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Koks am Boden aufnehmen wollte, kam der Berg in
Bewegung. Von oben hüpften kleine Brocken in großen
und große in kleinen Sprüngen herab, weiter unten war’s
ein Rutschen und am Boden ein Rollen und Schieben.
Schwarzer Staub wolkte auf. Ich blieb erschrocken stehen,
bekam den einen und anderen Brocken ab und stand bald
bis zu den Knöcheln im Koks.
Als der Berg zur Ruhe kam, trat ich aus dem Koks, füllte
die zweite Schütte, suchte und fand einen Besen, mit dem
ich die Brocken, die in den Kellerflur gerollt waren, in den
Bretterverschlag fegte, verschloß die Tür und trug die
beiden Schütten hoch.
Sie hatte die Jacke ausgezogen, die Krawatte gelockert,
den obersten Knopf geöffnet und saß mit einem Glas
Milch am Küchentisch. Sie sah mich, lachte zuerst
verhalten glucksend und dann aus vollem Hals. Sie zeigte
mit dem Finger auf mich und klatschte mit der anderen
Hand auf den Tisch. »Wie siehst du aus, Jungchen,
wie siehst du aus!« Dann sah auch ich mein schwarzes
Gesicht im Spiegel über der Spüle und lachte mit.
»So kannst du nicht nach Hause. Ich laß dir ein Bad
einlaufen und klopf deine Sachen aus.« Sie ging zur
Wanne und drehte den Hahn auf. Das Wasser rauschte
dampfend in die Wanne. »Zieh deine Sachen vorsichtig
aus, ich brauch den schwarzen Staub nicht in der
Küche.«
Ich zögerte, zog Pullover und Hemd aus und zögerte
wieder. Das Wasser stieg schnell, und die Wanne war fast
voll.
»Willst du mit Schuhen und Hose baden? Jungchen, ich
schau nicht hin.« Aber als ich den Hahn zugedreht und
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auch die Unterhose ausgezogen hatte, musterte sie mich
ruhig. Ich wurde rot, stieg in die Wanne und tauchte unter.
Als ich auftauchte, war sie mit meinen Sachen auf dem
Balkon. Ich hörte, wie sie die Schuhe gegeneinander schlug
und Hose und Pullover ausschüttelte. Sie rief etwas nach
unten, über Kohlenstaub und Sägespäne, von unten rief’s
hoch, und sie lachte. Zurück in der Küche, legte sie meine
Sachen auf den Stuhl. Sie warf mir nur einen raschen Blick
zu. »Nimm das Shampoo und wasch dir auch die Haare.
Ich bring gleich das Frottiertuch.« Sie nahm etwas aus
dem Kleiderschrank und ging aus der Küche.
Ich wusch mich. Das Wasser in der Wanne war
schmutzig, und ich ließ frisches Wasser zulaufen, um
unter dem Strahl Kopf und Gesicht sauberzuspülen. Dann
lag ich da, hörte den Badeofen bullern, spürte im Gesicht
die kühle Luft, die durch die spaltoffene Küchentür kam,
und am Körper das warme Wasser. Mir war behaglich. Es
war ein erregendes Behagen, und mein Geschlecht wurde
steif.
Ich sah nicht auf, als sie in die Küche kam, erst als sie
vor der Wanne stand. Mit ausgebreiteten Armen hielt sie
ein großes Tuch. »Komm!« Ich wandte ihr den Rücken
zu, als ich mich aufrichtete und aus der Wanne stieg. Sie
hüllte mich von hinten in das Tuch, von Kopf bis Fuß, und
rieb mich trocken. Dann ließ sie das Tuch zu Boden fallen.
Ich wagte nicht, mich zu rühren. Sie trat so nahe an mich
heran, daß ich ihre Brüste an meinem Rücken und ihren
Bauch an meinem Po spürte. Auch sie war nackt. Sie legte
die Arme um mich, die eine Hand auf meine Brust und
die andere auf mein steifes Geschlecht.
