Файл: VIERUNDZWANZIG STUNDEN AUS DEM LEBEN EINER FRAU.doc

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Und nun denken Sie sich meine Situation: ich stand zwanzig oder dreißig Schritte hinter jener Bank mit dem reglosen, zusammengebrochenen Menschen, ahnungs­los, was beginnen, vorgetrieben einerseits vom Willen, zu helfen, zurückgedrängt von der anerzogenen, ange­erbten Scheu, einen fremden Mann auf der Straße anzusprechen. Die Gaslaternen flackerten trüb in den umwölkten Himmel, ganz selten nur hastete eine Ge­stalt vorbei, denn es war nahe an Mitternacht und ich fast ganz allein im Park mit dieser selbstmörderischen Gestalt. Fünfmal, zehnmal hatte ich mich schon zusam­mengerafft und war auf ihn zugegangen, immer riss mich Scham zurück oder vielleicht jener Instinkt tiefe­rer Ahnung, dass Stürzende gern den Helfenden mit sich reißen — und mitten in diesem Hin und Wider fühlte ich selbst deutlich das Sinnlose, das Lächerliche der Situation. Dennoch vermochte ich weder zu spre­chen noch wegzugehen, weder etwas zu tun noch ihn zu verlassen. Und ich hoffe, Sie glauben mir, wenn ich Ihnen sage, dass ich vielleicht eine Stunde lang, eine unendliche Stunde, während tausend und tausend klei­ne Wellenschläge des unsichtbaren Meeres die Zeit zer­rissen, auf dieser Terrasse unschlüssig umherwanderte; so sehr erschütterte und hielt mich dies Bild der voll­kommenen Zernichtung eines Menschen.

Aber doch, ich fand nicht den Mut eines Worts, ei­ner Tat, und ich härte die halbe Nacht noch so war­tend gestanden oder vielleicht hätte mich schließlich klügere Selbstsucht bewogen, nach Hause zu gehen, ja ich glaube sogar, dass ich bereits entschlossen war, die­ses Bündel Elend in seiner Ohnmacht liegen zu lassen — aber da entschied ein Ubermächtiges gegen meine Unentschlossenheü Es begann nämlich zu regnen. Den ganzen Abend schon hatte der Wind über dem Meer schwere, dampfende Frühlingswolken zusammenge­schoben, man spürte mit der Lunge, mit dem Herzen, dass der Himmel ganz tief herabdrückte — plötzlich begann ein Tropfen niederzuklatschen, und schon pras­selte in schweren, nassen, vom Wind gejagten Sträh­nen ein massiger Regen herab. Unwillkürlich flüchtete ich unter den Vorsprung eines Kioskes, und obwohl ich den Schirm aufspannte, schütteten die noch springen­den Böen nasse Büschel Wassers an mein Kleid. Bis hinauf ins Gesicht und die Hände spürte ich sprühend den kalten Staub der am Boden knallend zerklatschen­den Tropfen.

Aber — und das war ein so entsetzlicher Anblick, dass mir heute noch, nach zwei Jahrzehnten, die Erin­nerung die Kehle klemmt — in diesem stürzenden Wolkenbruch blieb der Unglücksrabe reglos auf seiner Bank sitzen und rührte sich nicht. Von allen Traufen triefte und gluckerte das Wasser, aus der Stadt her hörte man Wagen donnern, rechts und links flüchteten Ge­stalten mit aufgestülpten Mänteln; was Leben in sich hatte, alles duckte sich scheu, flüchtete, floh, suchte Unterschlupf, überall bei Mensch und Tier spürte man die Angst vor dem stürzenden Element — nur dieses schwarze Knäuel Mensch dort auf der Bank rührte und regte sich nicht. Ich sagte Ihnen schon früher, dass es diesem Menschen magisch gegeben war, jedes seiner Gefühle durch Bewegung und Geste plastisch zu ma­chen; aber nichts, nichts auf Erden konnte Verzweiflung, vollkommene Selbstaufgabe, lebendiges Gestorbensein dermaßen erschütternd ausdrücken, als diese Unbe-weglichkeit, dieses reglose, fühllose Dasitzen im pras­selnden Regen, dieses Zumüdesein, um sich aufzuhe­ben und die paar Schritte zu gehen bis zum schützen­den Dach, diese letzte Gleichgültigkeit gegen das eige­ne Sein. Kein Bildhauer, kein Dichter, nicht Michelan­gelo und Dante hat mir jemals die Geste der letzten Verzweiflung, das letzte Elend der Erde so hinreißend fühlsam gemacht wie dieser lebendige Mensch, der sich überschütten ließ vom Element, schon zu lässig, zu müde, durch eine einzige Bewegung sich zu schützen.

