ВУЗ: Не указан
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Добавлен: 22.12.2020
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»Du hast so eine schöne Stimme, Jungchen, ich mag dir
lieber zuhören als selbst lesen.«
»Ach, ich weiß nicht.«
Aber als ich am nächsten Tag kam und sie küssen
wollte, entzog sie sich. »Zuerst mußt du mir vorlesen.«
Sie meinte es ernst. Ich mußte ihr eine halbe Stunde
lang »Emilia Galotti« vorlesen, ehe sie mich unter die
Dusche und ins Bett nahm. Jetzt war auch ich über das
Duschen froh. Die Lust, mit der ich gekommen war, war
über dem Vorlesen vergangen. Ein Stück so vorzulesen,
daß die verschiedenen Akteure einigermaßen erkennbar
und lebendig werden, verlangt einige Konzentration.
Unter der Dusche wuchs die Lust wieder. Vorlesen,
duschen, lieben und noch ein bißchen beieinanderliegen
– das wurde das Ritual unserer Treffen.
Sie war eine aufmerksame Zuhörerin. Ihr Lachen, ihr
verächtliches Schnauben und ihre empörten oder beifälligen
Ausrufe ließen keinen Zweifel, daß sie der Handlung
gespannt folgte und daß sie Emilia wie Luise für dumme
Gören hielt. Die Ungeduld, mit der sie mich manchmal bat
weiterzulesen, kam aus der Hoffnung, die Torheit müsse
sich endlich legen. »Das darf doch nicht wahr sein!«
Manchmal drängte es mich selbst weiterzulesen. Als die
Tage länger wurden, las ich länger, um in der Dämmerung
mit ihr im Bett zu sein. Wenn sie auf mir eingeschlafen
war, im Hof die Säge schwieg, die Amsel sang und von
den Farben der Dinge in der Küche nur noch hellere
und dunklere Grautöne blieben, war ich vollkommen
glücklich.
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10
Am ersten Tag der Osterferien stand ich um vier auf.
Hanna hatte Frühschicht. Sie fuhr um Viertel nach vier
mit dem Fahrrad zum Straßenbahndepot und um halb
fünf mit der Bahn nach Schwetzingen. Auf der Hinfahrt
sei, so hatte sie mir gesagt, die Bahn oft leer. Erst auf der
Rückfahrt werde sie voll.
Ich stieg bei der zweiten Haltestelle zu. Der zweite
Wagen war leer, im ersten stand Hanna beim Fahrer. Ich
zögerte, ob ich mich in den vorderen oder den hinteren
Wagen setzen sollte, und entschied mich für den hinteren.
Er versprach Privatheit, eine Umarmung, einen Kuß.
Aber Hanna kam nicht. Sie mußte gesehen haben, daß ich
an der Haltestelle gewartet hatte und eingestiegen war.
Deswegen hatte die Bahn gehalten. Aber sie blieb beim
Fahrer Stehen, redete und scherzte mit ihm. Ich konnte
es sehen.
Bei einer nach der anderen Haltestelle fuhr die Bahn
durch. Niemand stand und wartete. Die Straßen waren
leer. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, und unter
weißem Himmel lag alles blaß in blassem Licht: Häuser,
parkende Autos, frisch grünende Bäume und blühende
Sträucher, der Gaskessel und in der Ferne die Berge. Die
46 Bahn fuhr langsam; vermutlich war der Fahrplan auf
Fahr- und Haltezeiten angelegt und mußten die Fahrzeiten
gestreckt werden, weil die Haltezeiten entfielen. Ich war
in der langsam fahrenden Bahn eingeschlossen. Zuerst
saß ich, dann stellte ich mich auf die vordere Plattform
und versuchte, Hanna zu fixieren; sie sollte meinen Blick
in ihrem Rücken spüren. Nach einer Weile drehte sie
sich um und sah mich gelegentlich an. Dann redete sie
wieder mit dem Fahrer. Die Fahrt ging weiter. Hinter
Eppelheim waren die Gleise nicht in, sondern neben der
Straße auf einem geschotterten Damm verlegt. Die Bahn
fuhr schneller, mit dem gleichmäßigen Rattern einer
Eisenbahn. Ich wußte, daß die Strecke durch weitere Orte
und schließlich nach Schwetzingen führte. Aber ich fühlte
mich ausgeschlossen, ausgestoßen aus der normalen
Welt, in der Menschen wohnen, arbeiten und lieben. Als
sei ich verdammt zu einer ziel- und endlosen Fahrt im
leeren Wagen.
