ВУЗ: Не указан
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Добавлен: 22.12.2020
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Ich habe bemerkt, daß Sie Frau Schmitz nicht besuchen.
Täten Sie es, dann würde ich Ihnen nicht schreiben,
sondern Sie anläßlich eines Besuchs zu einem Gespräch
bitten. Nun geht es nicht anders, als daß Sie sie vor
ihrer Entlassung besuchen. Bitte schauen Sie bei dieser
Gelegenheit doch bei mir vorbei.«
Der Brief schloß mit herzlichen Grüßen, die ich nicht
auf mich, sondern darauf bezog, daß der Leiterin das
Anliegen ein Herzensanliegen war. Ich hatte schon von
ihr gehört; ihre Anstalt galt als außergewöhnlich, und
ihre Stimme hatte in Fragen der Reform des Strafvollzugs
Gewicht. Mir gefiel ihr Brief.
Aber mir gefiel nicht, was auf mich zukam. Natürlich
mußte ich mich um Arbeit und Wohnung kümmern und
habe es auch getan. Freunde, die die Einliegerwohnung in
ihrem Haus weder benutzten noch vermieteten, waren bereit,
sie für eine geringe Miete Hanna zu überlassen. Der
griechische Schneider, bei dem ich gelegentlich Kleider
ändern ließ, wollte Hanna beschäftigen; seine Schwester,
die die Schneiderei mit ihm zusammen betrieb, zog es
zurück nach Griechenland. Ich habe mich auch schon
lange, bevor Hanna etwas damit anfangen konnte, um die
sozialen und Bildungsangebote kirchlicher und weltlicher
Einrichtungen gekümmert. Aber den Besuch bei Hanna
schob ich vor mir her.
Gerade weil sie mir auf so freie Weise sowohl nah
als auch fern war, wollte ich sie nicht besuchen. Ich
hatte das Gefühl, sie könne, was sie mir war, nur in der
realen Distanz sein. Ich hatte Angst, die kleine, leichte,
geborgene Welt der Grüße und Kassetten sei zu künstlich
und zu verletzlich, als daß sie die reale Nähe aushalten
könnte. Wie sollten wir uns von Angesicht zu Angesicht
begegnen, ohne daß alles hochkam, was zwischen uns
geschehen war.
So ging das Jahr dahin, ohne daß ich im Gefängnis
gewesen wäre. Von der Leiterin des Gefängnisses habe
ich lange nichts gehört; ein Brief, in dem ich von der
Wohnungs- und Arbeitssituation berichtete, die Hanna
erwartete, blieb unbeantwortet. Sie rechnete wohl damit,
mich anläßlich meines Besuchs bei Hanna zu sprechen.
Sie konnte nicht wissen, daß ich diesen Besuch nicht
nur hinausschob, sondern mich vor ihm drückte. Aber
schließlich fiel die Entscheidung, daß Hanna begnadigt
und entlassen werden sollte, und die Leiterin rief mich
an. Ob ich jetzt kommen könne? In einer Woche komme
Hanna raus.
184 Am nächsten Sonntag war ich bei ihr. Es war mein erster
Besuch in einem Gefängnis. Ich wurde am Eingang
kontrolliert, und auf dem Weg wurden mehrere Türen
auf- und zugeschlossen. Aber der Bau war neu und
hell, und im inneren Bereich standen die Türen auf und
bewegten die Frauen sich frei. Am Ende des Gangs ging
eine Tür ins Freie, auf eine belebte kleine Wiese mit
Bäumen und Bänken. Ich sah mich suchend um. Die
Wärterin, die mich geführt hatte, zeigte auf eine nahe
Bank im Schatten einer Kastanie.
Hanna? Die Frau auf der Bank war Hanna? Graue
Haare, ein Gesicht mit tiefen senkrechten Furchen in
der Stirn, in den Backen, um den Mund und ein schwerer
Leib. Sie trug ein zu enges, an Brust, Bauch und Schenkeln
spannendes hellblaues Kleid. Ihre Hände lagen im Schoß
und hielten ein Buch. Sie las nicht darin. Über den Rand
ihrer Lese-Halbbrille schaute sie einer Frau zu, die ein
paar Spatzen Brotkrume um Brotkrume vorwarf. Dann
merkte sie, daß sie beobachtet wurde, und wandte mir ihr
Gesicht zu.
