Файл: Bernhard Schlink - Der Vorleser.docx

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Als die Verteidiger der anderen Angeklagten merkten, daß solche Strategien an Hannas bereitwilligem Zugeben scheiterten, stellten sie auf eine Strategie um, die das bereitwillige Zugeben ausnutzte, Hanna be- und dadurch die anderen Angeklagten entlastete. Die Verteidiger taten es mit fachlicher Distanz. Die anderen Angeklagten sekundierten mit empörten Einwürfen.

»Sie haben gesagt, Sie hätten gewußt, daß Sie die Gefangenen in den Tod schicken – das gilt nur für Sie, nicht wahr? Was Ihre Kolleginnen gewußt haben, können Sie nicht wissen. Sie können es vielleicht vermuten, aber letztlich nicht beurteilen, nicht wahr?«

Hanna wurde vom Anwalt einer anderen Angeklagten befragt.

»Aber wir alle wußten...«

»’Wir’, ‚wir alle’ zu sagen ist einfacher, als ‚ich’ zu sagen, ‚ich allein’, nicht wahr? Stimmt es, daß Sie, Sie allein, im Lager Ihre Schützlinge hatten, junge Mädchen jeweils, eines für eine Weile und dann für eine Weile ein anderes?«

Hanna zögerte. »Ich glaube, daß ich nicht die einzige war, die...«

»Du dreckige Lügnerin! Deine Lieblinge – das war deines, deines allein!« Eine andere Angeklagte, eine derbe Frau, nicht ohne gluckenhafte Behäbigkeit und zugleich mit gehässigem Mundwerk, war sichtbar erregt.

»Könnte es sein, daß Sie ‚wissen’ sagen, wo Sie allenfalls glauben können, und ‚glauben’, wo Sie einfach erfinden?« Der Anwalt schüttelte den Kopf, als nehme er ihre bejahende Antwort bekümmert zur Kenntnis. »Stimmt es auch, daß alle Ihre Schützlinge, wenn Sie ihrer überdrüssig waren, in den nächsten Transport nach Auschwitz kamen?«

Hanna antwortete nicht.

»Das war Ihre spezielle, Ihre persönliche Selektion, nicht wahr? Sie wollen sie nicht mehr wahrhaben, Sie wollen sie verstecken hinter etwas, was alle gemacht haben. Aber...«

»O Gott!« Die Tochter, die sich nach ihrer Vernehmung unter die Zuschauer gesetzt hatte, schlug die Hände vors Gesicht. »Wie habe ich das vergessen können?« Der Vorsitzende Richter fragte sie, ob sie ihre Aussage ergänzen wolle. Sie wartete nicht, bis sie nach vorne gerufen wurde. Sie stand auf und redete von ihrem Platz unter den Zuschauern aus.

»Ja, sie hatte Lieblinge, immer eine von den jungen, schwachen und zarten, und die nahm sie unter ihren Schutz und sorgte, daß sie nicht arbeiten mußten, brachte sie besser unter und versorgte und verköstigte sie besser, und abends holte sie sie zu sich. Und die Mädchen durften nicht sagen, was sie abends mit ihnen machte, und wir dachten, daß sie mit ihnen... auch weil sie alle in den Transport kamen, als hätte sie mit ihnen ihren Spaß und sie dann satt gehabt. Aber so war es gar nicht, und eines Tages hat doch eines geredet, und wir haben gewußt, daß die Mädchen ihr vorgelesen haben, Abend um Abend um Abend. Das war besser, als wenn sie... auch besser, als wenn sie sich an dem Bau zu Tode gearbeitet hätten, ich muß gedacht haben, daß es besser war, sonst hätte ich es nicht vergessen können. Aber war es besser?« Sie setzte sich.