Das riss mich weg, ich konnte nicht anders. Mit ei­nem Ruck durchlief ich die nasse Spießrutenreihe des Regens und rüttelte das triefende Bündel Mensch von der Bank. "Kommen Siel" Ich packte seinen Arm. Ir­gend etwas starrte mühsam empor. Irgendeine Bewe­gung schien langsam aus ihm wachsen zu wollen, aber er verstand nicht. "Kommen Sie!" zerrte ich nochmals den nassen Ärmel, nun schon beinahe zornig. Da stand er langsam auf, willenlos und schwankend. "Was wol­len Sie?" fragte er, und ich hatte darauf keine Antwort, denn ich wusste selbst nicht, wohin mit ihm: Nur weg aus dem kalten Guss, aus diesem sinnlosen, selbstmör­derischen Dasitzen äußerster Verzweiflung. Ich ließ den Arm nicht los, sondern zog den ganz Willenlosen wei­ter bis hin zu dem Verkaufskiosk, wo das schmale vor­springende Dach ihn wenigstens einigermaßen vor dem wütigen Uberfall des vom Wind wild geschwenkten Ele­ments schützte. Weiter wusste ich nichts, wollte ich nichts. Nur ins Trockene, nur unter ein Dach diesen Menschen ziehen: weiter hatte ich zunächst nicht ge­dacht.


Und so standen wir beide nebeneinander in dem schmalen Streifen Trockenheit, hinter uns die verschlos­sene Wand der Verkaufsbude, über uns einzig das zu

kleine Schutzdach, unter dem heimtückisch durchgrei­fend der unersättliche Regen uns mit plötzlichen Böen immer wieder lose Fetzen nasser Kälte über die Klei­der und ins Gesicht schlug. Die Situation wurde uner­träglich. Ich konnte doch nicht länger stehenbleiben ne­ben diesem triefenden fremden Menschen. Und ander­seits, ich konnte ihn, nachdem ich ihn hierhergezogen, nicht ohne ein Wort einfach stehenlassen. Irgendetwas musste geschehen; allmählich zwang ich mich zu gera­dem klaren Denken. Am besten, dachte ich, ihn in ei­nem Wagen nach Hause bringen und dann selbst nach Hause: morgen wird er schon für sich Hilfe wissen. Und so fragte ich den reglos neben mir Stehenden, der starr hinaus in die jagende Nacht blickte: "Wo wohnen Sie?"

"Ich habe keine Wohnung... ich bin erst abends von Nizza gekommen... zu mir kann man nicht gehen."

Den letzten Satz verstand ich nicht gleich. Erst spä­ter wurde mir klar, dass dieser Mensch mich für... für eine Kokotte hielt, für eines der Weiber, wie sie nachts hier massenhaft um das Kasino streichen, weil sie hof­fen, glücklichen Spielern oder Betrunkenen noch etwas Geld abzujagen. Schließlich, was sollte er anderes auch denken, denn erst jetzt, da ich es Ihnen wiedererzähle, spüre ich das ganz Unwahrscheinliche, ja Fantastische meiner Situation — was sollte er anderes von mir mei­nen, war doch die Art, wie ich ihn von der Bank weg­gezogen und selbstverständlich mitgeschleppt, wahrhaf­tig nicht die einer Dame. Aber dieser Gedanke kam mir nicht gleich. Erst später, zu spät schon dämmerte mir das grauenvolle Missverständnis auf, in dem er sich über meine Person befand. Denn sonst hätte ich nie­mals die nächsten Worte gesprochen, die seinen Irrtum nur bestärken mussten. Ich sagte nämlich: "So wird man eben ein Zimmer in einem Hotel nehmen. Hier dürfen Sie nicht bleiben. Sie müssen jetzt irgendwo Unterkommen."