»Darum bist du doch hier!«
»Ich…« Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Nicht
ja, aber auch nicht nein. Ich drehte mich um. Ich sah
nicht viel von ihr. Wir standen zu dicht. Aber ich war
überwältigt von der Gegenwart ihres nackten Körpers.
»Wie schön du bist!«
»Ach, Jungchen, was redest du.« Sie lachte und schlang
die Arme um meinen Hals. Auch ich nahm sie in meine
Arme.
Ich hatte Angst: vor dem Berühren, vor dem Küssen,
davor, daß ich ihr nicht gefallen und nicht genügen
würde. Aber als wir uns eine Weile gehalten hatten, ich
ihren Geruch gerochen und ihre Wärme und Kraft gefühlt
hatte, wurde alles selbstverständlich. Das Erforschen
ihres Körpers mit Händen und Mund, die Begegnung der
Münder und schließlich sie über mir, Auge in Auge, bis es
mir kam und ich die Augen fest schloß und zunächst mich
zu beherrschen versuchte und dann so laut schrie, daß sie
den Schrei mit ihrer Hand auf meinem Mund erstickte.
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In der folgenden Nacht habe ich mich in sie verliebt. Ich
schlief nicht tief, sehnte mich nach ihr, träumte von ihr,
meinte, sie zu spüren, bis ich merkte, daß ich das Kissen
oder die Decke hielt. Vom Küssen tat mir der Mund weh.
Immer wieder regte sich mein Geschlecht, aber ich wollte
mich nicht selbst befriedigen. Ich wollte mich nie mehr
selbst befriedigen. Ich wollte mit ihr sein.
Habe ich mich in sie verliebt als Preis dafür, daß sie mit
mir geschlafen hat? Bis heute stellt sich nach einer Nacht
mit einer Frau das Gefühl ein, ich sei verwöhnt worden
und müsse es abgelten – ihr gegenüber, indem ich sie zu
lieben immerhin versuche, und auch gegenüber der Welt,
der ich mich stelle.
Eine meiner wenigen lebendigen Erinnerungen
aus früher Kindheit gilt einem Wintermorgen, als
ich vier war. Das Zimmer, in dem ich damals schlief,
wurde nicht geheizt, und nachts und morgens war
es oft sehr kalt. Ich erinnere mich an die warme
Küche und den heißen Herd, ein schweres, eisernes
Gerät, in dem man das Feuer sah, wenn man mit
einem Haken die Platten und Ringe der Herdstellen
wegzog, und in dem ein Becken stets warmes Was29
ser bereithielt. Vor den Herd hatte meine Mutter einen
Stuhl gerückt, auf dem ich stand, während sie mich wusch
und ankleidete. Ich erinnere mich an das wohlige Gefühl
der Wärme und an den Genuß, den es mir bereitete, in
dieser Wärme gewaschen und angekleidet zu werden. Ich
erinnere mich auch, daß, wann immer mir die Situation
in Erinnerung kam, ich mich fragte, warum meine
Mutter mich so verwöhnt hat. War ich krank? Hatten die
Geschwister etwas bekommen, was ich nicht bekommen
hatte? Stand für den weiteren Verlauf des Tages
Unangenehmes, Schwieriges an, das ich bestehen mußte?
Auch weil die Frau, für die ich in Gedanken keinen
Namen hatte, mich am Nachmittag so verwöhnt hatte,
ging ich am nächsten Tag wieder in die Schule. Dazu kam,
daß ich die Männlichkeit, die ich erworben hatte, zur
Schau stellen wollte. Nicht daß ich hätte angeben wollen.
Aber ich fühlte mich kraftvoll und überlegen und wollte
meinen Mitschülern und Lehrern mit dieser Kraft und
Überlegenheit gegenübertreten. Außerdem hatte ich mit
ihr zwar nicht darüber gesprochen, stellte mir aber vor,
daß sie als Straßenbahnschaffnerin oft bis in den Abend
und in die Nacht arbeitete. Wie sollte ich sie jeden Tag
sehen, wenn ich zu Hause bleiben mußte und nur meine
Rekonvaleszentenspaziergänge machen durfte?