Hanna drehte sich um und sah mich an. Ihr Blick fand mich sofort, und so merkte ich, daß sie die ganze Zeit gewußt hatte, daß ich da war. Sie sah mich einfach an. Ihr Gesicht bat um nichts, warb um nichts, versicherte oder versprach nichts. Es bot sich dar. Ich erkannte, wie angespannt und erschöpft sie war. Sie hatte Ringe unter den Augen, und in jeder Backe führte eine Falte von oben nach unten, die ich nicht kannte, die noch nicht tief war, sie aber schon wie eine Narbe zeichnete. Als ich unter ihrem Blick rot wurde, wandte sie ihn ab und kehrte sich wieder der Gerichtsbank zu.

Der Vorsitzende Richter wollte von dem Anwalt, der Hanna befragt hatte, wissen, ob er noch Fragen an die Angeklagte habe. Er wollte es von Hannas Anwalt wissen.

Frag sie, dachte ich. Frag sie, ob sie die schwachen und zarten Mädchen gewählt hat, weil sie die Arbeit auf dem Bau ohnehin nicht verkrafteten, weil sie ohnehin mit dem nächsten Transport nach Auschwitz kamen und weil sie ihnen den letzten Monat erträglich machen wollte. Sag's, Hanna. Sag, daß du ihnen den letzten Monat erträglich machen wolltest. Daß das der Grund war, die Zarten und Schwachen zu wählen. Daß es keinen anderen Grund gab, keinen geben konnte.

Aber der Anwalt fragte Hanna nicht, und sie sprach nicht von sich aus.

8

Die deutsche Fassung des Buchs, das die Tochter über ihre Zeit im Lager geschrieben hatte, erschien erst nach dem Prozeß. Während des Prozesses war das Manuskript zwar schon vorhanden, aber nur den Prozeßbeteiligten zugänglich. Ich mußte das Buch auf englisch lesen, damals ein ungewohntes und mühsames Unterfangen. Und wie stets schaffte die fremde Sprache, die nicht beherrscht und mit der gekämpft wird, ein eigentümliches Zugleich von Distanz und Nähe. Man hat sich das Buch besonders gründlich erarbeitet und doch nicht zu eigen gemacht. Es bleibt so fremd, wie die Sprache fremd ist.

Jahre später habe ich es wiedergelesen und entdeckt, daß das Buch selbst Distanz schafft. Es lädt nicht zur Identifikation ein und macht niemanden sympathisch, weder Mutter noch Tochter, noch die, mit denen beide in verschiedenen Lagern und schließlich in Auschwitz und bei Krakau das Schicksal geteilt haben. Die Barackenältesten, Aufseherinnen und Wachmannschaften läßt es gar nicht erst so viel Gesicht und Gestalt gewinnen, daß man sich zu ihnen verhalten, sie besser oder schlechter finden könnte. Es atmet die Betäubung, die ich schon zu beschreiben versucht habe. Aber das Vermögen, zu registrieren und zu analysieren, hat die Tochter unter der Betäubung nicht verloren. Und sie hat sich nicht korrumpieren lassen, nicht durch Selbstmitleid und nicht durch das Selbstbewußtsein, das sie spürbar daraus gezogen hat, daß sie überlebt und die Jahre in den Lagern nicht nur verkraftet, sondern literarisch gestaltet hat. Sie schreibt über sich und ihr pubertäres, altkluges und, wenn es sein muß, durchtriebenes Verhalten mit derselben Nüchternheit, mit der sie alles andere beschreibt.


Hanna kommt im Buch weder mit Namen noch sonst erkennbar und identifizierbar vor. Manchmal glaubte ich, sie in einer Aufseherin zu erkennen, die jung, schön und in der Erfüllung ihrer Aufgaben von gewissenloser Gewissenhaftigkeit geschildert wurde, aber ich war nicht sicher. Wenn ich die anderen Angeklagten betrachtete, konnte nur Hanna die geschilderte Aufseherin sein. Aber es hatte weitere Aufseherinnen gegeben. In einem Lager hatte die Tochter eine Aufseherin erlebt, die »Stute« genannt wurde, ebenfalls jung, schön und tüchtig, aber grausam und unbeherrscht. An die erinnerte sie die Aufseherin im Lager. Hatten auch andere den Vergleich gezogen? Wußte Hanna davon, erinnerte sie sich daran und war sie darum betroffen, als ich sie mit einem Pferd verglich?