Aber sofort wurde ich jetzt seines peinlichen Irrtums gewahr, denn er wandte sich gar nicht mir zu und wehr­te nur mit einem gewissen höhnischen Ausdruck ab:

"Nein, ich brauche kein Zimmer, ich brauche gar nichts mehr. Gib dir keine Mühe, aus mir ist nichts zu holen. Du hast dich an den Unrichtigen gewandt, ich habe kein Geld."

Das war wieder so furchtbar gesagt, mit einer so erschütternden Gleichgültigkeit; und sein Dastehen, dies schlaffe An-der-Wand-Lehnen eines triefenden, nassen, von innen her erschöpften Menschen erschütterte mich derart, dass ich gar nicht Zeit hatte für ein kleines, dum­mes Beleidigtsein. Ich empfand nur, was ich vom er­sten Augenblick an, da ich ihn aus dem Saal taumeln sah, und während dieser unwahrscheinlichen Stunde ununterbrochen empfunden: Dass hier ein Mensch, ein junger, lebendiger, atmender Mensch knapp vor dem Tode stände und ich ihn retten musste. Ich trat näher.

"Kümmern Sie sich nicht um Geld und kommen Sie! Hier dürfen Sie nicht bleiben, ich werde Sie schon unterbringen. Kümmern Sie sich um gar nichts, kom­men Sie nur jetzt!'"

Er wandte den Kopf, ich spürte, wie er, indes der Regen dumpf um uns trommelte und die Traufe klat­schendes Wasser zu unseren Füßen hinwarf, wie er da mitten im Dunkel zum erstenmal sich bemühte, mein Gesicht zu sehen. Auch der Körper schien langsam aus seiner Lethargie zu erwachen.

'Nun, wie du willst", sagte er nachgebend. "Mir ist alles eineriei... Schließlich warum nicht? Gehen wir." Ich spannte den Schirm auf, er trat an meine Seite und fasste mich unter dem Arm. Diese plötzli­che Vertraulichkeit war mir unangenehm, ja sie ent­setzte mich, ich erschrak bis hinab in das Unterste mei­nes Herzens. Aber ich hatte nicht den Mut, ihm etwas zu verbieten: denn stieß ich ihn jetzt zurück, so fiel er ins Bodenlose, und alles war vergeblich, was ich bis­her versucht. Wir gingen die wenigen Schritte gegen das Kasino zurück. Jetzt fiel mir erst ein. dass ich nicht wusste, was mit ihm anfangen. Am besten, überlegte ich rasch, ihn zu einem Hotel fuhren, ihm dort Geld in die Hand drücken, dass er übernachten und mor­gen heimreisen kann: weiter dachte ich nicht Und wie jetzt die Wagen hastig vor das Kasino vorfuhren, rief ich einen an. wir stiegen ein. Als der Kutscher fragte, wohin, wusste ich zunächst keine Antwort Aber mich plötzlich erinnernd, dass der gänzlich durchnässte, trie­fende Mensch neben mir in keinem der guten Hotels Aufnahme finden konnte — anderseits aber auch als wahrhaft unerfahrene Frau an ein Zweideutiges gar nicht denkend, rief ich dem Kutscher nur zu: "fai ir­gendein einfaches Hotel!"

