den Kassetten keine persönlichen
Bemerkungen gemacht, nicht nach Hanna gefragt, nicht
von mir berichtet. Ich las den Titel vor, den Namen des
Autors und den Text. Wenn der Text zu Ende war, wartete
ich einen Moment, klappte das Buch zu und drückte die
Stop-Taste.
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Im vierten Jahr unseres wortreichen, wortkargen
Kontakts kam ein Gruß. »Jungchen, die letzte Geschichte
war besonders schön. Danke. Hanna.«
Das Papier war liniert, eine aus einem Schreibheft
herausgerissene und glattgeschnittene Seite. Der Gruß
stand ganz oben und füllte drei Zeilen. Er war mit blauem,
schmierendem Kugelschreiber geschrieben. Hanna hatte
den Stift mit viel Kraft geführt; die Schrift drückte auf die
Rückseite durch. Auch die Adresse hatte sie mit viel Kraft
geschrieben; der Abdruck fand sich lesbar auf der unteren
und auf der oberen Hälfte des in der Mitte gefalteten
Papiers.
Auf den ersten Blick hätte man meinen können, es sei
eine Kinderschrift. Aber was an der Schrift von Kindern
ungelenk und unbeholfen ist, war hier gewaltsam. Man
sah den Widerstand, den Hanna überwinden mußte, um
die Linien zu Buchstaben und die Buchstaben zu Wörtern
zu fügen. Die Kinderhand will hierhin und dorthin
abschweifen und muß in der Bahn der Schrift gehalten
werden. Hannas Hand wollte nirgendwohin und mußte
vorangezwungen werden. Die Linien, die die Buchstaben
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178 formten, setzten immer wieder neu an, beim Aufstrich,
beim Abstrich, vor den Bogen und Schleifen. Und jeder
Buchstabe war neu erkämpft und hatte eine neue Schrägoder
Stellrichtung, oft auch eine falsche Höhe und Breite.
Ich las den Gruß und war erfüllt von Freude und Jubel.
»Sie schreibt, sie schreibt!« Was immer ich in all den
Jahren über Analphabetismus hatte finden können,
hatte ich gelesen. Ich wußte von der Hilflosigkeit bei
alltäglichen Lebensvollzügen, beim Finden eines Wegs
und einer Adresse oder beim Wählen eines Gerichts im
Restaurant, von der Ängstlichkeit, mit der der Analphabet
vorgegebenen Mustern und bewährten Routinen folgt,
von der Energie, die das Verbergen der Lese- und
Schreibunfähigkeit erfordert und vom eigentlichen Leben
abzieht. Analphabetismus ist Unmündigkeit. Indem
Hanna den Mut gehabt hatte, lesen und schreiben zu
lernen, hatte sie den Schritt aus der Unmündigkeit zur
Mündigkeit getan, einen aufklärerischen Schritt.
Dann betrachtete ich Hannas Schrift und sah, wieviel
Kraft und Kampf sie das Schreiben gekostet hatte. Ich
war stolz auf sie. Zugleich war ich traurig über sie,
traurig über ihr verspätetes und verfehltes Leben, traurig
über die Verspätungen und Verfehlungen des Lebens
insgesamt. Ich dachte, wenn die rechte Zeit verpaßt ist,
wenn einer etwas zu lange verweigert hat, wenn einem
etwas zu lange verweigert wurde, kommt es zu spät, selbst
wenn es schließlich mit Kraft angegangen und mit Freude
empfangen wird. Oder gibt es »zu spät« nicht, gibt es nur
»spät«, und ist »spät« allemal besser als »nie«? Ich weiß
es nicht.