Das Lager bei Krakau war für Mutter und Tochter die letzte Station nach Auschwitz. Es war ein Fortschritt; die Arbeit war schwer, aber leichter, das Essen war besser, und es war besser, zu sechs Frauen in einem Raum als zu hundert in einer Baracke zu schlafen. Und es war wärmer; die Frauen konnten auf dem Weg von der Fabrik ins Lager Holz aufsammeln und mitnehmen. Es gab die Angst vor den Selektionen. Aber auch sie war nicht so schlimm wie in Auschwitz. Sechzig Frauen wurden jeden Monat zurückgeschickt, sechzig von rund zwölfhundert; da hatte man selbst dann eine Überlebenserwartung von zwanzig Monaten, wenn man nur durchschnittliche Kräfte besaß, und man konnte immerhin hoffen, stärker als der Durchschnitt zu sein. Überdies durfte man erwarten, daß der Krieg schon in weniger als zwanzig Monaten zu Ende sein würde.

Das Elend begann mit der Auflösung des Lagers und dem Aufbruch der Gefangenen nach Westen. Es war Winter, es schneite, und die Kleidung, in der die Frauen in der Fabrik gefroren und es im Lager einigermaßen ausgehalten hatten, war ganz unzureichend, und noch unzureichender war das Schuhwerk, oft Lappen und Zeitungspapier, so gebunden, daß sie beim Stehen und Gehen zusammenhielten, aber nicht so zu binden, daß sie lange Märsche über Schnee und Eis hätten aushalten können. Die Frauen marschierten auch nicht nur; sie wurden gehetzt, mußten laufen. »Todesmarsch?« fragt die Tochter im Buch und antwortet: »Nein, Todestrab, Todesgalopp.« Viele brachen unterwegs zusammen, andere standen nach den Nächten in einer Scheune oder auch nur an einer Mauer nicht mehr auf. Nach einer Woche war fast die Hälfte der Frauen tot.

Die Kirche war ein besseres Obdach als die Scheunen und Mauern, die die Frauen davor gehabt hatten. Wenn sie an verlassenen Höfen vorbeigekommen waren und übernachtet hatten, hatten die Wachmannschaften und Aufseherinnen die Wohngebäude für sich genommen. Hier, im weitgehend verlassenen Dorf, konnten sie das Pfarrhaus für sich nehmen und den Gefangenen immer noch mehr als eine Scheune oder Mauer lassen. Daß sie es taten und daß es im Dorf sogar einen warmen Sud zu essen gab, erschien wie die Verheißung eines Endes des Elends. So schliefen die Frauen ein. Wenig später fielen die Bomben. Solange nur der Turm brannte, war das Feuer in der Kirche zu hören, aber nicht zu sehen. Als die Turmspitze brach und in den Dachstuhl schlug, dauerte es noch mal Minuten, bis der Schein des Feuers zu sehen war. Dann tropften auch schon die Flammen herab und entzündeten Kleider, herabstürzende brennende Balken setzten das Gestühl und die Kanzel in Brand, und binnen kurzem krachte der Dachstuhl ins Kirchenschiff und brannte alles lichterloh.

Die Tochter meint, die Frauen hätten sich retten können, wenn sie sich sofort gemeinsam daran gemacht hätten, eine der Türen aufzubrechen. Aber bis sie gemerkt hatten, was passiert war, was passieren würde und daß ihnen nicht aufgeschlossen wurde, war es zu spät. Es war dunkle Nacht, als der Einschlag der Bombe sie aufweckte. Eine Weile lang hörten sie nur ein befremdliches, beängstigendes Geräusch im Turm und waren ganz still, um das Geräusch besser hören und deuten zu können. Daß es das Prasseln und Knattern eines Feuers, daß es Feuerschein war, was ab und zu hell hinter den Fenstern zuckte, daß der Schlag, den es über ihren Köpfen tat, das Übergreifen des Feuers vom Turm aufs Dach bedeutete – die Frauen begriffen es erst, als der Dachstuhl sichtbar brannte. Sie begriffen es und schrien auf, schrien in Entsetzen, schrien um Hilfe, stürzten zu den Türen, rüttelten daran, schlugen dagegen, schrien.