Als ich von ihr nach Hause kam, saßen meine Eltern
und Geschwister schon beim Abendessen. »Warum
kommst du so spät? Deine Mutter hat sich Sorgen um
dich gemacht.« Mein Vater klang mehr ärgerlich als
besorgt.
Ich sagte, ich hätte mich verirrt; ich hätte einen Spaziergang
über den Ehrenfriedhof zur Molkenkur geplant,
30 sei aber lange nirgendwo und schließlich in Nußloch
angekommen. »Ich hatte kein Geld und mußte von
Nußloch nach Hause laufen.«
»Du hättest trampen können.« Meine Jüngere
Schwester trampte manchmal, was meine Eltern nicht
billigten.
Mein älterer Bruder schnaubte verächtlich. »Molkenkur
und Nußloch – das sind völlig verschiedene Richtungen.
«
Meine ältere Schwester sah mich prüfend an.
»Ich gehe morgen wieder zur Schule.«
»Dann paß gut auf in Geographie. Es gibt Norden und
Süden, und die Sonne geht…«
Meine Mutter unterbrach meinen Bruder. »Noch drei
Wochen, hat der Arzt gesagt.«
»Wenn er über den Ehrenfriedhof nach Nußloch und
wieder zurück laufen kann, kann er auch in die Schule
gehen. Ihm fehlt’s nicht an Kraft, ihm fehlt’s an Grips.«
Als kleine Jungen hatten mein Bruder und ich uns
ständig geprügelt, später verbal bekämpft. Drei Jahre
älter, war er mir im einen so überlegen wie im anderen.
Irgendwann habe ich aufgehört zurückzugeben und
seinen kämpferischen Einsatz ins Leere laufen lassen.
Seitdem beschränkte er sich aufs Nörgeln.
»Was meinst du?« Meine Mutter wandte sich an meinen
Vater. Er legte Messer und Gabel auf den Teller, lehnte sich
zurück und faltete die Hände im Schoß. Er schwieg und
schaute nachdenklich, wie jedesmal, wenn meine Mutter
ihn der Kinder oder des Haushalts wegen ansprach. Wie
jedesmal fragte ich mich, ob er tatsächlich über die Frage
meiner Mutter nachdachte oder über seine Arbeit. Viel31
leicht versuchte er auch, über die Frage meiner Mutter
nachzudenken, konnte aber, einmal ins Nachdenken
verfallen, nicht anders als an seine Arbeit denken. Er war
Professor für Philosophie, und Denken war sein Leben,
Denken und Lesen und Schreiben und Lehren.
Manchmal hatte ich das Gefühl, wir, seine Familie,
seien für ihn wie Haustiere. Der Hund, mit dem man
spazierengeht, und die Katze, mit der man spielt, auch
die Katze, die sich im Schoß kringelt und schnurrend
streicheln läßt – das kann einem lieb sein, man kann es in
gewisser Weise sogar brauchen, und trotzdem ist einem
das Einkaufen des Futters, das Säubern des Katzenklos
und der Gang zum Tierarzt eigentlich schon zu viel. Denn
das Leben ist anderswo. Ich hätte gerne gehabt, daß wir,
seine Familie, sein Leben gewesen wären. Manchmal
hätte ich auch meinen nörgelnden Bruder und meine
freche kleine Schwester lieber anders gehabt. Aber an
dem Abend hatte ich sie alle plötzlich furchtbar lieb.
Meine kleine Schwester. Vermutlich war es nicht leicht,
das jüngste von vier Geschwistern zu sein, und konnte sie
sich ohne einige Frechheit nicht behaupten. Mein großer
Bruder. Wir hatten ein gemeinsames Zimmer, was für ihn
sicher schwieriger war als für mich, und überdies mußte
er, seit ich krank war, mir das Zimmer völlig lassen und
auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen. Wie sollte er
nicht nörgeln? Mein Vater. Warum sollten wir Kinder
sein Leben sein? Wir wuchsen heran und waren bald groß
und aus dem Haus.