Ich sah die Erwartung in ihrem Gesicht, sah es in
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Freude aufglänzen, als sie mich erkannte, sah ihre Augen
mein Gesicht abtasten, als ich näherkam, sah ihre Augen
suchen, fragen, unsicher und verletzt schauen und sah
ihr Gesicht erlöschen. Als ich bei ihr war, lächelte sie ein
freundliches, müdes Lächeln. »Du bist groß geworden,
Jungchen.« Ich setzte mich neben sie, und sie nahm
meine Hand.
Ich hatte ihren Geruch früher besonders geliebt. Sie
roch immer frisch: frisch gewaschen oder nach frischer
Wäsche oder nach frischem Schweiß oder frisch geliebt.
Manchmal nahm sie Parfum, ich weiß nicht, was für
eines, und auch dessen Duft war mehr als alles andere
frisch. Unter diesen frischen Gerüchen lag noch ein
anderer, ein schwerer, dunkler, herber Geruch. Oft
habe ich an ihr geschnüffelt wie ein neugieriges Tier,
habe an Hals und Schultern angefangen, die frisch
gewaschen rochen, habe zwischen den Brüsten den
frischen Schweißgeruch eingesogen, der sich in den
Achselhöhlen mit dem anderen Geruch mischte, fand
diesen schweren, dunklen Geruch um Taille und Bauch
fast pur und zwischen den Beinen in einer fruchtigen
Färbung, die mich erregte, habe auch ihre Beine und Füße
beschnuppert, die Schenkel, an denen sich der schwere
Geruch verlor, die Kniekehlen, noch mal mit leichtem
frischem Schweißgeruch, und die Füße, mit dem Geruch
von Seife oder Leder oder Müdigkeit. Rücken und Arme
hatten keinen besonderen Geruch, rochen nach nichts
und rochen doch nach ihr, und in den Handflächen war
der Duft des Tages und der Arbeit: die Druckerschwärze
der Fahrscheine, das Metall der Zange, Zwiebel oder
Fisch oder gebratenes Fett, Waschlauge oder Bügel186
hitze. Werden sie gewaschen, verraten Hände zunächst
nichts von alledem. Aber die Seife hat die Gerüche nur
überdeckt, und nach einer Weile sind sie wieder da,
schwach, verschmolzen in einen einzigen Tages- und
Arbeitsduft, in den Duft des Tages- und Arbeitsendes, des
Abends, der Heimkehr und des Daheimseins.
Ich saß neben Hanna und roch eine alte Frau. Ich
weiß nicht, was diesen Geruch ausmacht, den ich
von Großmüttern und alten Tanten kenne und der in
Altersheimen in den Zimmern und Fluren hängt wie ein
Fluch. Hanna war zu jung für ihn.
Ich rückte näher. Ich hatte gemerkt, daß ich sie
zuvor enttäuscht hatte, und wollte es jetzt besser und
wiedergutmachen.
»Ich freue mich, daß du rauskommst.«
»Ja?«
»Ja, und ich freue mich, daß du in der Nähe sein wirst.«
Ich erzählte ihr von der Wohnung und Arbeit, die ich
für sie gefunden hatte, von den kulturellen und sozialen
Angeboten im Stadtviertel, von der Stadtbücherei. »Liest
du viel?«
» Es geht so. Vorgelesen bekommen ist schöner.« Sie
sah mich an. »Damit ist jetzt Schluß, nicht wahr?«
»Warum soll damit Schluß sein?« Aber ich sah mich
weder Kassetten für sie besprechen noch ihr begegnen
und vorlesen. »Ich habe mich so gefreut und dich so
bewundert, daß du lesen gelernt hast. Und was hast du mir
für schöne Briefe geschrieben!« Das stimmte; ich hatte
sie bewundert und mich gefreut, darüber, daß sie las und
darüber, daß sie mir schrieb. Aber ich spürte, wie wenig
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meine Bewunderung und Freude dem angemessen waren,
was Hanna das Lesen- und Schreibenlernen gekostet
haben mußte, wie dürftig sie waren, wenn sie mich nicht
einmal dazu hatten bringen können, ihr zu antworten,
sie zu besuchen, mit ihr zu reden. Ich hatte Hanna eine
kleine Nische zugebilligt, durchaus eine Nische, die mir
wichtig war, die mir etwas gab und für die ich etwas tat,
aber keinen Platz in meinem Leben.