Als der brennende Dachstuhl ins Kirchenschiff krachte, hegte die Hülle der Mauern das Feuer wie ein Kamin. Die meisten Frauen sind nicht erstickt, sondern in den hell und laut lodernden Flammen verbrannt. Am Ende hatte das Feuer sogar die eisenbeschlagenen Kirchentüren durchbrannt, durchglüht. Aber das war Stunden später.

Mutter und Tochter überlebten, weil die Mutter aus den falschen Gründen das Richtige tat. Als die Frauen in Panik gerieten, konnte sie es nicht mehr unter ihnen aushalten. Sie floh auf die Empore. Daß sie dort den Flammen näher war, war ihr egal, sie wollte nur allein sein, weg von den schreienden, hin und her drängenden, brennenden Frauen. Die Empore war schmal, so schmal, daß sie vom brennenden Gebälk kaum getroffen wurde. Mutter und Tochter standen an die Wand gepreßt und sahen und hörten das Wüten des Feuers. Sie trauten sich am nächsten Tag nicht hinunter und hinaus. In der Dunkelheit der folgenden Nacht fürchteten sie, die Stufen der Treppe und den Weg zu verfehlen. Als sie im Morgengrauen des übernächsten Tags aus der Kirche kamen, begegneten sie einigen Bewohnern des Dorfs, die sie fassungs- und wortlos anstarrten, ihnen aber Kleider und Essen gaben und sie ziehen ließen.


9

»Warum haben Sie nicht aufgeschlossen?«

Der Vorsitzende Richter stellte einer Angeklagten nach der anderen dieselbe Frage. Eine Angeklagte nach der anderen gab dieselbe Antwort. Sie habe nicht aufschließen können. Warum? Sie sei beim Einschlag der Bombe ins Pfarrhaus verwundet worden. Oder sie habe unter dem Schock des Einschlags gestanden. Oder sie habe sich nach dem Einschlag der Bombe um die verwundeten Wachmannschaften und anderen Aufseherinnen gekümmert, sie aus den Trümmern geborgen, verbunden, versorgt. Sie habe nicht an die Kirche gedacht, sei nicht in der Nähe der Kirche gewesen, habe den Brand in der Kirche nicht gesehen und die Rufe aus der Kirche nicht gehört.

Der Vorsitzende Richter machte einer Angeklagten nach der anderen denselben Vorhalt. Der Bericht lese sich anders. Das war mit Bedacht vorsichtig formuliert. Zu sagen, daß es im Bericht, der sich in den Akten der SS gefunden hatte, anders stand, wäre falsch gewesen. Aber richtig war, daß er sich anders las. Er erwähnte namentlich, wer im Pfarrhaus getötet und wer verwundet worden war, wer die Verwundeten mit dem Lastwagen in ein Lazarett transportiert und wer den Transport im Kübelwagen begleitet hatte. Er erwähnte, daß Aufseherinnen zurückgeblieben waren, um das Ende der Brände abzuwarten, ein Übergreifen zu verhindern und Fluchtversuche im Schutz der Brände zu unterbinden. Er erwähnte den Tod der Gefangenen.

Daß die Namen der Angeklagten nicht unter den aufgeführten Namen waren, sprach dafür, daß die Angeklagten zu den zurückgebliebenen Aufseherinnen gehört hatten. Daß die Aufseherinnen zurückgeblieben waren, um Fluchtversuche zu verhindern, sprach dafür, daß mit der Bergung der Verwundeten aus dem Pfarrhaus und der Abfahrt des Transports ins Lazarett nicht schon alles vorbei war. Die zurückgebliebenen Aufseherinnen hatten, so las es sich, den Brand in der Kirche toben lassen und die Türen der Kirche geschlossen gehalten. Unter den zurückgebliebenen Aufseherinnen waren, so las es sich, die Angeklagten gewesen.

