Файл: VIERUNDZWANZIG STUNDEN AUS DEM LEBEN EINER FRAU.doc

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ich muss wie versteinert dort gestanden haben, Gott weiß wie lange, denn der Lohndiener hatte mich wohl vergeblich mehrmals angesprochen, ehe er wag­te, meinen Arm zu berühren. Da erst schrak ich auf.

Ob er das Gepäck wieder in das Hotel zurückbringen sollte. Ich brauchte ein paar Minuten Zeit, mich zu be­sinnen; nein, das war nicht möglich, ich konnte nach jener lächerlichen, überstürzten Abreise nicht wieder zu­rück und wollte auch nicht zurück, nie mehr; so be­fahl ich ihm, ungeduldig, schon allein zu sein, das Gepäck im Depot zu verstauen. Danach erst, mitten in dem unablässig erneuten Gequirl von Menschen, das sich in der Halle lärmend zusammenschob und wieder zerkleinerte, versuchte ich zu denken, klar zu denken, mich herauszuretten aus diesem verzweifelten, schmerzenden Gewürge von Zorn, Reue und Verzweif­lung, denn — warum es nicht eingestehn? — der Ge­danke, durch eigene Schuld die letzte Begegnung ver­tan zu haben, wühlte in mir mit glühender Schärfe un­barmherzig herum. Ich hätte aufschreien können, so weh tat diese immer erbarmungsloser vordringende, rotgehitzte Schneide. Nur ganz leidenschaftsfremde Menschen haben ja in ihren einzigen Augenblicken vielleicht solche lawinenhaft plötzliche, solche orkani­sche Ausbrüche der Leidenschaft: da stürzen ganze Jahre mit dem stürzenden Groll nichtgenützter Kräfte die eigene Brust hinab. Nie vordem, nie nachdem hatte ich ähnliches an Überraschung und wütender Macht­losigkeit erlebt als in dieser Sekunde, da ich, zum Ver­wegensten bereit — bereit, mein ganzes gespartes, gehäuftes, zusammengehaltenes Leben mit einem Ruck hinzuwerfen —, plötzlich vor mir eine Mauer von Sinn­losigkeit fand, gegen die meine Leidenschaft ohnmäch­tig mit der Stime stieß.

Was ich dann tat, wie konnte es anders als gleich­falls ganz sinnlos sein; es war töricht, sogar dumm, fast schäme ich mich, es zu erzählen — aber ich habe mir, ich habe Ihnen versprochen, nichts zu verschweigen: nun, ich... ich suchte ihn mir wieder... das heißt, ich suchte mir jeden Augenblick zurück, den ich mit ihm verbracht... es zog mich gewaltsam hin zu allen Orten, wo wir gemeinsam gestern gewesen, zu der Bank im Garten, von der ich ihn weggerissen, in den Spielsaal. wo ich ihn zum erstenmal gesehen, ja in jene Spelun­ke sogar, nur um noch einmal, noch einmal das Ver­gangene wieder zu erleben. Und morgen wollte ich dann im Wagen die Comiche entlang den gleichen Weg. damit jedes Wort, jede Geste noch einmal in mir erneuert sei — ja, so sinnlos, so kindisch war meine Verwirrung. Aber bedenken Sie, wie blitzhaft jene Ge­schehnisse mich überstürmten — ich hatte kaum an­deres gefühlt als einen einzigen betäubenden Schlag. Nun aber, zu rau aus jenem Tumult erweckt wollte ich mich auf dies hinfliehend Erlebte noch einmal Zug um Zug nachgenießend besinnen dank jenes magischen Selbstbetrugs, den wir Erinnerung nennen — freilich: Das sind Dinge, die man begreift oder nicht begreift. Vielleicht braucht man ein brennendes Herz, um sie zu verstehen.

So ging ich zunächst in den Spielsaal. den Tisch zu suchen, wo er gesessen, und dort unter all den Hän­den die seinen mir zu erdenken. Ich trat ein: es war, ich wusste es noch, der linke Tisch gewesen im zwei­ten Zimmer, wo ich ihn zuerst erblickt. Noch deutlich stand jede setner Gesten vor min traumwandlerisch, mit geschlossenen Augen und vorgestreckten Händen hät­te ich seinen Platz gefunden. Ich trat also ein, ging gleich quer durch den Saal. Und da... wie ich von der Tür

aus den Blick gegen das Gewühl wandte... da geschah mir etwas Sonderbares... da saß genau an der Stelle, an die ich mir ihn hingeträumt, da saß — Halluzina­tionen des Rebers! —... er wirklich... Er... Er... genau so. wie ich ihn eben träumend gesehen... genau so wie tern, stier die Augen auf die Kugel gerichtet, geister­haft bleich... aber Er... Er... unverkennbar Er...

