Файл: VIERUNDZWANZIG STUNDEN AUS DEM LEBEN EINER FRAU.doc

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Also, ich sagte ja schon, dass ich Ihnen nur einen einzigen Tag aus meinem Leben erzählen möchte — alles übrige scheint mir bedeutungslos und für jeden andern langweilig. Was bis zu meinem zweiundvierzig-sten Jahre geschah, geht mit keinem Schritt über das Gewöhnliche hinaus. Meine Ertem waren reiche Land­lords in Schottland, wir besaßen große Fabriken und Pachten und lebten nach landesüblicher Adelsart den größten Teil des Jahres auf unseren Gütern, während der Season in London. Mit achtzehn Jahren lernte ich in einer Gesellschaft meinen Mann kennen, er war der zweite Sohn aus der bekannten Familie der R... und hatte zehn Jahre in Indien bei der Armee gedient Wir heirateten rasch und führten das sorglose Leben un­serer Gesellschaftskreise, ein Vierteljahr in London, ein Vierteljahr auf unseren Gütern, die übrige Zeit hotel­abstreifend in Italien, Spanien und Frankreich. Nie hat der leiseste Schatten unsere Ehe getrübt die beiden Söhne, die uns geboren wurden, sind heute schon er­wachsen. Als ich vierzig Jahre alt war, starb plötzlich mein Mann. Er hatte sich von seinen Tropenjahren ein Leberleiden mitgebracht ich verlor ihn innerhalb zwei­er entsetzlicher Wochen. Mein älterer Sohn war damals schon im Dienst, der jüngere im College — so stand ich über Nacht vollkommen im Leeren, und dieses Al­lansein war mir, die ich zärtliche Gemeinschaft ge­wohnt war, fürchterliche Qual. In dem verlassenen Hause, das mit jedem Gegenstand mich an den tragi­ schen Verlust meines geliebten Mannes erinnerte, auch

nur noch einen Tag länger zu bleiben, schien mir un­möglich: so entschloss ich mich, die nächsten Jahre, solange meine Söhne nicht verheiratet waren, viel auf Reisen zu gehen.

Im Grunde betrachtete ich mein Leben von diesem Augenblick an als vollkommen sinnlos und unnütz. Der

Mann, mit dem ich durch dreiundzwanzig Jahre jede Stunde und jeden Gedanken geteilt hatte, war tot,

meine Kinder brauchten mich nicht, ich fürchtete, ihre Jugend zu verstören mit meiner Verdüsterung und Melancholie — für mich selbst aber wollte ich und be­gehrte ich nichts mehr. Ich übersiedelte zunächst nach Paris, ging dort aus Langeweile in die Geschäfte und Museen; aber die Stadt und die Dinge standen fremd um mich herum, und Menschen wich ich aus, weil ich ihre höflich bedauernden Blicke auf meine Trauerklei­der nicht vertrug. Wie diese Monate stumpfen blicklo­sen Zigeunerns vergangen sind, wüsste ich nicht mehr zu erzählen: ich weiß nur, ich hatte immer den Wunsch zu sterben, nur nicht die Kraft, selbst dies schmerzlich Ersehnte zu beschleunigen.

Im zweiten Trauerjahr, also im zweiundvierzigsten meines Lebens, war ich auf dieser uneingestandenen Flucht vor einer wertlos gewordenen und nicht zu er­drückenden Zeit im Letzten Märzmonat nach Monte Carlo geraten. Aufrichtig gesagt: es geschah aus Lan­geweile, aus jener peinigenden, wie eine Übelkeit auf­quellenden Leere des Innern, die sich wenigstens mit kleinen äußern Reizmitteln füttern will. Je weniger in mir selbst sich gefühlshaft regte, um so stärker drängte michs hin, wo der Lebenskreisel sich am geschwinde­sten dreht: für den Erlebnislosen ist ja leidenschaftliche Unruhe der andern noch ein Nervenerlebnis wie Schau­spiel oder Musik.

Darum ging ich auch öfters ins Kasino. Es reizte mich, auf den Gesichtern anderer Menschen Beglückung oder Bestürzung unruhig hin und her wogen zu sehen, indes in mir selbst diese entsetzliche Ebbe lag. Zudem war mein Mann, ohne leichtfertig zu sein, gern gelegent­lich Gast des Spielsaales gewesen, und ich lebte mit einer gewissen unabsichtlichen Pietät alle seine frühe­ren Gewohnheiten getreulich weiter. Und dort began­nen jene vierundzwanzig Stunden, die erregender wa­ren als alles Spiel und mein Schicksal auf Jahre hinaus verstörten.