Mir war, als säßen wir das letzte Mal gemeinsam um
den runden Tisch unter dem fünfarmigen, fünfkerzigen
Leuchter aus Messing, als äßen wir das letzte Mal von den
alten Tellern mit den grünen Ranken am Rand, als
redeten wir das letzte Mal so vertraut miteinander. Ich
fühlte mich wie bei einem Abschied. Ich war noch da und
schon weg. Ich hatte Heimweh nach Mutter und Vater
und den Geschwistern, und die Sehnsucht, bei der Frau
zu sein.
Mein Vater sah zu mir herüber. »Ich gehe morgen
wieder zur Schule – so hast du gesagt, nicht wahr?«
»Ja.« Es war ihm also aufgefallen, daß ich ihn und nicht
Mutter gefragt und auch nicht gesagt hatte, ich frage
mich, ob ich wieder in die Schule gehen soll.
Er nickte. »Lassen wir dich zur Schule gehen. Wenn es
dir zuviel wird, bleibst du eben wieder zu Hause.«
Ich war froh. Zugleich hatte ich das Gefühl, jetzt sei der
Abschied vollzogen.
33
8
In den nächsten Tagen hatte die Frau Frühschicht. Sie
kam um zwölf nach Hause, und ich schwänzte Tag auf
Tag die letzte Stunde, um sie auf dem Treppenabsatz vor
ihrer Wohnung zu erwarten. Wir duschten und liebten
uns, und kurz vor halb zwei zog ich mich hastig an und
rannte los. Um halb zwei wurde Mittag gegessen. Am
Sonntag gab es das Mittagessen schon um zwölf, begann
und endete aber auch ihre Frühschicht später.
Ich hätte das Duschen lieber gelassen. Sie war von
peinlicher Sauberkeit, hatte morgens geduscht, und ich
mochte den Geruch nach Parfum, frischem Schweiß
und Straßenbahn, den sie von der Arbeit mitbrachte.
Aber ich mochte auch ihren nassen, seifigen Körper;
ich ließ mich gerne von ihr einseifen und seifte sie gerne
ein, und sie lehrte mich, das nicht verschämt zu tun,
sondern mit selbstverständlicher, besitzergreifender
Gründlichkeit. Auch wenn wir uns liebten, nahm sie
selbstverständlich von mir Besitz. Ihr Mund nahm
meinen, ihre Zunge spielte mit meiner, sie sagte mir,
wo und wie ich sie anfassen sollte, und wenn sie mich
ritt, bis es ihr kam, war ich für sie nur da, weil sie sich
mit mir, an mir Lust machte. Nicht daß sie nicht zärtlich
34 gewesen wäre und mir nicht Lust gemacht hätte. Aber sie
tat es zu ihrem spielerischen Vergnügen, bis ich lernte,
auch von ihr Besitz zu ergreifen.
Das war später. Ganz lernte ich es nie. Lange fehlte es
mir auch nicht. Ich war jung, und es kam mir schnell, und
wenn ich danach langsam wieder lebendig wurde, ließ ich
sie gerne von mir Besitz nehmen. Ich sah sie an, wenn sie
über mir war, ihren Bauch, der über dem Nabel eine tiefe
Falte warf, ihre Brüste, die rechte ein winziges bißchen
größer als die linke, ihr Gesicht mit dem geöffneten
Mund. Sie stützte ihre Hände auf meine Brust und riß sie
im letzten Moment hoch, hielt ihren Kopf und stieß einen
tonlos schluchzenden, gurgelnden Schrei aus, der mich
beim ersten Mal erschreckte und den ich später begierig
erwartete.