Mir war, als müsste ich aufschreien, so erschrak ich. Aber ich bezähmte meinen Schrecken vor dieser un­sinnigen Vision und schloss die Augen. "Du bist wahn­sinnig... du träumst... du fieberst", sagte ich mir. "Es ist ja unmöglich, du halluzinierst. Er ist vor einer hal­ben Stunde von hier weggefahren." Dann erst tat ich die Augen wieder auf. Aber entsetzlich: genau so wie vordem saß er dort, leibhaft unverkennbar... unter Millionen hätte ich diese Hände erkannt., nein, ich träumte nicht, er war es wirklich. Er war nicht wegge­fahren, wie er mir geschworen, der Wahnwitzige saß da. er hatte das Geld, das ich ihm zur Heimreise ge­geben, hierhergetragen an den grünen Tisch und voll­kommen selbstvergessen in seiner Leidenschaft hier gespielt, indes ich verzweifelt mir das Herz nach ihm ausgerungen.

Ein Ruck stieß mich vorwärts: Wut überschwemm­te mir die Augen, rasende, rotblickende Wut, den Eid­brüchigen, der mein Vertrauen, mein Gefühl, meine Hingabe so schändlich betrogen hatte, an der Gurgel zu fassen. Aber ich bezwang mich noch. Mit gewollter Langsamkeit (wieviel Kraft kostete sie mich!) trat ich an den Tisch gerade ihm gegenüber, ein Herr machte mir höflich Platz. Zwei Meter grünes Tuch standen zwischen uns beiden, und ich konnte, wie von einem Baikon herab in ein Schauspiel, hinstarren in sein Gesicht, in


eben dasselbe Gesicht, das ich vor zwei Stunden über­strahlt gesehen hatte von Dankbarkeit, erleuchtet von der Aura der göttlichen Gnade, und das nun wieder ganz in allen Hollenfeuern der Leidenschaft zuckend verging. Die Hände, dieselben Hände, die ich noch nachmittags im heiligsten Eid an das Holz des Kirchen­gestühls verklammert gesehen, sie krallten jetzt wieder gekrümmt im Geld herum wie wollüstige Vampire. Denn er hatte gewonnen, er musste, viel, sehr viel ge­wonnen haben: vor ihm glitzerte ein wirrer Haufen Je-tons und Louisdors und Banknoten, ein schütteres, achtloses Durcheinander, in dem die Finger, seine zit­ternden, nervösen Finger, sich wohlig streckten und badeten. Ich sah, wie sie streichelnd die einzelnen No­ten festhielten und falteten, die Münzen drehten und liebkosten, um dann plötzlich mit einem Ruck eine Faustvoll zu fassen und mitten auf eines der Karrees zu werfen. Und sofort begannen die Nasenflügel jetzt wie­der diese fliegenden Zuckungen, der Ruf des Crouplers riss Ihm die Augen, die gierig flackernden, vom Gelde weg hin zu der splitternden Kugel, er strömte gleichsam von sich selber fort, indes die Ellenbogen dem grünen Tisch mit Nägeln angehämmert schienen. Noch furcht­barer, noch grauenhafter offenbarte sich sein vollkom­menes Besessensein als am vergangenen Abend, denn jede seiner Bewegungen mordete in mir jenes andere wie auf Goldgrund leuchtende Bild, das ich leichtgläu­big nach innen genommen.

Zwei Meter weit voneinander atmeten wir so bei­de, ich starrte auf ihn, ohne dass er meiner gewahr wurde. Er sah nicht auf mich, er sah niemanden; sein

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Blick glitt nur hin zu dem Geld, flackerte unstet mit der zurückrollenden Kugel: in diesem einen rasenden grü­nen Kreise waren alle seine Sinne eingeschlossen und hetzten hin und zurück. Die ganze Welt, die ganze Menschheit war diesem Spielsüchtigen zusammenge­schmolzen in diesen viereckigen Fleck gespannten Tu­ches. Und Ich wusste, dass ich hier Stunden und Stun­den stehen konnte, ohne dass er eine Ahnung meiner Gegenwart in seine Sinne nehmen würde.