Nein, sagte eine Angeklagte nach der anderen, so sei es nicht gewesen. Der Bericht sei falsch. Das sehe man schon daran, daß er von der Aufgabe der zurückgebliebenen Aufseherinnen rede, ein Übergreifen der Brände zu verhindern. Wie hätten sie diese Aufgabe erfüllen sollen. Sie sei Unsinn, und ebenso sei die andere Aufgabe, Fluchtversuche im Schutz der Brände zu verhindern, Unsinn. Fluchtversuche? Als sie sich nicht mehr um die eigenen hätten kümmern müssen und um die anderen, die Gefangenen, hätten kümmern können, sei nichts mehr zu fliehen gewesen. Nein, der Bericht verkenne ganz und gar, was sie in der Nacht gemacht, geleistet und gelitten hätten.

Wie es zu einem derart falschen Bericht kommen könne? Sie wüßten es auch nicht.

Bis die behäbig-gehässige Angeklagte dran war. Sie wußte es. »Fragen Sie die da!« Sie zeigte mit dem Finger auf Hanna. »Sie hat den Bericht geschrieben. Sie ist an allem schuld, sie allein, und mit dem Bericht hat sie das vertuschen und uns reinziehen wollen.«

Der Vorsitzende fragte Hanna. Aber es war seine letzte Frage. Seine erste Frage war: »Warum haben Sie nicht aufgeschlossen?«

»Wir waren... wir hatten...« Hanna suchte nach der Antwort. »Wir wußten uns nicht anders zu helfen.«

»Sie wußten sich nicht anders zu helfen?«

»Einige von uns waren tot, und die anderen haben sich davongemacht. Sie haben gesagt, daß sie die Verwundeten ins Lazarett schaffen und wiederkommen, aber sie wußten, daß sie nicht wiederkommen, und wir haben es auch gewußt. Vielleicht sind sie auch gar nicht ins Lazarett gefahren, so schlimm verletzt waren die Verwundeten nicht. Wir wären auch mitgefahren, aber sie haben gesagt, die Verwundeten brauchen den Platz, und sie haben sowieso nichts... waren sowieso nicht scharf darauf, so viele Frauen mit dabei zu haben. Ich weiß nicht, wohin sie sind.«

»Was haben Sie gemacht?«

»Wir haben nicht gewußt, was wir machen sollen. Es ging alles so schnell, und das Pfarrhaus hat gebrannt und der Kirchturm, und die Männer und Autos waren eben noch da, und dann waren sie weg, und auf einmal waren wir allein mit den Frauen in der Kirche. Irgendwas an Waffen haben sie zurückgelassen, aber wir haben nicht damit umgehen können, und wenn wir's gekonnt hätten – was hätte uns das geholfen, uns paar Frauen? Wie hätten wir die vielen Frauen bewachen sollen? So ein Zug streckt sich lange hin, auch wenn man ihn zusammenhält, und so eine lange Strecke zu bewachen, braucht man viel mehr als uns paar.« Hanna machte eine Pause. »Dann fing das Schreien an und wurde immer schlimmer. Wenn wir jetzt aufgemacht hätten und alle rausgerannt wären...«

Der Vorsitzende wartete einen Moment. »Hatten Sie Angst? Hatten Sie Angst, daß die Gefangenen Sie überwältigen würden?«

»Daß die Gefangenen uns... nein, aber wie hätten wir da noch mal Ordnung reinbringen sollen? Das hätte ein Durcheinander gegeben, mit dem wir nicht fertiggeworden wären. Und wenn sie zu fliehen versucht hätten...«


Wieder wartete der Vorsitzende, aber Hanna sprach den Satz nicht zu Ende. »Hatten Sie Angst, daß man Sie im Fall der Flucht verhaften, verurteilen, erschießen würde?«