Der Kutscher, gleichmütig, regenübergossen. trieb die Pferde an. Der fremde Mensch neben mir sprach kein Wort, die Räder rassehen, und der Regen klatsch­te in wuchtigem Niederschlag gegen die Scheiben: mir war in diesem dunklen, lichtlosen, sarghaften Viereck zumute, als ob ich mit einer Leiche führe. Ich versuch­te nachzudenken, irgendein Wort zu finden, um das Sonderbare und Grauenvolle dieses stummen Bei­sammenseins abzuschwächen, aber mir fiel nichts ein. Nach einigen Minuten hielt der Wagen, ich stieg zu­erst aus, entlohnte den Kutscher, indes jener gleich­sam schlaftrunken den Schlag zuklinkte. Wir standen jetzt vor der Tür eines kleinen, fremden Hotels, über uns wölbte ein gläsernes Vordach sein winziges Stück geschützten Raumes gegen den Regen, der ringsum mit grässlicher Monotonie die undurchdnngiiche Nacht zerfranste.


Der fremde Mensch, seiner Schwere nachgebend, hatte sich unwillkürlich an die Wand gelehnt es tropf­te und triefte von seinem nassen Hut seinen zerdrück­ten Kleidern. Wie ein Ertrunkener, den man aus dem Fluß geholt mit noch benommenen Sinnen, so stand er da, und um den kleinen Fleck, wo er lehnte, bilde­te sich ein Rinnsal von niederrieselndem Wasser. Aber er machte nicht die geringste Anstrengung, sich ab­zuschütteln, den Hut wegzuschwenken, von dem Trop­fen immer wieder über Stirn und Gesicht niederliefen. Er stand vollkommen teilnahmslos, und ich kann Ih­nen nicht sagen, wie diese Zerbrochenheit mich er­schütterte.

Aber jetzt musste etwas geschehen. Ich griff in mei­ne Tasche: "Da haben Sie hundert Franken", sagte ich, "nehmen Sie sich damit ein Zimmer und fahren Sie morgen nach Nizza zurück."

Er sah erstaunt auf.

"Ich habe Sie im Spielsaal beobachtet", drängte ich, sein Zögern bemerkend. "Ich weiß, dass Sie alles ver­loren haben, und fürchte, Sie sind auf dem besten

Wege, eine Dummheit zu machen. Es ist keine Schan­de, sich helfen zu lassen... Da, nehmen Sie!"

Aber er schob meine Hand zurück mit einer Ener­gie, die ich ihm nicht zugetraut hätte. "Du bist ein gu­ter Kerl", sagte er, "aber vertu dein Geld nicht. Mir ist nicht mehr zu helfen. Ob ich diese Nacht noch schlafe oder nicht, ist vollkommen gleichgültig. Morgen ist oh­nehin alles zu Ende. Mir ist nicht zu helfen."

"Nein, Sie müssen es nehmen", drängte ich, "mor­gen werden Sie anders denken. Gehen Sie jetzt erst einmal hinauf, überschlafen Sie alles. Bei Tag haben die Dinge ein anderes Gesicht."

Doch er stieß, da ich ihm neuerdings das Geld aufdrängte, beinahe heftig meine Hand weg. "Lass das", wiederholte er nochmals dumpf, "es hat keinen Sinn. Besser, ich tue das draußen ab, als den Leuten hier ihr Zimmer mit Blut schmutzig zu machen. Mir ist mit hundert Franken nicht zu helfen und mit tausend auch nicht. Ich würde doch morgen wieder mit den letzten paar Franken in den Spielsaal gehen und nicht früher aufhören, als bis alles weg ist. Wozu nochmals anfangen, ich habe genug."