Aber ich ertrug es nicht länger. Mit einem plötzlichen Entschluss ging ich um den Tisch, trat hinter ihn und fasste hart mit der Hand seine Schulter. Sein Blick tau­melte auf — eine Sekunde starrte er mit glasigen Aug­äpfeln mich fremd an, genau einem Trunkenen gleich, den man mühsam aus dem Schlaf rüttelt und dessen Blicke noch grau und dösig vom inneren Qualme däm­mern. Dann schien er mich zu erkennen, sein Mund tat sich zitternd auf, beglückt sah er zu mir empor und stammelte leise mit einer wirr-geheimnisvollen Vertrau­lichkeit:

"Es geht gut... Ich habe es gleich gewusst, als ich hereinkam und sah, dass Er hier ist.. Ich habe es gleich

gewusst.., " Ich verstand ihn nicht. Ich merkte nur, dass er betrunken war vom Spiel, dass dieser Wahnwitzige alles vergessen hatte, sein Gelöbnis, seine Verabredung, mich und die Welt. Aber selbst in dieser Besessenheit

war seine Ekstase für mich so hinreißend, dass ich un­willkürlich seiner Rede mich unterwarf und betroffen fragte, wer denn hier sei.

"Dort, der alte russische General mit dem einen Arm", flüsterte er, ganz an mich gedrückt damit nie­mand das magische Geheimnis erlausche. "Dort, der mit den weißen Kotelettes und dem Diener hinter sich. Er gewinnt immer, ich habe ihn schon gestern beo­bachtet, er muss ein System haben, und ich setze im­mer das Gleiche... Auch gestern hat er immer gewon­nen... nur habe ich den Fehler gemacht, weiterzuspie­len, als er wegging... das war mein Fehler... er muss gestern zwanzigtausend Franken gewonnen haben... und auch heute gewinnt er mit jedem Zug... jetzt setze ich ihm immer nach... Jetzt..."

Mitten in der Rede brach er plötzlich ab, denn der Croupier rief sein schnarrendes "Faites votre jeu!" und schon taumelte sein Blick fort und gierte hin zu dem Platz, wo gravitätisch und gelassen der weißbärtige Russe saß und bedächtig erst ein Goldstück, dann zö­gernd ein zweites auf das vierte Feld hinlegte. Sofort griffen die hitzigen Hände vor mir in den Haufen und warfen eine Handvoll Goldstücke auf die gleiche Stei­le. Und als nach einer Minute der Croupier "Zero!" rief und sein Rechen mit einer einzigen Drehung den gan­zen Tisch blankfegte, starrte er wie einem Wunder dem wegströmenden Gelde nach. Aber meinen Sie, er hät­te sich nach mir umgewendet: Nein, er hatte mich voll­kommen vergessen; ich war herausgesunken, verloren, vergangen aus seinem Leben, seine ganzen angespann­ten Sinne starrten nur hin zu dem russischen General, der, vollkommen gleichgültig, wieder zwei Goldstücke in der Hand wog, unschlüssig, auf welche Zahl er sie platzieren sollte.

Ich kann Ihnen meine Erbitterung, meine Verzweif­lung nicht schildern. Aber denken Sie sich mein Gefühl: für einen Menschen, dem man sein ganzes Leben hin­geworfen hat, nicht mehr als eine Riege zu sein, die man lässig mit der lockeren Hand wegscheucht. Wie­der kam diese Welle von Wut über mich. Mit vollem


Griff packte ich seinen Arm, dass er auffuhr.

"Sie werden sofort aufstehen!" flüsterte ich ihm lei­se, aber befehlend zu. "Erinnern Sie sich, was Sie heute in der Kirche geschworen, Sie eidbrüchiger, eroärmli­cher Mensch."

Er starrte mich an, betroffen und ganz blass. Seine Augen bekamen plötzlich den Ausdruck eines geschla­genen Hundes, seine Lippen zitterten. Er schien sich mit einem Mal alles Vergangene zu erinnern, und ein Grau­en vor sich selbst ihn zu überkommen.