Zu Mittag hatte ich mit der Herzogin von M., einer Verwandten meiner Familie, diniert, nach dem Souper fühlte ich mich noch nicht müde genug, um schlafen zu gehen. So trat ich in den Spielsaal, schlenderte, ohne selbst zu spielen, zwischen den Tischen hin und her und sah mir die zusammengemengte Partnerschaft in besonderer Weise an. Ich sage: in besonderer Wei­se, auf eine nämlich, die mich mein verstorbener Mann einmal gelehrt hatte, als ich, des Zuschauens müde, klagte, es sei mir langweilig, immer dieselben Gesich­ter anzugaffen, die alten verhutzelten Frauen, die da stundenlang sitzen auf ihren Sesseln, ehe sie ein Jeton wagen, die abgefeimten Professionals und Kartenspiel­kokotten, jene ganze fragwürdige, zusammengeschneite Gesellschaft, die, Sie wissen ja, bedeutend weniger pit­toresk und romantisch ist, als sie in den elenden Ro­manen immer gemalt wird, gleichsam als fleur d'élé-gance und Aristokratie Europas. Und dabei war ja das Kasino vor zwanzig Jahren, als noch bares, sinnlich sichtbares Geld umrollte, die knisternden Noten, die goldenen Napoleons, die patzigen Fünffrankenstücke durcheinanderwirbelten, unendlich anziehender als heute, da in der modisch neugebauten pomphaften Spielburg ein verbürgertes Cook-Reisepublikum seine charakterlosen Spielmarken langweilig verpulvert Doch schon damals fand ich zu wenig Reiz an diesem Einerlei gleichgültiger Gesichter, bis mir dann einmal mein Mann, dessen private Leidenschaft die Chiromantie, die Händedeutung, war, eine ganz besondere Art des Zusehens zeigte, in der Tat viel interessanter, viel auf­regender und spannender als das lässige Herumstehen, nämlich: niemals auf ein Gesicht zu sehen, sondern ein­zig auf das Viereck des Tisches und dort wieder nur auf die Hände der Menschen, nur auf ihr besonderes Benehmen. Ich weiß nicht, ob Sie zufälligerweise ein­mal selbst bloß die grünen Tische ins Auge gefasst ha­ben, nur das grüne Karree allein, wo in der Mitte die Kugel wie ein Betrunkener von Zahl zu Zahl taumelt und innerhalb der viereckig abgegrenzten Felder wir­belnde Fetzen von Papier, runde Stücke Silber und Gold hinfallen wie eine Saat, die dann der Rechen des Croupiers sensenscharf mit einem Riss wegmäht oder als Garbe dem Gewinner zuschaufelt Das einzig Wan­delhafte werden bei einer solchen perspektivischen Ein­stellung dann die Hände — die vielen hellen, beweg­ten, wartenden Hände rings um den grünen Tisch, alle aus der immer andern Höhle eines Armeis vorlugend, jede ein Raubtier, zum Sprung bereit, jede anders ge­formt und gefärbt, manche nackt, andere mit Ringen und klirrenden Ketten aufgezäumt, manche behaart wie


wilde Tiere, manche feucht und aalhaft gekrümmt alle aber angespannt und vibrierend von einer ungeheuren Ungeduld. Unwillkürlich musste ich dann immer an ei­nen Rennplatz denken, wo im Start die aufgeregten Pferde mit Mühe zurückgehalten werden, damit sie nicht vorzeitig losprellen: genau so zittern und heben und bäumen sie Sich. Alles erkennt man an diesen Händen, an der Art wie sie warten, wie sie greifen und stocken; den Habsüchtigen an der krallenden, den Verschwender an der lockeren Hand, den Berech­nenden am ruhigen, den Verzweifelten am zitternden Gelenk; hundert Charaktere verraten sich blitzhaft schnell in der Geste des Geldanfassens, ob einer es knüllt oder nervös krümelt oder erschöpft, mit müden Handballen, während des Umlaufs liegen lässt. Der Mensch verrät sich im Spiele, ein Dutzendwort, ich weiß; ich aber sage: noch deutlicher verrät ihn wäh­rend des Spieles seine eigene Hand. Denn alle oder fast alle Hasardeure haben bald gelernt, ihr Gesicht zu bezähmen — oben, über dem Hemdkragen, tragen sie die kalte Maske der impassibilité —, sie zwingen die Balten um den Mund herab und stoßen ihre Erregung unter die verbissenen Zähne, sie verweigern ihren ei­genen Augen die sichtliche Unruhe, sie glätten die auf­springenden Muskeln des Gesichtes zu einer künstli­chen, auf vornehm hin stilisierten Gleichgültigkeit. Aber gerade, weil alle ihre Aufmerksamkeit sich krampfig konzentriert, ihr Gesicht als das Sichtbarste ihres We­sens zu bemeistem, vergessen sie ihre Hände und ver­gessen, dass es Menschen gibt, die nur diese Hände beobachten und von ihnen alles erraten, was oben die lächelnd gekräuselte Lippe, die absichtlich indifferen­ten Bücke verschweigen wollen. Aber die Hand tut in­des ihr Geheimstes ganz schamlos auf. Denn ein Au­genblick kommt unweigerlich, der alle diese mühsam beherrschten, scheinbar schlafenden Finger aus ihrer