Aber warum hätte ich ihr einen Platz in meinem Leben
zubilligen sollen? Ich empörte mich gegen das schlechte
Gewissen, das ich bei dem Gedanken bekam, sie auf eine
Nische reduziert zu haben. »Hast du vor dem Prozeß an
das, was in dem Prozeß zur Sprache kam, eigentlich nie
gedacht? Ich meine, hast du nie daran gedacht, wenn wir
zusammen waren, wenn ich dir vorgelesen habe?«
»Beschäftigt dich das sehr?« Aber sie wartete nicht auf
eine Antwort. »Ich hatte immer das Gefühl, daß mich
ohnehin keiner versteht, daß keiner weiß, wer ich bin
und was mich hierzu und dazu gebracht hat. Und weißt
du, wenn keiner dich versteht, dann kann auch keiner
Rechenschaft von dir fordern. Auch das Gericht konnte
nicht Rechenschaft von mir fordern. Aber die Toten
können es. Sie verstehen. Dafür müssen sie gar nicht
dabei gewesen sein, aber wenn sie es waren, verstehen sie
besonders gut. Hier im Gefängnis waren sie viel bei mir.
Sie kamen jede Nacht, ob ich sie haben wollte oder nicht.
Vor dem Prozeß habe ich sie, wenn sie kommen wollten,
noch verscheuchen können.«
Sie wartete, ob ich etwas dazu sagen würde, aber mir fiel
nichts ein. Daß ich nichts verscheuchen könne, hatte ich
zunächst sagen wollen. Aber es stimmte nicht; man
verscheucht jemanden auch, indem man ihn in eine
Nische stellt.
»Bist du verheiratet?«
»Ich war’s. Gertrud und ich sind seit vielen Jahren
geschieden, und unsere Tochter lebt im Internat; ich
hoffe, daß sie für die letzten Schuljahre nicht dort bleiben,
sondern zu mir ziehen will.« Jetzt wartete ich, ob sie
etwas dazu sagen oder fragen würde. Aber sie schwieg.
»Ich hole dich nächste Woche ab, ja?«
»Ja.«
»Ganz still, oder darf es ein bißchen lauter und lustiger
sein?«
»Ganz still.«
»Gut, ich hole dich ganz still und ohne Musik und
Champagner ab.« Ich stand auf, und auch sie stand auf.
Wir sahen einander an. Es hatte zweimal geklingelt, und
die anderen Frauen waren schon ins Haus gegangen.
Wieder tasteten ihre Augen mein Gesicht ab. Ich nahm
sie in die Arme, aber sie fühlte sich nicht richtig an.
»Mach’s gut, Jungchen.«
»Du auch.«
So nahmen wir Abschied, noch ehe wir uns im Haus
trennen mußten.
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Die kommende Woche war besonders geschäftig. Ich weiß
nicht mehr, ob ich mit dem Vortrag, an dem ich arbeitete,
auch unter Zeitdruck stand oder ob ich mich nur unter
Arbeits- und Erfolgsdruck gesetzt hatte.
Die Vorstellung, mit der ich die Arbeit am Vortrag
begonnen hatte, taugte nichts. Als ich sie zu überprüfen
begann, stieß ich, wo ich Sinn und Regelhaftigkeit
erwartet hatte, auf eine Zufälligkeit nach der anderen.