Sie können nicht ermessen, wie mir dieser dumpfe Ton bis in die Seele drang; aber denken Sie sich das aus: zwei Zoll von Ihnen steht ein junger, heller, leben­diger, atmender Mensch, und man weiß, wenn man nicht alle Kräfte aufrafft, wird dieses denkende, spre­chende, atmende Stück Jugend in zwei Stunden eine Leiche sein. Und nun wurde es für mich gleichsam eine Wut, ein Zorn, diesen sinnlosen Widerstand zu besie­gen. Ich packte seinen Arm: "Schluss mit diesen Dumm­heiten! Sie werden jetzt hinaufgehen und sich ein Zim­mer nehmen, und morgen früh komme ich und schaf­fe Sie an die Bahn. Sie müssen fort von hier. Sie müs­sen noch morgen nach Hause fahren, und ich werde nicht früher rasten, ehe ich Sie nicht selbst mit der Fahr­karte im Zuge sehe. Man wirft sein Leben nicht weg, wenn man jung ist, nur weil man gerade ein paar hun­dert oder tausend Franken verloren hat. Das ist Feig-heit, eine dumme Hysterie von Zorn und Erbitterung. Morgen werden Sie mir selbst Recht geben!"

"Morgen!" wiederholte er mit sonderbar düsterer und ironischer Betonung. "Morgen! Wenn du wüsstest, wo ich morgen bin! Wenn ich selbst es wüsste, ich bin eigentlich schon ein wenig neugierig darauf. Nein, geh nach Hause, mein Kind, gib dir keine Mühe und vertu nicht dein Geld."

Aber ich ließ nicht mehr nach. Es war wie eine Ma­nie, wie eine Raserei in mir. Gewaltsam packte ich sei­ne Hand und presste die Banknoten hinein. "Sie wer­den das Geld nehmen und sofort hinaufgehen!" und dabei trat ich entschlossen zur Klingel und läutete an. "So, jetzt habe ich angeläutet, der Portier wird gleich kommen, Sie gehen hinauf und legen sich nieder. Mor­gen neun Uhr warte ich vor dem Haus und bringe Sie sofort an die Bahn. Machen Sie sich keine Sorge um altes Weitere, ich werde schon das Nötige veranlassen, dass Sie bis nach Hause kommen. Aber jetzt legen Sie sich nieder, schlafen Sie sich aus und denken Sie nicht weiter!"

In diesem Augenblick knackte der Schlüssel an der Tür von innen her, der Portier öffnete.

"Komm!" sagte er da plötzlich mit einer harten, fe­stem, erbitterten Stimme, und eisern fühlte ich mein Handgelenk von seinen Fingern umspannt. Ich er­schrak... ich erschrak so durch und durch, so gelähmt, so blitzhaft getroffen, dass mir alle Besinnung sch­wand... Ich wollte mich wehren, mich losreißen... aber mein Wille war wie gelähmt... und ich... Sie werden es verstehen... ich... ich schämte mich vor dem Por­tier, der da wartend und ungeduldig stand, mit einem fremden Menschen zu ringen. Und so... so stand ich mit einem Male innen im Hotel; ich wollte sprechen, etwas sagen, aber die Kehle stockte mir... an meinem Arm lag schwer und gebietend seine Hand... ich spür­te dumpf, wie sie mich unbewusst eine Treppe hinauf­zog... ein Schlüssel knackte...

Und plötzlich war ich mit diesem fremden Menschen allein in einem fremden Zimmer, in irgendeinem Ho­tel, dessen Namen ich heute noch nicht weiß.»


Mrs. С. hielt wieder inne und stand plötzlich auf. Die Stimme schien ihr nicht mehr zu gehorchen. Sie ging zum Fenster, sah stumm einige Minuten hinaus oder lehnte vielleicht nur die Stirn an die kalte Scheibe: ich hatte nicht den Mut, genau hinzusehen, denn es war mir peinlich, die alte Dame in ihrer Erregung zu beob­achten. So saß ich still, ohne Frage, ohne Laut, und wartete, bis sie wieder mit gebändigtem Schritt zurück­kam und sich mir gegenübersetzte.