vornehmen Nachlässigkeit aufreißt: in der prallen Se­kunde, da die Roulettekugel in ihr kleines Becken fällt und die Gewinstzahl aufgerufen wird, da, in dieser Se­kunde macht jede dieser hundert oder fünfhundert Hände unwillkürlich eine ganz persönliche, ganz indi­viduelle Bewegung urtümlichen Instinkts. Und wenn man, wie ich, durch jene Liebhaberei meines Gatten besonders belehrt, diese Arena der Hände zu beobach­ten gewohnt ist, wirkt der immer andre, immer uner­wartete Ausbruch der immer andersartigen Tempera­mente aufregender als Theater oder Musik: ich kann es Ihnen gar nicht schildern, wieviel tausend Spielar­ten von Händen es gibt, wilde Bestien mit haarigen, gekrümmten Fingern, die spinnenhaft das Geld einkral­len, und nervöse, zittrige, mit blassen Nägeln, die es kaum anzufassen wagen, noble und niedrige, brutale und schüchterne, listige und gleichsam stammelnde — aber jede wirkt anders, denn jedes dieser Händepaare drückt ein besonderes Leben aus, mit Ausnahme je­ner vier oder fünf der Croupiers. Die sind ganz Maschi­nen, sie funktionieren mit ihrer sachlichen, geschäftli­chen, völlig unbeteiligten Präzision gegenüber den ge­steigert lebendigen wie die stählern klappernden Schließen eines Zählapparats. Aber selbst diese nüchternen Hände wirken wiederum erstaunlich durch ihren Gegensatz zwischen ihren jagdhaften und leiden­schaftlichen Brüdern: sie stehen, möchte ich sagen, anders uniformiert, wie Polizisten Inmitten eines wo­genden und begeisterten Volksaufruhrs. Dazu kommt noch der persönliche Anreiz, nach einigen Tagen mit den vielen Gewohnheiten und Leidenschaften einzel­ner Hände bereits vertraut zu sein; nach ein paar Ta­gen hatte ich immer schon Bekannte unter ihnen und teilte sie ganz wie Menschen in sympathische und feindselige ein: manche waren mir so widerlich in ih­rer Unart und Gier, dass ich immer den Blick von ih­nen wegwandte wie von einer Unanständigkeit Jede neue Hand am Tisch aber war mir Erlebnis und Neu­gier: oft vergaß ich, das Gesicht darüber anzusehen, das, hoch oben in einen Kragen geschnürt, als kalte gesellschaftliche Maske über einem Smokinghemd oder einem leuchtenden Busen unbewegt aufgepflanzt stand.

Als ich nun an jenem Abend eintrat, an zwei über-fülJten Tischen vorbei zu dem dritten hin, und einige Goldstücke schon vorbereitete, hörte ich überrascht in jener ganz wortlosen, ganz gespannten, vom Schwei­gen gleichsam dröhnenden Pause, die immer eintritt, wenn die Kugel, schon selbst tödlich ermattet, nur noch zwischen zwei Nummern hintorkelt, da hörte ich also ein ganz sonderbares Geräusch gerade gegenüber, ein Krachen und Knacken, wie von brechenden Gelenken. Unwillkürlich staunte ich hinüber. Und da sah ich — wirklich, ich erschrak! — zwei Hände, wie ich sie noch nie gesehen, eine rechte und eine linke, die wie ver­bissene Tiere ineinandergekrampft waren und in so auf­gebäumter Spannung sich ineinander und gegeneinan­der dehnten und krallten, dass die Fingergelenke krach­ten mit jenem trockenen Ton einer aufgeknackten Nuss. Es waren Hände von ganz seltener Schönheit, unge wóhnbch lang. цпдашЬпВсЬ schmal, und doch von Muskeln straff durchspannt —- sehr weiß und die Nä­gel an ihren Spitsen blass, mit zart gerundeten peitmut-temen Schaufeln Ich habe sia den ganzen Abend dann noch angesehen —ja angestaunt, diese außerordent­lichen, geradewegs einzigen Hände — was mich aber mnachst so schreckhaft überraschte, war ihre Leiden­schaft Äw siwruig passionierter Ausdruck, dies kramp-r кплтчЧтпорг1 und Sirhoeoenseitiohalten Hier