Statt mich damit abzufinden, suchte ich weiter, gehetzt,
verbissen, ängstlich, als gehe mit meiner Vorstellung
von der Wirklichkeit diese selbst fehl, und ich war
bereit, die Befunde zu verdrehen, aufzubauschen
oder runterzuspielen. Ich geriet in einen Zustand
eigentümlicher Unruhe, schlief zwar ein, wenn ich spät
ins Bett ging, war aber nach wenigen Stunden hellwach,
bis ich mich entschloß, aufzustehen und weiterzulesen
oder zu schreiben.
Ich tat auch, was in Vorbereitung auf die Entlassung
zu tun war. Ich richtete Hannas Wohnung ein, mit Ikea-
Möbeln und ein paar alten Stücken, avisierte Hanna dem
griechischen Schneider und brachte die Informationen über
soziale und Bildungsangebote auf den neuesten Stand. Ich
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kaufte Vorräte, stellte Bücher ins Regal und hängte Bilder
auf. Ich ließ einen Gärtner kommen, der den kleinen
Garten pflegte, der die vor dem Wohnzimmer gelegene
Terrasse umgab. Ich tat auch dies eigentümlich gehetzt
und verbissen; es war mir alles zuviel.
Aber es war mir gerade genug, um nicht an den Besuch
bei Hanna denken zu müssen. Nur manchmal, wenn ich
Auto fuhr oder müde am Schreibtisch saß oder wach
im Bett lag oder in Hannas Wohnung war, wurde der
Gedanke daran übermächtig und trat Erinnerungen los.
Ich sah sie auf der Bank, den Blick auf mich gerichtet,
sah sie im Schwimmbad, das Gesicht mir zugewandt, und
hatte wieder das Gefühl, sie verraten zu haben und an
ihr schuldig geworden zu sein. Und wieder empörte ich
mich gegen das Gefühl und klagte sie an und fand billig
und einfach, wie sie sich aus ihrer Schuld gestohlen hatte.
Nur die Toten Rechenschaft fordern zu lassen, Schuld
und Sühne auf schlechten Schlaf und schlimme Träume
reduzieren – wo blieben da die Lebenden? Aber was
ich meinte, waren nicht die Lebenden, sondern war ich.
Hatte ich nicht auch Rechenschaft von ihr zu fordern?
Wo blieb ich?
Am Nachmittag, bevor ich sie abholen sollte, rief ich im
Gefängnis an. Zuerst sprach ich mit der Leiterin.
»Ich bin ein wenig nervös. Wissen Sie, normalerweise
wird niemand nach so langer Haft entlassen, bevor er
nicht zunächst stunden- oder tageweise draußen war.
Frau Schmitz hat das verweigert. Sie wird sich morgen
nicht leicht tun.«
Ich wurde mit Hanna verbunden.
Ȇberleg dir, was wir morgen machen. Ob du gleich zu
dir nach Hause willst oder ob wir in den Wald oder an den
Fluß wollen.«
»Ich überleg’s mir. Du bist immer noch ein großer
Planer, nicht wahr?«
Das ärgerte mich. Es ärgerte mich, wie wenn mir
Freundinnen gelegentlich sagten, ich sei nicht spontan
genug, funktioniere zu sehr über den Kopf statt über den
Bauch.
Sie merkte in meinem Schweigen meinen Ärger und
lachte. »Ärgere dich nicht, Jungchen, ich hab’s nicht böse
gemeint.«
Ich hatte Hanna auf der Bank als alte Frau
wiedergetroffen. Sie hatte ausgesehen wie eine alte Frau
und gerochen wie eine alte Frau. Ich hatte gar nicht
auf ihre Stimme geachtet. Ihre Stimme war ganz jung
geblieben.
192 10
Am nächsten Morgen war Hanna tot. Sie hatte sich bei
Tagesanbruch erhängt.