Danach waren wir erschöpft. Oft schlief sie auf mir
ein. Ich hörte die Säge im Hof und die lauten Rufe der
Handwerker, die an ihr arbeiteten und sie übertönten.
Wenn die Säge verstummte, drang schwach das
Verkehrsgeräusch der Bahnhofstraße in die Küche. Wenn
ich Kinder rufen und spielen hörte, wußte ich, daß die
Schule aus und ein Uhr vorbei war. Der Nachbar, der über
Mittag nach Hause kam, streute Vogelfutter auf seinen
Balkon, und die Tauben kamen und gurrten.
»Wie heißt du?« Ich fragte sie am sechsten oder siebten
Tag. Sie war auf mir eingeschlafen und wachte gerade
auf. Ich hatte bis dahin die Anrede, das Sie und das Du
vermieden.
Sie fuhr hoch. »Was?«
»Wie du heißt!«
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»Warum willst du das wissen?« Sie sah mich
mißtrauisch an.
»Du und ich… ich kenne deinen Nachnamen, aber nicht
deinen Vornamen. Ich will deinen Vornamen wissen. Was
ist daran…«
Sie lachte. »Nichts, Jungchen, nichts ist daran falsch.
Ich heiße Hanna.« Sie lachte weiter, hörte nicht auf,
steckte mich an.
»Du hast so komisch gekuckt.«
»Ich war noch halb im Schlaf. Wie heißt du?«
Ich dachte, sie wüßte es. Es war gerade schick, die
Schulsachen nicht mehr in der Tasche, sondern unter
dem Arm zu tragen, und wenn ich sie bei ihr auf den
Küchentisch legte, stand obenauf mein Name, auf den
Heften und auch auf den Büchern, die ich gelernt hatte,
mit starkem Papier einzubinden und mit einem Etikett
zu bekleben, das den Titel des Buchs und meinen Namen
trug. Aber sie hatte nicht darauf geachtet.
»Ich heiße Michael Berg.«
»Michael, Michael, Michael.« Sie probierte den Namen
aus. »Mein Jungchen heißt Michael, ist ein Student…«
»Schüler.«
»…ist ein Schüler, ist, was, siebzehn?«
Ich war stolz auf die zwei Jahre mehr, die sie mir gab,
und nickte.
»…ist siebzehn und will, wenn er groß ist, ein
berühmter…« Sie zögerte.
»Ich weiß nicht, was ich werden will.«
»Aber du lernst fleißig.«
»Na ja.« Ich sagte ihr, daß sie mir wichtiger sei als Ler36
nen und Schule. Daß ich auch gerne öfter bei ihr wäre.
»Ich bleibe sowieso sitzen.«
»Wo bleibst du sitzen?« Sie richtete sich auf. Es war das
erste richtige Gespräch, das wir miteinander hatten.
»In der Untersekunda. Ich hab zuviel versäumt in den
letzten Monaten, als ich krank war. Wenn ich die Klasse
noch schaffen wollte, müßte ich wie blöd arbeiten. Ich
müßte auch jetzt in der Schule sein.« Ich erzählte ihr von
meinem Schwänzen.
»Raus.« Sie schlug das Deckbett zurück. »Raus aus
meinem Bett. Und komm nicht wieder, wenn du nicht
deine Arbeit machst. Blöd ist deine Arbeit? Blöd? Was
meinst du, was Fahrscheine verkaufen und lochen ist.«
Sie stand auf, stand nackt in der Küche und spielte
Schaffnerin. Sie schlug mit der Linken die kleine Mappe
mit den Fahrscheinblöcken auf, streifte mit dem Daumen
derselben Hand, auf dem ein Gummifingerhut steckte,
zwei Fahrscheine ab, schlenkerte mit der Rechten,
so daß sie den Griff der am Handgelenk baumelnden
Zange zu fassen bekam, und knipste zweimal. »Zweimal
Rohrbach.« Sie ließ die Zange los, streckte die Hand aus,
nahm einen Geldschein, klappte vor ihrem Bauch die
Geldtasche auf, steckte den Geldschein hinein, klappte
die Geldtasche wieder zu und drückte aus den außen
angebrachten Behältern für Münzen das Wechselgeld
heraus. »Wer hat noch keinen Fahrschein?« Sie sah mich
an. »Blöd? Du weißt nicht, was blöd ist.«
Ich saß auf dem Bettrand. Ich war wie betäubt. »Es tut
mir leid. Ich werde meine Arbeit machen. Ich weiß nicht,
ob ich es schaffe, in sechs Wochen ist das Schuljahr vorbei.