idbs, seine Leidenschaft in dfe Fingerspitzen zusammen, um rächt selbst von ihr auseinandergesprengt zu wer­den. Und jetzt., in der Sekunde; da die Kugel mit tro­ckenem dürrem Ton in die Schüssel fiel und der Crou­pier die Zahl ausrief... in dieser Sekunde fielen plötz­lich die beiden Hände auseinander wie zwei Tiere, die eine einzige Kugel durchschossen. Sie fielen nieder, alle beide, wirklich tot und nicht nur erschöpft, sie fielen nie­der mit einem so plastischen Ausdruck von Schlaffheit von Enttäuschung, von Blitgetroffenheit von Zuendes-ein. wie ich ihn nicht mil Worten ausdrücken kann. Denn noch nie und seitdem niemals mehr habe ich so sprechende Hände gesehen wo jeder Muskel ein Mund war und die Leidenschaft fühlbar fast aus den Poren brach. Einen Augenblick lang lagen sie beide dann auf dem grünen Tisch wie ausgeworfene Quallen am Was­serrand, flach und tot Dann begann die eine, die rech­te, mühsam wieder sich von den Fingerspitzen her auf­zurichten, sie zitterte, zog sich zurück, rotierte um sich selbst, schwankte, kreiselte und griff plötzlich nervös nach einem Jeton, das sie zwischen der Spitze des Daumens und des zweiten Fingers unschlüssig rollte wie ein kleines Rad. Und plötdich beugte sie sich mit ei­nem Katzenbuckel pantherhaft auf und schnellte ja spie geradezu das Hurvdertfrancsjeton mitten auf das schwar­te Feld. Sofort bemächtigte sich, wie auf ein Signal hin. Erregung auch der untätig schlafenden linken Hand; sie stand auf. schlich, ja kroch heran zu der nrtemden, vom Wurfe gleichsam ermüdeten Bruderhand, und beide lagen jetzt schauernd beisammen, beide schlugen mit dem Gelenk, wie Zähne im Frostfieber leicht aneinander klappern, lautlos an den Tisch — nein, nie, noch niemals hatte ich Hände mit so ungeheuerlich reden­dem Ausdruck gesehen, eine derart spasmische Form von Erregung und Spannung. Alles andere in diesem wölbigen Raum, das Gesurr aus den Sälen, das markt­schreierische Rufen der Croupiers, das Hin und Her der Menschen und jenes der Kugel selbst die jetzt, aus der Höhe geschleudert, in ihrem runden, parkettgiatten Käfig besessen sprang — all diese grell über die Ner­ven flitzende Vielheit von flirrenden und sehwirrenden Impressionen schien mir plötzlich tot und starr neben diesen beiden zitternden, atmenden, keuchenden, war­tenden, frierenden, schauernden, neben diesen beiden unerhörten Händen, auf die hinzustarren, ich irgend­wie verzaubert war.