»Wir hätten sie doch nicht einfach fliehen lassen können! Wir waren doch dafür verantwortlich... Ich meine, wir hatten sie doch die ganze Zeit bewacht, im Lager und im Zug, das war doch der Sinn, daß wir sie bewachen und daß sie nicht fliehen. Darum haben wir nicht gewußt, was wir machen sollen. Wir haben auch nicht gewußt, wie viele Frauen die nächsten Tage überleben. Es waren schon so viele gestorben, und die, die noch lebten, waren auch schon so schwach...«

Hanna merkte, daß sie ihrer Sache mit dem, was sie sagte, keinen Dienst erwies. Aber sie konnte nichts anderes sagen. Sie konnte nur versuchen, das, was sie sagte, besser zu sagen, besser zu beschreiben und zu erklären. Aber je mehr sie sagte, desto schlechter sah es um ihre Sache aus. Weil sie nicht ein noch aus wußte, wandte sie sich wieder an den Vorsitzenden.

»Was hätten Sie denn gemacht?«

Aber diesmal wußte sie selbst, daß sie keine Antwort bekommen würde. Sie erwartete keine Antwort. Niemand erwartete eine Antwort. Der Vorsitzende schüttelte stumm den Kopf.

Nicht daß man sich die Rat- und Hilflosigkeit, die Hanna beschrieb, nicht hätte vorstellen können. Die Nacht, die Kälte, der Schnee, das Feuer, das Schreien der Frauen in der Kirche, das Verschwinden derer, die den Aufseherinnen befohlen und sie begleitet hatten – wie hätte die Situation einfach sein sollen. Aber konnte die Einsicht, daß die Situation schwierig gewesen war, das Entsetzen über das, was die Angeklagten getan oder auch nicht getan hatten, relativieren? Als sei es um einen Autounfall auf einsamer Straße in kalter Winternacht gegangen, mit Verletzungen und Totalschaden, wo man nicht weiß, was tun? Oder um einen Konflikt zwischen zwei Pflichten, die beide unseren Einsatz verdienen? So konnte man, aber man wollte sich nicht vorstellen, was Hanna beschrieb.

»Haben Sie den Bericht geschrieben?«

»Wir haben uns zusammen überlegt, was wir schreiben sollen. Wir wollten denen, die sich davongemacht hatten, nichts anhängen. Aber daß wir was falsch gemacht hätten, wollten wir uns auch nicht anziehen.«

»Sie sagen also, Sie haben zusammen überlegt. Wer hat geschrieben?«

»Du!« Die andere Angeklagte zeigte wieder mit dem Finger auf Hanna.

»Nein, ich habe nicht geschrieben. Ist es wichtig, wer geschrieben hat?«

Ein Staatsanwalt schlug vor, einen Sachverständigen die Schrift des Berichts und die Schrift der Angeklagten Schmitz miteinander vergleichen zu lassen.

»Meine Schrift? Sie wollen meine Schrift...«

Der Vorsitzende, der Staatsanwalt und Hannas Verteidiger diskutierten, ob eine Schrift ihre Identität über mehr als fünfzehn Jahre durchhält und erkennen läßt. Hanna hörte zu und setzte ein paarmal an, etwas zu sagen oder zu fragen, war zunehmend alarmiert. Dann sagte sie: »Sie brauchen keinen Sachverständigen holen. Ich gebe zu, daß ich den Bericht geschrieben habe.«

10

An die freitäglichen Seminarsitzungen habe ich keine Erinnerung. Auch wenn ich mir die Gerichtsverhandlung vergegenwärtige, fällt mir nicht ein, was wir wissenschaftlich bearbeitet haben. Worüber haben wir gesprochen? Was wollten wir wissen? Wessen hat uns der Professor belehrt?

Aber ich erinnere mich an die Sonntage. Von den Tagen im Gericht brachte ich einen mir neuen Hunger nach den Farben und Gerüchen der Natur mit. An den Freitagen und Samstagen habe ich das, was ich an den anderen Wochentagen im Studium versäumte, immerhin soweit nachgearbeitet, daß ich bei den Übungen mithalten und das Pensum des Semesters bewältigen konnte. An den Sonntagen bin ich losgelaufen.