Als ich kam, wurde ich zur Leiterin gebracht. Erstmals
sah ich sie, eine kleine, dünne Frau mit dunkelblonden
Haaren und Brille. Sie wirkte unscheinbar, bis sie zu
reden begann, mit Kraft und Wärme und strengem Blick
und energischen Bewegungen der Hände und Arme. Sie
fragte mich nach dem Telephongespräch vom letzten
Abend und der Begegnung vor einer Woche. Ob ich
etwas geahnt, gefürchtet hätte. Ich verneinte. Es hatte
auch keine Ahnung oder Befürchtung gegeben, die ich
verdrängt hatte.
»Woher kennen Sie sich?«
»Wir wohnten in der Nähe.« Sie sah mich prüfend an,
und ich merkte, daß ich noch mehr sagen mußte. »Wir
wohnten in der Nähe und haben uns kennengelernt und
befreundet. Als junger Student war ich dann beim Prozeß,
bei dem sie verurteilt wurde.«
»Wieso haben Sie Frau Schmitz Kassetten geschickt?«
Ich schwieg.
»Sie wußten, daß sie Analphabetin war, nicht wahr?
Woher wußten Sie’s?«
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Ich zuckte mit den Schultern. Ich sah nicht, was Hannas
und meine Geschichte sie anging. Ich hatte Tränen in
Brust und Hals und Angst, nicht reden zu können. Ich
wollte vor ihr nicht weinen.
Sie hat wohl gesehen, wie es um mich stand. »Kommen
Sie mit, ich zeige Ihnen Frau Schmitz’ Zelle.« Sie ging
voraus, drehte sich aber immer wieder um, um mir
etwas zu berichten oder zu erklären. Hier habe es
einen Anschlag von Terroristen gegeben, hier sei die
Näherei, in der Hanna gearbeitet hatte, hier habe Hanna
einmal einen Sitzstreik gemacht, bis die Streichung der
Bibliotheksmittel korrigiert wurde, hier gehe es zur
Bibliothek. Vor der Zelle blieb sie stehen. »Frau Schmitz
hat nicht gepackt. Sie sehen die Zelle so, wie sie in ihr
gelebt hat.«
Bett, Schrank, Tisch und Stuhl, an der Wand über
dem Tisch ein Regal und in der Ecke hinter der Tür
Waschbecken und Klo. Statt eines Fensters Glasbausteine.
Der Tisch war leer. Im Regal standen Bücher, ein Wecker,
ein Stoffbär, zwei Becher, Pulverkaffee, Teedosen, das
Kassettengerät und in zwei niedrigen Fächern die von
mir besprochenen Kassetten.
»Es sind nicht alle.« Die Leiterin war meinem Blick
gefolgt. »Frau Schmitz hat immer einige Kassetten dem
Hilfsdienst blinder Strafgefangener geliehen.«
Ich trat an das Regal. Primo Levi, Elle Wiesel, Tadeusz
Borowski, Jean Améry – die Literatur der Opfer
neben den autobiographischen Aufzeichnungen von
Rudolf Höss, Hannah Arendts Bericht über Eichmann
in Jerusalem und wissenschaftliche Literatur über
Konzentrationslager.
194 »Hat Hanna das gelesen?«
»Sie hat die Bücher jedenfalls mit Bedacht bestellt.
Ich habe ihr schon vor mehreren Jahren eine allgemeine
KZ-Bibliographie besorgen müssen, und dann hat sie
mich vor ein oder zwei Jahren gebeten, ihr Bücher über
Frauen in KZs zu nennen, Gefangene und Wärterinnen.
Ich habe an das Institut für Zeitgeschichte geschrieben
und eine entsprechende Spezialbibliographie geschickt
bekommen. Nachdem Frau Schmitz lesen gelernt hat, hat
sie gleich angefangen, über KZs zu lesen.«
Über dem Bett hingen viele kleine Bilder und Zettel.