Aber endlich hielt es mich nicht länger, ich musste den Menschen, musste das Gesicht sehen, dem diese magischen Hände zu gehörten, und ängstlich—ja. wirk­lich ängstlich, denn ich fürchtete mich vor diesen Hän­den! — schraubte mein Blick sich langsam die Ärmel, die schmalen Schultern empor. Und wieder schrak ich zusammen, denn dieses Gesicht sprach dieselbe zügel­lose, fantastisch überspannte Sprache wie die Hände, es teilte die gleiche entsetzliche Verbissenheit des Aus­drucks mit derselben zarten und fast weiblichen Schön­heit Nie hatte ich ein solches Gesicht gesehen, ein der­maßen aus sich herausgebogenes, ganz von sich selbst weggerissenes Gesicht, und mir war volle Gelegenheit geboten, es wie eine Maske, wie eine augenlose Pla­stik gemächlich zu betrachten: nicht zur Rechten, nicht zur Linken hin wandte sich nur für eine Sekunde dies besessene Auge: starr, schwarz, eine tote Glaskugel, stand die Pupille unter den aufgerissenen Lidern, spie­gelnder Widerschein jener andern mahagonifarbenen, die narrisch und übermütig im runden Roulettekästchen kollerte und sprang. Nie, ich muss es noch einmal sa­gen, hatte ich ein so gespanntes, ein dermaßen faszi­nierendes Gesicht gesehen. Es gehörte einem jungen, etwa vierundzwanzigjährigen Menschen, war schmal, zart, ein wenig länglich und dadurch so ausdrucksvoll. Genau wie die Hände, wirkte es nicht ganz männlich, sondern eher einem leidenschaftlich spielenden Knaben zugehörig — aber all das bemerkte ich erst später, denn jetzt verging dieses Gesicht vollkommen hinter einem vorbrechenden Ausdruck von Gier und Raserei. Der schmale Mund, lechzend aufgetan, entblößte halbwegs die Zahne*. Im Abstand von zehn Schritten konnte man sehen, wie sie fieberhaft aneinanderschlugen, indes die Lippen stan offen blieben. Feucht klebte eine lichtblon­de Haarsträhne sich an die Stirn, vornübergefallen wie bei einem Sturzenden, und um die Nasenflügel flackerte ununterbrochenes Zucken hin und her, als wogten dort kleine Wellen unsichtbar unter der Haut. Und dieser ganze vorgebeugte Kopf schob sich unbewusst immer mehr nach vorne, man harte das Gefühl, er würde mit-

gerissen in den Wirbel der kleinen Kugel; und nun ver­stand ich erst das krampfige Drücken der Hände: nur ? durch dieses Gegendrücken, nur durch diesen Krampf hielt der aus dem Zentrum stürzende Körper sich noch im Gleichgewicht.

Nie hatte ich — ich muss es immer wieder sagen — ein Gesicht gesehen, in dem Leidenschaft dermaßen offen, so tierisch, so schamlos nackt vorbrach, und ich starrte es an, dieses Gesicht..., genauso fasziniert, so festgebannt von seiner Besessenheit, wie jene Blicke vom Sprung und Zucken der kreisenden Kugel. Von dieser Sekunde an merkte ich nichts anderes mehr im Saale, alles schien mir matt, dumpf und verschwom­men, dunkel im Vergleich mit dem ausbrechenden Feu­er dieses Gesichtes, und über alle Menschen hinweg beobachtete ich vielleicht eine Stunde lang nur diesen einen Menschen und jede seiner Gesten: wie grelles Licht seine Augen überfunkelte, der krampfige Knäuel der Hände jetzt gleichsam von einer Explosion aufge­rissen ward und die Finger zitternd wegsprengte, als der Croupier ihrem gierigen Zugriff jetzt zwanzig Gold­stücke zuschob. In dieser Sekunde wurde das Gesicht plötzlich lichthaft und ganz jung, die Falten fielen flach auseinander, die Augen begannen zu erglänzen, der vorgekrampfte Körper stieg hell und leicht empor — locker wie ein Reiter saß er mit einemmal da, getra­gen vom Gefühl des Triumphes, die Finger klimperten eitel und verliebt mit den runden Münzen, schnippten sie gegeneinander, ließen sie tanzen und spielartig klin­geln. Dann wandte er wieder unruhig den Kopf, über­flog den grünen Tisch gleichsam mit schnuppernden Nüstern eines jungen Jagdhundes, der die richtige Fähr te sucht, um plötzlich mit einem raschen Ruck das gan­ze Büschel Goldstücke über eines der Vierecke hinzu -schütten. Und sofort begann wieder dieses Lauern, die­ses Gespanntsein. Wieder krochen von den Lippen jene elektrisch zuckenden Wellenschläge, wieder verkrampf­ten sich die Hände, das Knabengesicht verschwand hin­ter lüsterner Erwartung, bis explosiv die zuckende Span­nung in einer Enttäuschung auseinanderfiel: das Ge­sicht, das eben noch knabenhaft erregte, welkte, wur­de fahl und alt, die Augen stumpf und ausgebrannt, und alles dies innerhalb einer einzigen Sekunde, im Hinsturz der Kugel auf eine fehlgemeinte Zahl. Er hatte verlo­ren: ein paar Sekunden starrte er hin, beinahe blöden Blickes, als ob er nicht verstanden hätte; sofort aber bei dem ersten aufpeitschenden Ruf des Croupiers krallten die Finger wieder ein paar Goldstücke heran. Aber die Sicherheit war verloren, erst postierte er die Münzen auf das eine Feld, dann, anders besonnen, auf ein zweites, und als die Kugel schon im Rollen war, schleuderte er mit zitternder Hand, einer plötzlichen Neigung folgend, noch zwei zerknüllte Banknoten rasch in das Karree nach.