Heiligenberg, Michaelsbasilika, Bismarckturm, Philosophenweg, Flußufer – ich habe den Weg von Sonntag zu Sonntag nur geringfügig variiert. Ich fand genug Vielfalt darin, das von Woche zu Woche sattere Grün und die Rheinebene mal im Dunst der Hitze, mal hinter Regenschleiern und mal unter Gewitterwolken zu sehen und im Wald die Beeren und die Blumen zu riechen, wenn die Sonne auf sie brannte, und die Erde und die modernden Blätter vom vergangenen Jahr, wenn es regnete. Überhaupt brauche und suche ich nicht viel Vielfalt. Die nächste Reise ein bißchen weiter als die letzte, der nächste Urlaub in dem Ort, den ich beim letzten entdeckt habe und der mir gefallen hat – eine Zeitlang habe ich gemeint, kühner sein zu müssen, und mich nach Ceylon, Ägypten und Brasilien gezwungen, ehe ich wieder dazu überging, mir die vertrauten Regionen noch vertrauter zu machen. In ihnen sehe ich mehr.

Ich habe die Stelle im Wald wiedergefunden, wo sich mir Hannas Geheimnis enthüllte. Sie hat nichts Besonderes und hatte damals nichts Besonderes, keinen eigentümlich gewachsenen Baum oder Fels, keinen ungewöhnlichen Blick auf die Stadt und in die Ebene, nichts, was zu überraschenden Assoziationen einladen würde. Beim Nachdenken über Hanna, Woche um Woche in denselben Bahnen kreisend, hatte sich ein Gedanke abgespalten, hatte seinen eigenen Weg verfolgt und schließlich sein eigenes Ergebnis hervorgebracht. Als er damit fertig war, war er damit fertig – es hätte überall sein können oder jedenfalls überall da, wo die Vertrautheit der Umgebung und Umstände zuläßt, das Überraschende, das einen nicht von außen anfällt, sondern innen wächst, wahrzunehmen und anzunehmen. So war es auf einem Weg, der steil den Berg hinansteigt, die Fahrstraße überquert, einen Brunnen passiert und zuerst unter alten, hohen, dunklen Bäumen und dann durch lichtes Gehölz führt.


Hanna konnte nicht lesen und schreiben.

Deswegen hatte sie sich vorlesen lassen. Deswegen hatte sie mich auf unserer Fahrradtour das Schreiben und Lesen übernehmen lassen und war am Morgen im Hotel außer sich gewesen, als sie meinen Zettel gefunden, meine Erwartung, sie kenne seinen Inhalt, geahnt und ihre Bloßstellung gefürchtet hatte. Deswegen hatte sie sich der Beförderung bei der Straßenbahn entzogen; ihre Schwäche, die sie als Schaffnerin verbergen konnte, wäre bei der Ausbildung zur Fahrerin offenkundig geworden. Deswegen hatte sie sich der Beförderung bei Siemens entzogen und war Aufseherin geworden. Deswegen hatte sie, um der Konfrontation mit dem Sachverständigen zu entgehen, zugegeben, den Bericht geschrieben zu haben. Hatte sie sich deswegen im Prozeß um Kopf und Kragen geredet? Weil sie das Buch der Tochter wie auch die Anklage nicht hatte lesen, die Chancen ihrer Verteidigung nicht hatte sehen und sich nicht entsprechend hatte vorbereiten können? Hatte sie deswegen ihre Schützlinge nach Auschwitz geschickt? Um sie, falls sie was gemerkt haben sollten, stumm zu machen? Und hatte sie deswegen die Schwachen zu ihren Schützlingen gemacht?

Deswegen? Daß sie sich schämte, nicht lesen und schreiben zu können, und lieber mich befremdet als sich bloßgestellt hatte, verstand ich. Scham als Grund für ausweichendes, abwehrendes, verbergendes und verstellendes, auch verletzendes Verhalten kannte ich selbst. Aber Hannas Scham, nicht lesen und schreiben zu können, als Grund für ihr Verhalten im Prozeß und im Lager? Aus Angst vor der Bloßstellung als Analphabetin die Bloßstellung als Verbrecherin? Aus Angst vor der Bloßstellung als Analphabetin das Verbrechen?