«So — jetzt ist das Schwerste gesagt. Und ich hof­fe, Sie glauben mir, wenn ich Ihnen nun nochmals ver­sichere, wenn ich bei allem, was mir heilig ist, bei mei­ner Ehre und bei meinen Kindern, schwöre, dass mir bis zu jener Sekunde kein Gedanke an eine... eine Ver­bindung mit diesem fremden Menschen in den Sinn gekommen war, dass ich wirklich ohne jeden wachen Willen, ja ganz ohne Bewusstsein wie durch eine Fall­tür vom ebenen Weg meiner Existenz plötzlich in diese Situation gestürzt war. Ich habe mir geschworen, zu Ihnen und zu mir wahr zu sein, so wiederhole ich Ih­nen nochmals, dass ich nur durch einen fast überreiz­ten Willen zur Hilfe durch kein anderes, kein persönli­ches Gefühl, also ganz ohne jeden Wunsch, ohne jede Ahnung in dieses tragische Abenteuer geriet.

Was in jenem Zimmer, was in jener Nacht geschah, ersparen Sie mir zu erzählen; ich selbst habe keine Se­kunde dieser Nacht vergessen und Will sie auch niemals vergessen. Denn in jener Nacht rang ich mit einem Menschen um sein Leben, denn ich wiederhole: um Leben und Sterben ging dieser Kampf. Zu unverkenn­bar spürte ichs mit jedem Nerv, dass dieser fremde Mensch, dieser halb schon Verlorene bereits mit aller Gier und Leidenschaft eines tödlich Bedrohten noch um das Letzte griff. Er klammerte sich an mich wie einer, der bereits den Abgrund unter sich fühlt. Ich aber raff­te alles aus mir auf, um ihn zu retten mit allem, was mir gegeben war. Solche Stunde erlebt vielleicht ein Mensch nur einmal in seinem Leben, und von Millio­nen wieder nur einer — auch ich hätte nie geahnt ohne diesen fürchterlichen Zufall, wie glühend, wie verzwei­felnd, mit welcher unbändigen Gier sich ein aufgege­bener, ein verlorener Mensch noch einmal an jeden roten Tropfen Leben ansaugt, Ich hätte, zwanzig Jahre lang fern von allen dämonischen Mächten des Daseins, nie begriffen, wie großartig und fantastisch die Natur manchmal Ihr Heiß und Kalt, Tod und Leben, Ent­zückung und Verzweiflung in ein paar knappe Atemzü­ge zusammendrängt, Und diese Nacht war so angefüllt mit Kampf und Gespräch, mit Leidenschaft und Zorn und Hass, mit Tränen der Beschwörung und der Trun­kenheit, dass sie mir tausend Jahre zu dauern schien und wir zwei Menschen, die verschlungen ihren Ab­grund hinabtaumelten, todeswütig der eine, ahnungs­los der andere, anders hervorgingen aus diesem tödli­chen Tumult, anders, vollkommen verwandelt, mit an­dern Sinnen, anderem Gefühl.

Aber ich will davon nicht sprechen. Ich kann und will das nicht schildern. Nur diese eine unerhörte Mi­nute meines Erwachens am Morgen muss ich Ihnen doch andeuten. Ich erwachte aus einem bleiernen Schlaf, aus einer Tiefe der Nacht, wie ich sie nie ge­kannt. Ich brauchte lange, bis ich die Augen aufschlug, und das Erste, was ich sah, war über mir eine fremde Zimmerdecke, und weiter tastend dann ein ganz frem­der, unbekannter, hässlicher Raum, von dem ich nicht wusste, wie ich hineingeraten. Zuerst beredete ich mich, noch Traum sei dies, ein hellerer, durchsichtigerer Traum, in den ich aus jenem ganz dumpfen und ver­worrenen Schlaf emporgetaucht sei — aber vor den Fenstern stand schon schneidend klares, unverkennbar wirkliches Sonnenlicht, Morgeniicht, von unten her dröhnte die Straße mit Wagengerassel, Tramwayklfn-geln und Menschenlaut — und nun wusste ich, dass ich nicht mehr träumte, sondern wach sei. Unwillkürlich richtete Ich mich auf, um mich zu besinnen, und da.,, wie ich den Blick seitwärts wandte.,, da sah ich — und nie werde ich Ihnen meinen Schrecken schildern kön­nen — einen fremden Menschen im breiten Bette ne­ben mir schlafen... aber fremd, fremd, fremd, ein halb­nackter unbekannter Mensch...