Ich werde es versuchen. Aber ich schaff’s nicht, wenn
ich dich nicht mehr sehen darf. Ich…« Zuerst wollte
ich sagen: Ich liebe dich. Aber dann mochte ich nicht.
Vielleicht hatte sie recht, gewiß hatte sie recht. Aber sie
hatte kein Recht, von mir zu fordern, daß ich mehr für die
Schule tue, und davon abhängig zu machen, ob wir uns
sehen. »Ich kann dich nicht nicht sehen.«
Die Uhr im Flur schlug halb zwei. »Du mußt gehen.«
Sie zögerte. »Ab morgen hab ich Hauptschicht. Halb
sechs – dann komme ich nach Hause und kannst du auch
kommen. Wenn du davor arbeitest.«
Wir standen uns nackt gegenüber, aber sie hätte mir in
ihrer Uniform nicht abweisender vorkommen können.
Ich begriff die Situation nicht. War es ihr um mich zu
tun? Oder um sich? Wenn meine Arbeit blöd ist, dann
ist ihre erst recht blöd – hatte sie das gekränkt? Aber ich
hatte gar nicht gesagt, daß meine oder ihre Arbeit blöd ist.
Oder wollte sie keinen Versager zum Geliebten? Aber war
ich ihr Geliebter? Was war ich für sie? Ich zog mich an,
trödelte und hoffte, sie würde etwas sagen. Aber sie sagte
nichts. Dann war ich angezogen, und sie stand immer
noch nackt, und als ich sie zum Abschied umarmte,
reagierte sie nicht.
38 9
Warum macht es mich so traurig, wenn ich an damals
denke? Ist es die Sehnsucht nach vergangenem Glück –
und glücklich war ich in den nächsten Wochen, in denen
ich wirklich wie blöd gearbeitet und die Klasse geschafft
habe und wir uns geliebt haben, als zähle sonst nichts auf
der Welt. Ist es das Wissen, was danach kam und daß
danach nur ans Licht kam, was schon da war?
Warum? Warum wird uns, was schön war, im
Rückblick dadurch brüchig, daß es häßliche Wahrheiten
verbarg? Warum vergällt es die Erinnerung an glückliche
Ehejahre, wenn sich herausstellt, daß der andere die
ganzen Jahre einen Geliebten hatte? Weil man in einer
solchen Lage nicht glücklich sein kann? Aber man war
glücklich! Manchmal hält die Erinnerung dem Glück
schon dann die Treue nicht, wenn das Ende schmerzlich
war. Weil Glück nur stimmt, wenn es ewig hält? Weil
schmerzlich nur enden kann, was schmerzlich gewesen
ist, unbewußt und unerkannt? Aber was ist unbewußter
und unerkannter Schmerz?
Ich denke an damals zurück und sehe mich vor mir. Ich
trug die eleganten Anzüge auf, die ein reicher Onkel hin39
terlassen hatte und die an mich gelangt waren, zusammen
mit mehreren Paaren zweifarbiger Schuhe, schwarz und
braun, schwarz und weiß, Wild- und glattes Leder. Ich
hatte zu lange Arme und zu lange Beine, nicht für die
Anzüge, die meine Mutter herausgelassen hatte, aber
für die Koordination meiner Bewegungen. Meine Brille
war ein billiges Kassenmodell und mein Haar ein zauser
Mop, ich konnte machen, was ich wollte. In der Schule
war ich nicht gut und nicht schlecht; ich glaube, viele
Lehrer haben mich nicht recht wahrgenommen und auch
nicht die Schüler, die in der Klasse den Ton angaben. Ich
mochte nicht, wie ich aussah, wie ich mich anzog und
bewegte, was ich zustande brachte und was ich galt. Aber
wieviel Energie war in mir, wieviel Vertrauen, eines Tages
schön und klug, überlegen und bewundert zu sein, wieviel
Erwartung, mit der ich neuen Menschen und Situationen
begegnet bin.