Wie oft habe ich mir damals und seitdem dieselben Fragen gestellt. Wenn Hannas Motiv die Angst vor Bloßstellung war – wieso dann statt der harmlosen Bloßstellung als Analphabetin die furchtbare als Verbrecherin? Oder meinte sie, ohne jede Bloßstellung durch- und davonzukommen? War sie einfach dumm? Und war sie so eitel und böse, für das Vermeiden einer Bloßstellung zur Verbrecherin zu werden?

Ich habe es damals und seitdem immer wieder verworfen. Nein, habe ich mir gesagt, Hanna hatte sich nicht für das Verbrechen entschieden. Sie hatte sich gegen die Beförderung bei Siemens entschieden und war in die Tätigkeit als Aufseherin hineingeraten. Und nein, sie hatte die Zarten und Schwachen nicht mit dem Transport nach Auschwitz geschickt, weil sie ihr vorgelesen hatten, sondern hatte sie fürs Vorlesen ausgewählt, weil sie ihnen den letzten Monat erträglich machen wollte, ehe sie ohnehin nach Auschwitz mußten. Und nein, im Prozeß wog Hanna nicht zwischen der Bloßstellung als Analphabetin und der Bloßstellung als Verbrecherin ab. Sie kalkulierte und taktierte nicht. Sie akzeptierte, daß sie zur Rechenschaft gezogen wurde, wollte nur nicht überdies bloßgestellt werden. Sie verfolgte nicht ihr Interesse, sondern kämpfte um ihre Wahrheit, ihre Gerechtigkeit. Es waren, weil sie sich immer ein bißchen verstellen mußte, weil sie nie ganz offen, nie ganz sie selbst sein konnte, eine klägliche Wahrheit und eine klägliche Gerechtigkeit, aber es waren ihre, und der Kampf darum war ihr Kampf.

Sie mußte völlig erschöpft sein. Sie kämpfte nicht nur im Prozeß. Sie kämpfte immer und hatte immer gekämpft, nicht um zu zeigen, was sie kann, sondern um zu verbergen, was sie nicht kann. Ein Leben, dessen Aufbrüche in energischen Rückzügen und dessen Siege in verheimlichten Niederlagen bestehen.

Seltsam berührte mich die Diskrepanz zwischen dem, was Hanna beim Verlassen meiner Heimatstadt beschäftigt haben mußte, und dem, was ich mir damals vorgestellt und ausgemalt hatte. Ich war sicher gewesen, sie vertrieben, weil verraten und verleugnet zu haben, und tatsächlich hatte sie sich einfach einer Bloßstellung bei der Straßenbahn entzogen. Allerdings änderte der Umstand, daß ich sie nicht vertrieben hatte, nichts daran, daß ich sie verraten hatte. Also blieb ich schuldig. Und wenn ich nicht schuldig war, weil der Verrat einer Verbrecherin nicht schuldig machen kann, war ich schuldig, weil ich eine Verbrecherin geliebt hatte.

11

Indem Hanna zugab, den Bericht geschrieben zu haben, hatten die anderen Angeklagten leichtes Spiel. Hanna habe, wo nicht allein gehandelt, die anderen bedrängt, bedroht, gezwungen. Sie habe das Kommando an sich gerissen. Sie habe Feder und Wort geführt. Sie habe entschieden.

Die Bewohner des Dorfs, die als Zeugen aussagten, konnten das weder bestätigen noch widerlegen. Sie hatten gesehen, daß die brennende Kirche von mehreren Frauen in Uniform bewacht und nicht geöffnet wurde, und hatten sich daher nicht getraut, sie selbst zu öffnen. Sie waren den Frauen am nächsten Morgen begegnet, als sie aufbrachen, und erkannten sie in den Angeklagten wieder. Aber welche Angeklagte bei der morgendlichen Begegnung den Ton angegeben hatte, ob überhaupt eine Angeklagte den Ton angegeben hatte, wußten sie nicht zu sagen.