Ich kniete mich auf das Bett und las. Es waren Zitate,
Gedichte, kleine Meldungen, auch Kochrezepte, die
Hanna notiert oder wie die Bildchen aus Zeitungen
und Zeitschriften ausgeschnitten hatte. »Frühling läßt
sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte«,
»Wolkenschatten fliehen über Felder« – die Gedichte
waren alle voller Naturfreude und -sehnsucht, und die
Bildchen zeigten frühlingshellen Wald, blumenbunte
Wiesen, Herbstlaub und einzelne Bäume, eine Weide
am Bach, einen Kirschbaum mit reifen roten Kirschen,
eine herbstlich gelb und orange flammende Kastanie.
Ein Zeitungsphoto zeigte einen älteren und einen
jüngeren Mann in dunklen Anzügen, die einander die
Hand gaben, und in dem jüngeren, der sich vor dem
älteren verbeugte, erkannte ich mich. Ich war Abiturient
und bekam bei der Abiturfeier vom Rektor einen Preis
überreicht. Das war lange, nachdem Hanna die Stadt
verlassen hatte. Hatte sie, die nicht las, die lokale Zeitung,
in der das Photo erschienen war, damals abonniert?
Jedenfalls mußte sie einigen Aufwand getrieben ha195
ben, um von dem Photo zu erfahren und es zu bekommen.
Und während des Prozesses hatte sie es gehabt,
dabeigehabt? Ich spürte wieder die Tränen in Brust und
Hals.
»Sie hat mit Ihnen lesen gelernt. Sie hat sich in der
Bibliothek die Bücher geliehen, die Sie auf Kassette
gesprochen haben, und Wort um Wort, Satz um Satz
verfolgt, was sie gehört hat. Das Kassettengerät hat das
viele Ein- und Ausschalten, Vor- und Zurückspulen
nicht lange ausgehalten, ging immer wieder kaputt,
mußte immer wieder repariert werden, und weil’s dafür
Genehmigungen braucht, habe ich schließlich mitgekriegt,
was Frau Schmitz macht. Sie wollte es zunächst nicht
sagen, aber als sie auch zu schreiben begann und mich
um ein Buch mit Schreibschrift bat, hat sie es nicht länger
zu verbergen versucht. Sie war auch einfach stolz, daß sie
es geschafft hatte, und wollte ihre Freude mitteilen.«
Ich hatte, während sie sprach, weiter mit dem Blick
auf die Bilder und Zettel gekniet und die Tränen
niedergekämpft. Als ich mich umdrehte und aufs Bett
setzte, sagte sie: »Sie hat so darauf gehofft, daß Sie ihr
schreiben. Sie bekam nur von Ihnen Post, und wenn die
Post verteilt wurde und sie fragte ›Kein Brief für mich?‹,
meinte sie mit Brief nicht das Päckchen, in dem die
Kassetten kamen. Warum haben Sie nie geschrieben?«
Ich schwieg wieder. Ich hätte nicht reden, ich hätte nur
stammeln und weinen können.
Sie ging zum Regal, griff eine Teedose, setzte sich neben
mich und nahm ein gefaltetes Blatt aus der Tasche ihres
Kostüms. »Sie hat mir einen Brief hinterlassen, eine Art
Testament. Ich lese Ihnen vor, was Sie betrifft.« Sie faltete
196 das Blatt auf. »›In der lila Teedose ist noch Geld. Geben Sie
es Michael Berg; er soll es mit den 7000 Mark, die auf der
Sparkasse liegen, der Tochter geben, die mit ihrer Mutter
den Brand der Kirche überlebt hat. Sie soll entscheiden,
was damit geschieht. Und sagen Sie ihm, ich grüße ihn.‹«
Sie hatte mir also keine Nachricht hinterlassen. Wollte
sie mich kränken? Wollte sie mich strafen? Oder war ihre
Seele so müde, daß sie nur noch das Allernötigste hatte
tun und schreiben können? »Wie war sie all die Jahre«,
ich wartete, bis ich weiterreden konnte, »und wie war sie
die letzten Tage?«
Ȇber viele Jahre hat sie hier gelebt wie in