Ist es das, was mich traurig macht? Der Eifer und
Glaube, der mich damals erfüllte und dem Leben ein
Versprechen entnahm, das es nie und nimmer halten
konnte? Manchmal sehe ich in den Gesichtern von
Kindern und Teenagern denselben Eifer und Glauben,
und ich sehe ihn mit derselben Traurigkeit, mit der ich an
mich zurückdenke. Ist diese Traurigkeit die Traurigkeit
schlechthin? Ist sie es, die uns befällt, wenn schöne
Erinnerungen im Rückblick brüchig werden, weil das
erinnerte Glück nicht nur aus der Situation, sondern aus
einem Versprechen lebte, das nicht gehalten wurde?
Sie – ich sollte anfangen, sie Hanna zu nennen, wie ich
auch damals anfing, sie Hanna zu nennen – sie freilich
40 lebte nicht aus einem Versprechen, sondern aus der
Situation und nur aus ihr.
Ich fragte sie nach ihrer Vergangenheit, und es war, als
krame sie, was sie mir antwortete, aus einer verstaubten
Truhe hervor. Sie war in Siebenbürgen aufgewachsen, mit
siebzehn nach Berlin gekommen, Arbeiterin bei Siemens
geworden und mit einundzwanzig zu den Soldaten
geraten. Seit der Krieg zu Ende war, hatte sie sich mit
allen möglichen Jobs durchgeschlagen. An ihrem Beruf
als Straßenbahnschaffnerin, den sie seit ein paar Jahren
hatte, mochte sie die Uniform und die Bewegung, den
Wechsel der Bilder und das Rollen unter den Füßen.
Sonst mochte sie ihn nicht. Sie hatte keine Familie. Sie
war sechsunddreißig. Das alles erzählte sie, als sei es
nicht ihr Leben, sondern das Leben eines anderen, den
sie nicht gut kennt und der sie nichts angeht. Was ich
genauer wissen wollte, wußte sie oft nicht mehr, und sie
verstand auch nicht, warum mich interessierte, was aus
ihren Eltern geworden war, ob sie Geschwister gehabt,
wie sie in Berlin gelebt und was sie bei den Soldaten
gemacht hatte. »Was du alles wissen willst, Jungchen!«
Ebenso war es mit der Zukunft. Natürlich schmiedete
ich keine Pläne für Heirat und Familie. Aber ich nahm
an der Beziehung von Julien Sorel zu Madame de Rênal
mehr Anteil als an der zu Mathilde de la Mole. Ich sah
Felix Krull am Ende gern in den Armen der Mutter statt
der Tochter. Meine Schwester, die Germanistik studierte,
berichtete beim Essen von dem Streit, ob Herr von Goethe
und Frau von Stein eine Liebesbeziehung hatten, und ich
verteidigte es zur Verblüffung der Familie mit Nachdruck.
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Ich stellte mir vor, wie unsere Beziehung in fünf oder zehn
Jahren aussehen könne. Ich fragte Hanna, wie sie es sich
vorstellte. Sie mochte nicht einmal bis Ostern denken,
wo ich mit ihr in den Ferien mit dem Fahrrad wegfahren
wollte. Wir könnten als Mutter und Sohn ein gemeinsames
Zimmer nehmen und die ganze Nacht zusammenbleiben.