Nein, dieses Entsetzen, ich weiß es, beschreibt sich nicht: es fiel so furchtbar über mich, dass ich zurück­sank ohne Kraft. Aber es war nicht gute Ohnmacht, kein Nichtmehrwissen, im Gegenteil: mit blitzhafter Ge­schwindigkeit war mir alles ebenso bewusst wie uner­klärbar, und ich hatte nur den einen Wunsch, zu ster­ben vor Ekel und Scham, mich plötzlich mit einem wildfremden Menschen in dem fremden Bett einer wohl verdächtigen Spelunke zu finden. Ich weiß noch deutlich, mein Herzschlag setzte aus, ich hielt den Atem an, als könnte ich mein Leben damit und vor allem das Bewusstsein auslöschen, dieses klare, grauenhaft klare Bewusstsein, das alles begriff und doch nichts ver­stand.

Ich werde niemals wissen, wie lange ich dann so gelegen habe, eiskalt an allen Gliedern: Tote müssen ähnlich starr im Sarge liegen. Ich weiß nur, ich hatte die Augen geschlossen und betete zu Gott, zu irgend­einer Macht des Himmeis, es möge nicht wahr, es möge nicht wirklich sein. Aber meine geschärften Sinne er­laubten nun keinen Betrug mehr, ich hörte im Nach­barzimmer Menschen sprechen, Wasser rauschen, außen schlurften Schritte im Gang, und jedes dieser Zeichen bezeugte unerbittlich das grausam Wache mei­ner Sinne.


Wie lange dieser grässliche Zustand gedauert hat, vermag ich nicht zu sagen: solche Sekunden haben andere Zeiten als die gemessenen des Lebens. Aber plötzlich überfiel mich eine andere Angst, die jagen­de, grauenhafte Angst: dieser fremde Mensch, dessen Namen ich gar nicht kannte, möchte jetzt aufwachen und zu mir sprechen. Und sofort wusste ich, dass es für mich nur eines gäbe: mich anziehen, flüchten, ehe er erwachte. Nicht mehr von ihm gesehen werden, licht mehr zu ihm sprechen. Sich rechtzeitig retten, iL fort, fort, zurück in irgendein eigenes Leben, in in Hotel, und gleich mit dem nächsten Zuge fort diesem verruchten Ort, aus diesem Land, ihm nie hr begegnen, nie mehr ins Auge sehen, keinen Zeu-haben. keinen Ankläger und Mitwisser. Der Ge-nke riss die Ohnmacht in mir auf: ganz vorsichtig, mit den schleicherischen Bewegungen eines Diebes rückte ich Zoll um Zoll (nur um keinen Lärm zu ma­chen) aus dem Bette und tastete zu meinen Kleidern. Ganz vorsichtig zog ich mich an, jede Sekunde zitternd vor seinem Erwachen, und schon war ich fertig, schon war es gelungen. Nur mein Hut lag drüben auf der an­deren Seite zu Füßen des Bettes, und jetzt, wie ich auf den Zehen hintastete, ihn aufzuheben, — in dieser Sekunde konnte ich nicht anders: ich musste noch ei­nen Blick auf das Gesicht dieses fremden Menschen werten, der in mein Leben wie ein Stein vom Gesims gestürzt war. Nur einen bloßen Blick wollte ich hinwer­ten, aber... es war sonderbar, denn der fremde, junge Mann, der dort schlummernd lag — war wirklich ein fremder Mensch für mich: im ersten Augenblick er­kannte ich gar nicht das Gesicht von gestern. Denn wie weggelöscht waren die von Leidenschaft vorgetriebe­nen, krampfig aufgewühlten, gespannten Züge des töd­lich Aufgeregten — dieser da hatte ein anderes, ein ganz kindliches, ganz knabenhaftes Gesicht, das gera­dezu strahlte von Reinheit und Heiterkeit Die Lippen, gestern verbissen und zwischen die Zähne geklemmt, träumten weich auseinander gefallen und halb schon zu einem Lächeln gerundet; weich lockten sich die blonden Haare die faltenlose Stirn herab, und linden Wellenspiels ging ruhig der Atem von der Brust über den ruhenden Körper hin.