Dieses zuckende Auf und Ab von Verlust und Ge­winn dauerte pausenlos ungefähr eine Stunde, und wahrend dieser Stunde wandte ich nicht einen Atem­zug lang meinen faszinierten Blick von diesem fortwäh­rend verwandelten Gesicht, über das alle Leidenschaf­ten strömten und ebbten; ich ließ sie nicht los mit den Augen, diese magischen Hände, die mit jedem Muskel die ganze springbrunnenhaft steigende und stürzende Skala der Gefühle plastisch wiedergaben. Nie im Thea­ter habe ich so angespannt auf das Gesicht eines

Schauspielers gesehen, wie in dieses eine Antlitz hin­ein, über das, wie Licht und Scharten über eine Land­schaft, unaufhörlicher Wechsel aller Farben und Emp­findungen ruckhaft hinging. Nie war ich mit meinem ganzen Anteil so innen in einem Spiel gewesen wie im Widerschein dieser fremden Erregung. Hätte mich je­mand in diesem Moment beobachtet, so hätte er mein stählernes Hinstarren für eine Hypnose halten müssen, und irgendwie ähnlich war ja auch mein Zustand voll­kommener Benommenheit — ich konnte einfach nicht wegsehen von diesem Mienenspiel, und alles andere, was im Raum an Lichtern, Lachen, Menschen und Bli­cken durcheinanderging, umschwebte mich nur form­tos, ein gelber Rauch, inmitten dessen dieses Gesicht stand, Flamme zwischen Flammen. Ich hörte nichts, ich spürte nichts, ich merkte nicht Menschen neben mir vor­drängen, andere Hände wie Fühler sich plötzlich vor­strecken, Geld hinwerfen oder einkarren; ich sah die Kugel nicht, hörte nicht die Stimme des Croupiers und sah doch alles wie im Traum, was geschah, an diesen Händen hohlspiegelhaft übersteigert durch Erregung und Übermaß. Denn ob die Kugel auf Rot fiel oder auf Schwarz, rollte oder stockte, das zu wissen musste ich nicht auf das Roulette blicken: jede Phase ging, Verlust und Gewinn, Erwartung und Enttäuschung, feurigen Risses durch Nerv und Geste dieses von Leidenschaft überwogten Gesichts.

Aber dann kam ein furchtbarer Augenblick — ein Augenblick, den ich in mir die ganze Zeit hindurch dumpf schon gefürchtet hatte, der über meinen ge­spannten Nerven wie ein Gewitter hing und plötzlich sie mittendurch riss. Wieder war die Kugel mit jenem kleinen, klapprigen Knacks in ihre Rundung zurückge­stürzt, wieder zuckte jene Sekunde, wo zweihundert Lip­pen den Atem verhielten, bis die Stimme des Croupiers — diesmal: Zero — ankündigte, indes schon sein eil­fertiger Rechen von allen Seiten die klirrenden Münzen und das knisternde Papier zusammenscharrte. In die­sem Augenblick nun machten die beiden verkrampften Hände eine besonders schreckhafte Bewegung, sie sprangen gleichsam auf, um etwas zu haschen, was nicht da war, und fielen dann, nichts in sich als zurück­flutende Schwerkraft, wie tödlich ermattet, nieder auf den Tisch. Dann aber wurden sie plötzlich noch einmal lebendig, fieberhaft liefen sie vom Tisch zurück auf den eigenen Leib, kletterten wie wilde Katzen den Stamm des Körpers entlang, oben, unten, rechts und links, ner­vös far» alle Taschen fahrend, ob nicht irgendwo noch ein vergessenes Geldstück sich verkrümelt habe. Aber immer kamen sie wieder leer zurück, immer hitziger erneuerten sie dieses sinnlose, nutzlose Suchen, indes schon die Roulettescheibe wieder umkreiselte, das Spiel der andern weiterging, Münzen klirrten, Sessel rückten, und die kleinen hundertfältig zusammengesetzten Ge­räusche surrend den Saal füllten. Ich zitterte, von Grau­en geschüttelt: so deutlich musste ich all das mitfühlen, als wärens meine eigenen Finger, die da verzweifelt nach irgendeinem Stück Geld in den Taschen und Wül­sten des zerknitterten Kleides wühlten. Und plötzlich, mit einem einzigen Ruck stand der Mensch mir gegenüber auf — ganz so, wie jemand aufsteht, dem unvermutet unwohl geworden ist, und sich hochwirft, um nicht zu ersticken; hinter ihm polterte der Stuhl krachend zu Bo­den. Aber ohne es nur zu bemerken, ohne der Nach harn zu achten, die scheu und erstaunt dem Schwan­kenden auswichen, tappte er weg von dem Tisch.