einem Kloster. Als hätte sie sich freiwillig hierher
zurückgezogen, als hätte sie sich der hiesigen Ordnung
freiwillig unterworfen, als sei die einigermaßen eintönige
Arbeit eine Art Meditation. Bei den anderen Frauen, zu
denen sie freundlich, aber distanziert war, genoß sie
besonderes Ansehen. Mehr noch, sie hatte Autorität,
wurde um Rat gefragt, wenn es Probleme gab, und wenn
sie bei einem Streit dazwischenging, wurde akzeptiert,
was sie entschied. Bis sie sich vor einigen Jahren
aufgab. Sie hatte immer auf sich gehalten, war bei ihrer
kräftigen Gestalt doch schlank und von peinlicher,
gepflegter Sauberkeit. Jetzt fing sie an, viel zu essen, sich
selten zu waschen, sie wurde dick und roch. Sie wirkte
dabei nicht unglücklich oder unzufrieden. Eigentlich
war es, als hätte der Rückzug ins Kloster nicht mehr
genügt, als gehe es selbst im Kloster noch zu gesellig
und geschwätzig zu und als müsse sie sich daher weiter
zurückziehen, in eine einsame Klause, in der einen
niemand mehr sieht und Aussehen, Kleidung und Geruch
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keine Bedeutung mehr haben. Nein, daß sie sich
aufgegeben hat, war falsch gesagt. Sie hat ihren Ort neu
definiert, in einer Weise, die für sie gestimmt, aber die
anderen Frauen nicht mehr beeindruckt hat.«
»Und die letzten Tage?«
»Sie war wie immer.«
»Kann ich sie sehen?«
Sie nickte, blieb aber sitzen. »Kann einem die Welt
in Jahren der Einsamkeit so unerträglich werden?
Bringt man sich lieber um, als aus dem Kloster, aus der
Einsiedelei wieder in die Welt zurückzukehren?« Sie
wandte sich mir zu. »Frau Schmitz hat nicht geschrieben,
warum sie sich umgebracht hat. Und Sie sagen nicht, was
zwischen Ihnen beiden gewesen ist und vielleicht dazu
geführt hat, daß Frau Schmitz sich in der Nacht vor dem
Tag umbringt, an dem Sie sie abholen wollten.« Sie faltete
das Blatt zusammen, steckte es ein, stand auf und strich
den Rock glatt. »Mich trifft ihr Tod, wissen Sie, und im
Moment bin ich zornig, auf Frau Schmitz und auf Sie.
Aber gehen wir.«
Sie ging wieder voraus, diesmal wortlos. Hanna lag
auf der Krankenstation in einer kleinen Kammer. Wir
konnten gerade zwischen Wand und Trage treten. Die
Leiterin schlug das Tuch zurück.
Hanna war ein Tuch um den Kopf gebunden worden, um
das Kinn bis zum Eintritt der Todesstarre hochzuhalten.
Das Gesicht war weder besonders friedlich noch
besonders qualvoll. Es sah starr und tot aus. Als ich lange
hinschaute, schien im toten Gesicht das lebende auf, im
alten das junge. So muß es alten Ehepaaren gehen, dachte
ich; für sie bleibt im alten Mann der junge aufgehoben
und für ihn die Schönheit und Anmut der jungen Frau
in der alten. Warum hatte ich den Aufschein vor einer
Woche nicht gesehen?
Ich mußte nicht weinen. Als die Leiterin mich nach
einer Welle fragend ansah, nickte ich, und sie breitete das
Tuch wieder über Hannas Gesicht.
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Es wurde Herbst, bis ich Hannas Auftrag erledigte. Die
Tochter lebte in New York, und ich nahm eine Tagung
in Boston zum Anlaß, ihr das Geld zu bringen: einen
Scheck über den Betrag des Sparbuchs und die Teedose
mit dem Bargeld. Ich hatte ihr geschrieben, mich als
Rechtshistoriker vorgestellt und den Prozeß erwähnt. Ich
wäre dankbar, sie sprechen zu können. Sie lud mich zum
Tee ein.
Ich fuhr mit dem Zug von Boston nach New York.