"Ja... ja...", stammelte er. "0 mein Gott, mein Gott... Ja... ich komme schon, verzeihen Sie..."

Und schon raffte seine Hand das ganze Geld zusam­men, schnell zuerst, mit einem zusammenreißenden, vehementen Ruck, aber dann allmählich träger wer­dend und wie von einer Gegenkraft zurückgeströmt. Sein Blick war neuerdings auf den russischen General gefallen, der eben pointierte.

"Einen Augenblick noch..." er warf rasch fünf Gold­stücke auf das gleiche Feld... "Nur noch dieses eine Spiel... Ich schwöre Ihnen, ich komme sofort... nur noch dieses eine Spiel... nur noch..."

Und wieder verlosch seine Stimme. Die Kugel hat­te zu rollen begonnen und riss ihn mit sich. Wieder war der Besessene mir, war er sich selber entglitten, hinab­geschleudert mit dem Kreisel in die glatte Mulde, inner­halb derer die winzige Kugel kollerte und sprang. Wie­der rief der Croupier, wieder scharrte der Rechen die fünf Goldstücke von ihm weg; er hatte verloren. Aber er wandte sich nicht um. Er hatte mich vergessen, wie den Fid, wie das Wort, das er mir vor einer Minute gegeben. Schon wieder zuckte seine gierige Hand nach dem eingeschmolzenen Gelde. und nur zu dem Magnet seines Willens, zu dem glückbringenden Gegenüber hin, flackerte sein betrunkener Blick.

Meine Geduld war zu Ende. Ich rüttelte ihn noch­mals, aber jetzt gewaltsam. "Auf der Stelle stehen Sie jetzt auf! Sofort!... Sie haben gesagt, dieses Spiel noch..."

Aber da geschah etwas Unerwartetes. Er riss sich plötzlich herum, doch das Gesicht, das mich ansah, war nicht mehr das eines Demütigen und Verwirrten, son­dern eines Rasenden, eines Bündels Zorn mit brennen­den Augen und vor Wut zitternden Lippen. "Lassen Sie mich in Ruhe!" fauchte er mich an. "Gehen Sie weg! Sie bringen mir Unglück. Immer, wenn Sie da sind, vertiere ich. So haben Sie es gestern gemacht und heute wieder. Gehen Sie fort!"

Ich war einen Augenblick starr. Aber an seiner Toll­heit wurde nun auch mein Zorn zügellos.

"Ich bringe Ihnen Unglück?" fuhr ich ihn an, "Sie Lügner, Sie Dieb, der Sie mir geschworen haben..." Doch ich kam nicht weiter, denn der Besessene sprang von seinem Platze auf, stieß mich, gleichgültig gegen den sich regenden Tumult, zurück. "Lassen Sie mich in Frieden", schrie er hemmungslos laut. "Ich stehe nicht unter Ihrer Kuratel... da... da... da haben Sie Ihr Geld," und er warf mir ein paar Hundertfrankenscheine hin. "Jetzt aber lassen Sie mich in Ruhe!"

Ganz laut, wie ein Besessener hatte er das gerufen, gleichgültig gegen die hundert Menschen ringsum. Al­les starrte, zischelte, deutete, lachte, ja vom Nachbarsaal selbst drängten neugierige Leute herein. Mir war, als würden mir die Kleider vom Leibe gerissen und ich stünde nackt vor allen diesen Neugierigen... "Silence, Madame, s'il vous plait!" sagte laut und herrisch der Croupier und klopfte mit dem Rechen auf den Tisch. Mir galt das, mir, das Wort dieses erbärmlichen Gesel­len. Erniedrigt, von Scham übergössen, stand ich vor der zischelnd aufflüsternden Neugier wie eine Dirne, der man Geld hingeschmissen hat. Zweihundert, drei­hundert unverschämte Augen griffen mir ins Gesicht, und da... wie ich ausweichend, ganz geduckt vor die­ser Jauche von Erniedrigung und Scham mit dem Blick zur Seite bog, da stieß er gradwegs in zwei Augen, gleichsam schneidend vor Überraschung — es war meine Cousine, die mich entgeistert anblickte, aufge­gangenen Mundes und mit einer wie im Schreck er­hobenen Hand.