Ich war bei diesem Anblick wie versteinert Denn ich verstand sofort, wohin dieser Mensch ging: in den Tod. Wer so aufstand, ging nicht in einen Gasthof zu­rück, in eine Weinstube, zu einer Frau, in ein Eisen­bahncoupe, in irgendeine Form des Lebens, sondern stürzte geradeaus ins Bodenlose. Selbst der Abgebrüh­teste in diesem Höllensaale hätte erkennen müssen, dass dieser Mensch nicht noch irgendwo zu Hause oder in der Bank oder bei Verwandten einen Rückhalt hat­te, sondern mit seinem letzten Geld, mit seinem Leben als Einsatz hier gesessen hatte und nun hinstolperte, ir­gendwo anders hin, aber unbedingt aus diesem Leben hinaus. Immer hatte ich gefürchtet vom ersten Augen­blick an magisch gefühlt, dass hier ein Höheres im Spiel sei als Gewinn und Verlust, und doch schlug es nun in mich hinein, ein schwarzer Blitz, als ich sah, wie das Leben aus seinen Augen plötzlich ausrann und der Tod dies eben noch überlebendige Gesicht fahl überstrich. Unwillkürlich — so ganz war ich durchdrungen von seinen plastischen Gesten — musste ich mich mit der Hand ankrampfen, während dieser Mensch von seinem Platz sich losrang und taumelte, denn dieses Taumeln drang jetzt in meinen eigenen Körper aus seiner Ge­bärde hinüber, so wie vordem seine Spannung in Ader und Nerv. Aber dann riss es mich fort, ich musste ihm nach: ohne dass ich es wollte, schob sich mein Fuß. Es geschah vollkommen unbewusst ich tat es gar nicht selbst, sondern es geschah mit mir, dass ich, ohne auf irgend jemanden zu achten, ohne mich selbst zu füh­len, in den Korridor zum Ausgang hinlief.


Er stand bei der Ganierobe, der Diener hatte ihm den Mantel gebrecht. Aber die eigenen Arme gehorch­ten nicht mehr: eo half ihm der Beflissene wie einem Geiahmten mühsam in die Ärmel Ich sah. wie er me­chanisch in die Westentasche griff, jenem ein Trink-geid ru geben, aber die Finger tasteten leer wieder heraus. Da schien er sieh plötzlich wieder an alles tu erinnern, stammelte verlegen irgendein Wort dem Diener tu und gab sich genau wie vordem einen piouhchen Ruck vorwärts, ehe er gam wie ein Trun­kener die Stufen des Kasinos hmabstolpei te. von dem der Diener mit einem erst verächtlichen und dann erst bestellenden Lachein ihm noch einen Augenblick lang nachsah,

Dirne Geste war so erschütternd, dass mich das Zu­sehen beschämte. Unwillkürlich wandte ich mich tur

Seite, geniert, einer fremden Verzweiflung wie von der Kampe einet Theaters zugeschaut tu haben —- dann

aber stieß mich pJötelich wieder jene unverständliche Angst von mir fort Rasch ließ ich mir meine Gardero­be reichen, und ohne etwas Bestimmtes zu denken, gerat mechanisch, ganz triebhatt. hastete ich diesem fremden Menschen nach in das Dunkel.»