Die Wälder prunkten in Braun, Gelb, Orange, Rotbraun
und Braunrot und im flammenden, leuchtenden Rot des
Ahorn. Mir kamen die Herbstbilder in Hannas Zelle in
den Sinn. Als ich vom Rollen der Räder und Schaukeln
des Wagens müde wurde, träumte ich von Hanna und mir
in einem Haus in den herbstbunten Hügeln, durch die der
Zug fuhr. Hanna war älter, als ich sie kennengelernt, und
jünger, als ich sie wiedergetroffen hatte, älter als ich,
schöner als früher, mit dem Alter noch gelassener in ihren
Bewegungen und in ihrem Körper noch mehr zu Hause.
Ich sah sie aus dem Auto steigen und Einkaufstüten auf die
Arme nehmen, sah sie durch den Garten ins Haus gehen,
sah sie die Einkaufstüten abstellen und vor mir die Treppe
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200 hinaufsteigen. Die Sehnsucht nach Hanna wurde so stark,
daß sie weh tat. Ich wehrte mich gegen die Sehnsucht, hielt
ihr entgegen, sie gehe an Hannas und meiner Realität völlig
vorbei, an der Realität unseres Alters, unserer Lebensumstände.
Wie sollte Hanna, die nicht englisch sprach, in
Amerika leben? Und Auto fahren konnte sie auch nicht.
Ich wachte auf und wußte wieder, daß Hanna tot war.
Ich wußte auch, daß die Sehnsucht sich an ihr festmachte,
ohne ihr zu gelten. Es war die Sehnsucht danach, nach
Hause zu kommen.
Die Tochter lebte in New York in einer kleinen Straße in
der Nähe des Central Park. Die Straße war beidseitig von
alten Reihenhäusern aus dunklem Sandstein gesäumt,
bei denen Treppen aus demselben dunklen Sandstein in
den ersten Stock führten. Das gab ein strenges Bild, Haus
hinter Haus, die Fassaden nahezu gleich, Treppe hinter
Treppe, Straßenbäume, erst unlängst in regelmäßigen
Abständen gepflanzt, mit wenigen gelben Blättern an
dünnen Ästen.
Die Tochter servierte den Tee vor großen Fenstern
mit Blick in die kleinen Gärten des Häusergevierts,
mal grün und bunt und mal nur eine Ansammlung von
Gerümpel. Sobald wir saßen, der Tee eingeschenkt,
der Zucker hineingegeben und umgerührt worden
war, wechselte sie vom Englischen, worin sie mich
begrüßt hatte, ins Deutsche. »Was führt Sie zu mir?«
Sie fragte nicht freundlich und nicht unfreundlich;
der Ton war von äußerster Sachlichkeit. Alles an
ihr wirkte sachlich, Haltung, Gestik, Kleidung. Das
Gesicht war eigentümlich alterslos. So sehen Gesichter
aus, die geliftet worden sind. Aber vielleicht war
201
es auch unter dem frühen Leid erstarrt – ich versuchte
vergebens, mich an ihr Gesicht während des Prozesses zu
erinnern.
Ich erzählte von Hannas Tod und Auftrag.
»Warum ich?«
»Ich vermute, weil Sie die einzige Überlebende sind.«
»Was soll ich damit?«
»Was immer Sie für sinnvoll halten.«
»Und Frau Schmitz damit die Absolution geben?«
Zuerst wollte ich abwehren, aber Hanna verlangte
in der Tat viel. Die Jahre der Haft sollten nicht nur
auferlegte Sühne sein; Hanna wollte ihnen selbst einen
Sinn geben, und sie wollte mit dieser ihrer Sinngebung
anerkannt werden. Ich sagte das.
Sie schüttelte den Kopf. Ich wußte nicht, ob sie damit
meine Deutung ablehnen oder Hanna die Anerkennung
verweigern wollte.
»Können Sie ihr nicht die Anerkennung ohne die
Absolution geben?«
Sie lachte. »Sie mögen sie, nicht wahr? Wie ist eigentlich
ihr Verhältnis zueinander gewesen?«
Ich zögerte einen Moment. »Ich war ihr Vorleser. Es