Nach dem ersten Gruß kamen die nächsten in steter
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Folge. Immer waren es wenige Zeilen, ein Dank, ein
Wunsch, vom selben Autor mehr oder auch nichts mehr
zu hören, eine Bemerkung über einen Autor oder ein
Gedicht oder eine Geschichte oder eine Person aus einem
Roman, eine Beobachtung aus dem Gefängnis. »Im Hof
blühen schon die Forsythien« oder »ich mag, daß es in
diesem Sommer so viele Gewitter gibt« oder »aus dem
Fenster sehe ich, wie sich die Vögel zum Flug nach Süden
sammeln« – oft haben mich erst Hannas Mitteilungen
die Forsythien, Sommergewitter oder Vogelscharen
wahrnehmen lassen. Ihre Bemerkungen über Literatur
trafen oft erstaunlich genau. »Schnitzler bellt, Stefan
Zweig ist ein toter Hund« oder »Keller braucht eine
Frau« oder »die Gedichte von Goethe sind wie kleine
Bilder in schönen Rahmen« oder »Lenz schreibt sicher
auf der Schreibmaschine«. Da sie über die Autoren nichts
wußte, setzte sie sie als Zeitgenossen voraus, solange es
sich nicht eindeutig verbot. Ich war verblüfft, wieviel
ältere Literatur sich in der Tat lesen läßt, als sei sie
heutig, und wer nichts über Geschichte weiß, kann erst
recht in den Lebensumständen früherer Zeiten einfach
die Lebensumstände ferner Gegenden sehen.
Ich habe Hanna nie geschrieben. Aber ich habe ihr
immer weiter vorgelesen. Als ich ein Jahr in Amerika
verbrachte, schickte ich von dort Kassetten. Wenn ich in
Urlaub fuhr oder besonders viel Arbeit hatte, konnte es
länger dauern, bis die nächste Kassette fertig wurde; ich
habe keinen festen Rhythmus etabliert, sondern Kassetten
mal wöchentlich oder vierzehntägig und mal auch erst
nach drei oder vier Wochen geschickt. Daß Hanna jetzt,
nachdem sie selbst lesen gelernt hatte, meine Kassetten
nicht mehr brauchen könnte, hat mich nicht beschäftigt.
Mochte sie außerdem lesen. Das Vorlesen war, meine Art,
zu ihr, mit ihr zu sprechen.
Ich habe alle ihre Grüße aufgehoben. Die Schrift
wandelt sich. Zuerst zwingt sie die Buchstaben in die
gleiche Schrägrichtung und in die richtige Höhe und
Breite. Nachdem sie das geschafft hat, kann sie leichter
und sicherer werden. Flüssig wird sie nie. Aber sie gewinnt
etwas von der strengen Schönheit, die den Schriften alter
Leute eignet, die im Leben wenig geschrieben haben.
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Ich habe mir damals keine Gedanken darüber gemacht,
daß Hanna eines Tages entlassen würde. Der Austausch
von Grüßen und Kassetten war so normal und vertraut
und Hanna mir auf so freie Weise sowohl nah als auch
fern, daß ich den Zustand hätte fort- und fortdauern
lassen können. Das war bequem und egoistisch, ich weiß.
Dann kam der Brief der Leiterin des Gefängnisses.
»Seit Jahren stehen Frau Schmitz und Sie in brieflichem
Austausch. Es ist der einzige Kontakt, den Frau Schmitz
nach draußen hat, und so wende ich mich an Sie,
obwohl ich nicht weiß, wie eng Sie verbunden und ob Sie
Verwandter oder Freund sind.
Nächstes Jahr wird Frau Schmitz wieder ein
Gnadengesuch stellen, und ich gehe davon aus, daß der
Gnadenausschuß ihm stattgeben wird. Sie wird dann
bald entlassen werden – nach achtzehn Jahren Haft.
Natürlich können wir ihr Wohnung und Arbeit besorgen
bzw. zu besorgen versuchen; mit Arbeit wird es in ihrem
Alter schwierig werden, auch wenn sie noch völlig
gesund ist und in unserer Näherei großes Geschick zeigt.
Aber besser, als wenn wir uns darum kümmern, ist es,
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wenn Verwandte oder Freunde es tun und die Entlassene
in ihrer Nähe haben und begleiten und stützen. Sie können
sich nicht vorstellen, wie einsam und hilflos man nach
achtzehn Jahren Haft draußen sein kann.
Frau Schmitz kann sich ziemlich gut selbst helfen und
kommt auch allein zurecht. Es wäre ausreichend, wenn
Sie ihr eine kleine Wohnung und Arbeit fänden, sie in den
ersten Wochen und Monaten gelegentlich besuchen und
einladen könnten und sich darum kümmerten, daß sie von
den Angeboten der Kirchengemeinde, Volkshochschule,
Familienbildungsstätte usw. erfährt. Außerdem ist es nicht
leicht, nach achtzehn Jahren erstmals in die Stadt zu gehen,
einzukaufen, bei Behörden vorzusprechen, ein Restaurant
aufzusuchen. Es macht sich in Begleitung leichter.