Seltsam, daß mir die Vorstellung und der Vorschlag
nicht peinlich waren. Bei einer Reise mit meiner Mutter
hätte ich um das eigene Zimmer gekämpft. Von meiner
Mutter zum Arzt oder beim Kauf eines neuen Mantels
begleitet oder von einer Reise abgeholt zu werden,
erschien mir meinem Alter nicht mehr gemäß. Wenn
sie mit mir unterwegs war und wir Schulkameraden
begegneten, hatte ich Angst, für ein Muttersöhnchen
gehalten zu werden. Aber mich mit Hanna zu zeigen,
die, obschon zehn Jahre jünger als meine Mutter, meine
Mutter hätte sein können, machte mir nichts aus. Es
machte mich stolz.
Wenn ich heute eine Frau von sechsunddreißig sehe,
finde ich sie jung. Aber wenn ich heute einen jungen
von fünfzehn sehe, sehe ich ein Kind. Ich staune, wieviel
Sicherheit Hanna mir gegeben hat. Mein Erfolg in der
Schule ließ meine Lehrer aufmerken und gab mir die
Sicherheit ihres Respekts. Die Mädchen, denen ich
begegnete, merkten und mochten, daß ich keine Angst
vor ihnen hatte. Ich fühlte mich in meinem Körper wohl.
Die Erinnerung, die die ersten Begegnungen mit
Hanna hell ausleuchtet und genau festhält, läßt die
Wochen zwischen unserem Gespräch und dem Ende des
Schuljahrs ineinander verschwimmen. Ein Grund dafür ist
die Regelhaftigkeit, mit der wir uns trafen und mit der die
42 Treffen abliefen. Ein anderer Grund ist, daß ich davor
noch nie so volle Tage gehabt hatte, mein Leben noch
nie so schnell und dicht gewesen war. Wenn ich mich
an das Arbeiten in jenen Wochen erinnere, ist mir, als
hätte ich mich an den Schreibtisch gesetzt und wäre
an ihm sitzengeblieben, bis alles aufgeholt war, was ich
während der Gelbsucht versäumt hatte, alle Vokabeln
gelernt, alle Texte gelesen, alle mathematischen Beweise
geführt und chemischen Verbindungen geknüpft. Über
die Weimarer Republik und das Dritte Reich hatte ich
schon im Krankenbett gelesen. Auch unsere Treffen sind
mir in der Erinnerung ein einziges langes Treffen. Seit
unserem Gespräch waren sie immer am Nachmittag:
wenn sie Spätschicht hatte, von drei bis halb fünf, sonst
um halb sechs. Um sieben wurde zu Abend gegessen,
und zunächst drängte Hanna mich, pünktlich zu Hause
zu sein. Aber nach einer Weile blieb es nicht bei den
eineinhalb Stunden, und ich fing an, Ausreden zu erfinden
und das Abendessen auszulassen.
Das lag am Vorlesen. Am Tag nach unserem Gespräch
wollte Hanna wissen, was ich in der Schule lernte.
Ich erzählte von Homers Epen, Ciceros Reden und
Hemingways Geschichte vom alten Mann und seinem
Kampf mit dem Fisch und dem Meer. Sie wollte hören,
wie Griechisch und Latein klingen, und ich las ihr aus der
Odyssee und den Reden gegen Catilina vor.
»Lernst du auch Deutsch?«
»Wie meinst du das?«
»Lernst du nur fremde Sprachen, oder gibt es auch bei
der eigenen Sprache noch was zu lernen?«
»Wir lesen Texte.« Während ich krank war, hatte die
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Klasse »Emilia Galotti« und »Kabale und Liebe« gelesen,
und demnächst sollte darüber eine Arbeit geschrieben
werden. Also mußte ich beide Stücke lesen, und ich tat es,
wenn alles andere erledigt war. Dann war es spät, und ich
war müde, und was ich las, wußte ich am nächsten Tag
schon nicht mehr und mußte ich noch mal lesen.
»Lies es mir vor!«
»Lies selbst, ich bring’s dir mit.«