Mrs. С unterbrach ihre Erzählung für einen Augen­blick Sie hatte mir unbewegt gegenüber gesessen und mit jener ihr eigenen Ruhe und Sachlichkeit fast pau­senlos gesprochen, wie eben nur jemand spricht, der steh innerlich vorbereitet und die Geschehnisse sorgfäl­tig geordnet hat Nun stockte sie zum erstenmal, aögerte und wandte sich dann plötzlich aus ihrer Erzählung hei aus direkt mir tu;

«ich habe Ihnen und mir selbst versprochen», be­gann sie etwas unruhig, «alles Tatsächliche mit äußer­ster Aufrichtigkeit tu erzählen. Aber Ich muss nun ver­langen, dass Sie dieser meiner Aufrichtigkeit auch vol­len Glauben schenken und nicht meiner Handlungswei­se verschwiegene Motive unterlegen, deren Ich mich vielleicht heute nicht schämen würde, die aber In die­sem Falle vollkommen falsch vermutet waten, ich muss also betonen, dass, wenn ich diesem tusammengebro ebenen Spieler auf der Straße nacheilte, ich durchaus nicht etwa verliebt in diesen jungen Menschen war — ich dachte gar nicht an ihn als an einen Mann, und tatsächlich hat für mich, die damals mehr als vierzig­jährige Frau, nach dem Tod meines Gemahls niemals mehr ein Blick irgendeinem Manne gegolten. Das war tur mich encfgüfttg vorbei: Ich sage Ihnen das ausdrück­lich und muss es Ihnen sagen, weil alles Spätere Ihnen sonst nicht in seiner ganzen Furchtbarkeit verstandlich würde. Freilich, es wäre mir anderseits schwer, das Gefühl deutlich tu benennen, das mich damals so iwanghaft jenem Unglücklichen nachzog: es war Neu­gier darin, vor allem aber eine entsetzliche Angst oder besser gesagt Angst vor etwas Entsetzlichem, das ich unsichtbar von der ersten Sekunde an um diesen jun­gen Menschen wie eine Wolke gefühlt hatte. Aber sol­che Empfindungen kann man nicht .vrgliedern und zerlegen, vor allem schon darum nicht, weil sie tu avanghaft, zu rasch, tu spontan duicheinaiKierschießen »»wahrscheinlich tat ich nichts anderes als die durch­aus instinktive Geste der Hilfeleistung, mit der man ein Kind zurückreißt das auf der Straße in ein Automobil hineinrennen will. Oder lässt es sich vielleicht erklären, dass Menschen, die selbst nicht schwimmen können, von einer Brücke her einem Ertrinkenden nachsprin­gen? Es zieht sie einfach magisch nach, ein Wille stößt sie hinab, ehe sie Zeit haben, sich schlüssig zu werden über die sinnlose Kühnheit ihres Unterfangens; und genau so, ohne zu denken, ohne bewusst wache Über­legung, bin ich damals jenem Unglücklichen aus dem Spielsaal zum Ausgang und vom Ausgang auf die Terrasse nachgegangen.

Und ich bin gewiss, weder Sie noch irgendein mit wachen Augen fühlender Mensch hätte sich dieser angstvollen Neugier entziehen können, denn ein un­heimlicherer Anblick war nicht zu denken als jener junge Mann von höchstens vierundzwanzig Jahren, der müh­sam wie ein Greis, schlenkernd wie ein Betrunkener, mit abgelösten, zerbrochenen Gelenken von der Trep­pe zur Straßenterrasse sich weiterschleppte. Dort fiel er plumpig wie ein Sack mit dem Körper auf eine Bank. Wieder spürte ich schaudernd an dieser Bewegung: dieser Mensch war zu Ende. So fällt nur ein Toter hin oder einer, in dem kein Muskel mehr sich ans Leben hält. Der Kopf war, schief gelehnt, zurück über die Leh­ne gesunken, die Arme hingen schlaff und formlos zu Boden, im Halbdunkel der trübe flackernden Laternen hätte jeder Vorübergehende ihn für einen Erschossenen halten müssen. Und so — ich kann es nicht erklären, wieso diese Vision plötzlich in mir ward, aber plötzlich stand sie da, greifbar plastisch, schauervoll und entsetz­lich wahr —, so, als Erschossenen, sah ich ihn vor mir in dieser Sekunde, und unweigerlich war in mir die Gewissheit, dass er einen Revolver in der Tasche trage und man morgen diese Gestalt auf dieser Bank oder irgendeiner andern hingestreckt finden würde, leblos und mit Blut überströmt. Denn sein Niederfallen war durchaus das eines Steines, der in eine Tiefe fällt und nicht früher haltmacht, ehe er seinen Abgrund erreicht hat: Nie habe ich einen ähnlichen Ausdruck von Mü­digkeit und Verzweiflung in körperlicher Geste ausge­drückt gesehen.