Das schlug in mich hinein: noch ehe sie sich regen konnte, sich erholen von ihrer Überraschung, stürmte ich aus dem Saale; es trug mich gerade noch hin Ыв zu der Bank, zu eben derselben Bank, auf die gestern jener Besessene hingestürzt war. Und ebenso kraftlos, ebenso ausgeschöpft und zerschmettert fiel ich hin auf das harte, unbarmherzige Holz. —

Das ist jetzt vierundzwanzig Jahre her, und doch, wenn ich an diesen Augenblick, wo ich dort, niederge­peitscht von seinem Hohn, vor tausend fremden Men­schen stand, mich erinnere, wird mir das Blut kalt in den Adern. Und ich spüre wieder erschrocken, eine wie schwache, armselige und quallige Substanz das doch sein muss, was wir immer großspurig Seele, Geist, Ge­fühl, was wir Schmerzen nennen, da all dies selbst im äußersten Übermaß nicht vermag, den leidenden Leib, den zerquälten Körper völlig zu zersprengen — weil man ja doch solche Stunden mit weiterpochendem Blut überdauert, statt hinzusterben und hinzustürzen wie ein Baum unterm Blitz. Nur für einen Ruck, für einen Au­genblick hatte dieser Schmerz mir die Gelenke durch­gerissen, dass ich hinfiel auf jene Bank, atemlos, stumpf und mit meinem geradezu wollüstigen Vorgefühl des Absterbenmüssens. Aber ich sagte es eben, aller Schmerz ist feige, er zuckt zurück vor der übermächti­gen Forderung, nach Leben, die stärker in unserem Fleisch verhaftet scheint als alle Todesleidenschaft in unserem Geiste. Unerklärlich mir selbst nach solcher Zerschmetterung der Gefühle: aber doch, ich stand wieder auf, nicht wissend freilich, was zu tun. Und plötz­lich fiel mir ein, dass ja meine Koffer am Bahnhof be­reitstanden, und schon jagte es durch mich hin: fort, fort, fort, nur fort von hier, von diesem verfluchten Höllenhaus. Ich lief ohne auf jemand achtzugeben an die Bahn, fragte, wann der nächste Zug nach Paris gin­ge; um zehn Uhr sagte mir der Portier, und sofort ließ ich mein Gepäck aufgeben. Zehn Uhr — dann waren genau vierundzwanzig Stunden vorbei seit jener entsetz­lichen Begegnung, vierundzwanzig Stunden, so gefüllt vom wechselnden Wetterschlag der widersinnigsten Ge­fühle, dass meine innere Welt für immer zerschmettert war. Aber zunächst spürte ich nichts als ein Wort in diesem ewig hämmernden, zuckenden Rhythmus: fort! fort! fort! Mein Puls hinter der Stirn schlug wie ein Keil es immer wieder in die Schläfen hinein: fort! fort! fort! Fort von dieser Stadt, fort von mir selbst, nach Hause, zu meinen Menschen, zu meinem früheren, zu meinem


eigenen Leben! Ich fuhr die Nacht durch nach Paris, dort von einem Bahnhof zum andern und direkt nach Boulogne, von Boulogne nach Dover, von Dover nach London, von London zu meinem Sohn — alles in die­sem einzigen jagenden Flug, ohne zu überlegen, ohne zu denken, achtundvierzig Stunden, ohne Schlaf, ohne Wort, ohne Essen, achtundvierzig Stunden, während derer alle Räder nur dieses eine Wort ratterten: fort! fort! fort! fort! Als ich endlich, unerwartet für jeden einzel­nen, bei meinem Sohn im Landhaus eintrat, schraken sie alle auf: irgend etwas muss in meinem Wesen, in meinem Blick gestanden haben, das mich verriet. Mein Sohn wollte mich umarmen und küssen. Ich bog mich zurück: der Gedanke war mir unerträglich, dass er Lip­pen berühren sollte, die ich als geschändet empfand. Ich wehrte jeder Frage, verlangte nur ein Bad, denn dies war mir Bedürfnis, mit dem Schmutz der Reise auch alles andere von meinem Körper wegzuwaschen, was noch von der Leidenschaft dieses Besessenen, dieses Unwürdigen ihm anzuhaften schien. Dann schleppte ich mich hinauf in mein Zimmer und schlief zwölf, vierzehn Stunden einen dumpfen, steinernen Schlaf, wie ich ihn nie zuvor und nie seitdem geschlafen habe, einen Schlaf, nach dem ich nun weiß, wie das sein muss, in einem Sarg zu liegen und tot zu sein. Meine Verwand­ten kümmerten sich um mich wie um eine Kranke, aber ihre Zärtlichkeit tat mir nur weh, ich schämte mich ih­rer Ehrfurcht, ihres Respekts, und unablässig musste ich mich hüten, nicht plötzlich herauszuschreien, wie sehr ich sie alle verraten, vergessen und schon verlassen hatte um einer tollen und wahnwitzigen Leidenschaft willen folgte des Wahn, jeder Mensch könne mir von außen beert ersten Back mesne Schande, meine Veränderung