Sie können sich vielleicht entsinnen, dass ich Ihnen früher erzählte, ich härte noch nie so stark, in einem so verbrecherisch starken Unmaß den Ausdruck von Gier und Leidenschaft an einem Menschen beobach­tet wie bei diesem Fremden am Spieltisch. Und ich sage Ihnen, dass ich nie, selbst bei Kindern nicht die doch im Säuglingsschlaf manchmal einen engelhaften Schim­mer von Heiterkeit um sich haben, jemals einen sol­chen Ausdruck von reiner Helligkeit von wahrhaft se­ligem Schlummer gesehen habe. In diesem Gesicht formten sich eben mit einziger Plastik alle Gefühle her­aus, nun ein paradiesisches Entspanntsein von aller innerlichen Schwere, ein Gelöstsein, ein Gerettetsein. Bei diesem überraschenden Anblick fiel wie ein schwe­rer, schwarzer Mantel von mir alle Angst alles Grauen ab — ich schämte mich nicht mehr, nein, ich war bei­nahe froh. Das Furchtbare, das Unfassbare hatte plötz­lich für mich Sinn bekommen, ich freute mich, ich war stolz bei dem Gedanken, dass dieser junge, zarte, schö­ ne Mensch, der hier heiter und still wie eine Blume lag, ohne meine Hingabe zerschellt, blutig, mit einem zer­schmetterten Gesicht, leblos, mit krass aufgerissenen Augen irgendwo an einem Felsenhang aufgefunden worden wäre — ich hatte ihn gerettet, er war gerettet. Und ich sah nun — ich kann es nicht anders sagen — mit meinem mütterlichen Blick auf diesen Schlafenden hin, den ich noch einmal — schmerzvoller als meine eigenen Kinder — in das Leben zurückgeboren hatte. Und mitten in diesem verbrauchten, abgeschmutzten Zimmer, in diesem ekligen, schmierigen Gelegenheits­hotel überkam mich — mögen Sie es noch so lächerlich im Worte finden — ein Gefühl wie in einer Kirche, ein Beseligtsein von Wunder und Heiligung. Aus der furchtbarsten Sekunde eines ganzen Lebens wuchs mir schwesterhaft eine zweite, die erstaunlichste und über­wältigendste zu.

Hatte ich mich zu laut bewegt? Harte ich unwillkür­lich etwas gesprochen? Ich weiß es nicht. Aber plötz­lich schlug der Schlafende die Augen auf. Ich erschrak und fuhr zurück. Er sah erstaunt um sich — genau so wie früher ich selbst, so schien nun er aus ungeheurer Tiefe und Verworrenheit mühselig emporzusteigen. Sein Blick umwanderte angestrengt das fremde, unbekann­te Zimmer, dann fiel er staunend auf mich. Aber ehe er noch sprach oder sich ganz besinnen konnte, hatte ich mich gefasst. Nicht ihn zu Wort kommen lassen, kei­ne Frage, keine Vertraulichkeit gestatten, es durfte nichts erneuert werden, nichts erläutert, nichts besprochen werden von gestern und von dieser Nacht.

"Ich muss jetzt weggehen", bedeutete ich ihm rasch, "Sie bleiben hier zurück und ziehen sich an. Um zwölf Uhr treffe ich Sie dann am Eingang des Kasinos: dort werde ich für alles Weitere sorgen."