Angst, die Augen ш offnen Wieder überfiel mich das Erinnern an diese Nacht wo ich plötzlich neben einem fremden. halbnackten Menschen erwachte, und dann hatte ick immer nor. ganz wie damals, den einen

Aber schließlich, die Zeit hat doch tiefe Macht und das Aber eine sondeAaie. entwertende Gewalt über alle СеШе. Мал spürt den Tod naher herankommen, sein Schatten fäfit schwarz über den Weg. da scheinen die Dinge weniger grell, sie fahren einem nicht mehr so in cbe inneren Sinne und verlieren viel von ihrer gefährli­chen Gewah. Aflrnählich kam ich über den Schock hin-«*ф und ab ich nach langen Jahren einmal in einer Cestii chat! dem Attache der österreichischen Gesanch-schaft begegnete, einem jungen Fbien. und er mir auf meine Erkundung nach jener Familie erzählte, dass ein Sohn dieses seines Vetters sich vor zehn Jahren in Monte Carlo erschossen habe — da ertene ich nicht einmal mehr Es tat kaum mehr weh: vielleicht — war­um meinen Egoismus verleugnen? — tat es mir sogar wohl denn nun war die letzte Furcht vorbei, noch je­mals ihm zu begegnen, ich hatte keinen Zeugen mehr wider mich ah die eigene Erinnerung Seitdem bin ich ruhiger geworden. AJtwerden heißt ja nichts anderes.

Und jetzt werden Sie es auch verstehen, wie ich plötzlich dazu kam, mit Ihnen über mein eigenes Schicksal zu sprechen. Ak Sie Madame Henriette ver­teidigten und teidenschafdich sagten, vienindzuanzjg Stunden könnten das Schicksal einer Frau vollkommen bestimmen, fühlte ich mich selbst damit gemeint ich war Ihnen dankbar, weil ich zum erstenmal nach gleich­sam bestätig: fühlte. Und da dachte ich min einmal sich?

Bann und die ewig hi




wälzt hegt mit seiner ganzen Wucht über aller Ver­gangenheit und verhütet dass säe noch einmal aufer­steht Es war gut für mich, dass ich Ihnen all dies er­zählen konnte: mir ist jetzt leichter und beinahe froh

zumute... ich danke Ihnen dafür.»


ich fühlte, dass sie zu Ende war Etwas verlegen suchte ich nach einem Wort Aber sie musste meine Berüh­rung gefühh haben und wehrte rasch ab

«Nein, bitte, sprechen Sie nicht... ich mochte nicht dass Sie mir etwas antworten oder sagen... Seien Sie bedankt dass Sie mir zugehört haben, und reisen Sie wohl.»

Sie stand mir gegenüber und reichte mir die Hand zum Abschied. Unwillkürlich sah ich auf zu ihrem Ge­sicht und es schien mir rührend wunderbar, das Ant­litz dieser ahen Frau, die gütig und gleichzeitig leicht

beschämt vor mir stand. War es der Widerschein ver­gangener Leidenschaft, war es Verwirrung, die da plötz­lich mit aufsteigendem Rot die Wangen bis zum weißen Haar empor unruhig überglühte — aber ganz wie ein Mädchen stand sie da, bräutlich verwirrt von Erinne­rungen und beschämt von dem eigenen Geständnis. Unwiliküriich ergriffen, drängte es mich sehr, ihr durch ein Wort meine Ehrfurcht zu bezeugen. Doch die Keh­le wurde mir eng. Und da beugte ich mich nieder und küsste respektvoll ihre welke, wie Herbstlaub leicht zitternde Hand.