Dann sah ich eine Haltestelle, ein Wartehäuschen auf
freiem Feld. Ich zog die Leine, mit der die Schaffner dem
Fahrer signalisieren, daß er anhalten soll oder losfahren
kann. Die Bahn hielt. Weder Hanna noch der Fahrer
hatten auf das Klingelzeichen hin nach mir geschaut. Als
ich ausstieg, war mir, als sähen sie mir lachend zu. Aber
ich war nicht sicher. Dann fuhr die Bahn an, und ich sah
ihr nach, bis sie zuerst in einer Senke und dann hinter
einem Hügel verschwand. Ich stand zwischen Damm und
Straße, ringsum waren Felder, Obstbäume und weiter
weg ein Gärtnereibetrieb mit Gewächshäusern. Die Luft
war frisch. Sie war erfüllt vom Zwitschern der Vögel. Über
den Bergen leuchtete der weiße Himmel rosa.
47
Die Fahrt in der Bahn war wie ein böser Traum gewesen.
Wenn ich das Nachspiel nicht in so deutlicher Erinnerung
hätte, wäre ich versucht, sie tatsächlich für einen bösen
Traum zu halten. An der Haltestelle stehen, die Vögel
hören und die Sonne aufgehen sehen war wie aufwachen.
Aber das Aufwachen aus einem bösen Traum muß einen
nicht erleichtern. Es kann einen auch erst richtig gewahr
werden lassen, was man Furchtbares geträumt hat,
vielleicht sogar welcher furchtbaren Wahrheit man im
Traum begegnet ist. Ich machte mich auf den Weg nach
Hause, mir liefen die Tränen, und erst als ich Eppelheim
erreichte, konnte ich aufhören zu weinen.
Ich machte den Weg nach Hause zu Fuß. Ein paarmal
versuchte ich vergebens zu trampen. Als ich die Hälfte des
Wegs geschafft hatte, fuhr die Straßenbahn an mir vorbei.
Sie war voll. Ich sah Hanna nicht.
Ich erwartete sie um zwölf auf dem Treppenabsatz vor
ihrer Wohnung, traurig, ängstlich und wütend.
»Schwänzst du wieder Schule?«
»Ich habe Ferien. Was war heute morgen los?« Sie
schloß auf, und ich folgte ihr in die Wohnung und in die
Küche.
»Was soll heute morgen losgewesen sein?«
»Warum hast du getan, als kennst du mich nicht? Ich
wollte…«
»Ich habe getan, als kenne ich dich nicht?« Sie drehte
sich um und sah mir kalt ins Gesicht. »Du hast mich nicht
kennen wollen. Steigst in den zweiten Wagen, wo du doch
siehst, daß ich im ersten bin.«
»Warum fahre ich am ersten Tag meiner Ferien um halb
48 fünf nach Schwetzingen? Doch nur weil ich dich
überraschen wollte, weil ich dachte, du freust dich. In den
zweiten Wagen bin ich…«
»Du armes Kind. Warst schon um halb fünf auf, und
das auch noch in deinen Ferien.« Ich hatte sie noch nie
ironisch erlebt. Sie schüttelte den Kopf. »Was weiß ich,
warum du nach Schwetzingen fährst. Was weiß ich,
warum du mich nicht kennen willst. Ist deine Sache, nicht
meine. Würdest du jetzt gehen?«
Ich kann nicht beschreiben, wie empört ich war. »Das
ist nicht fair, Hanna. Du hast gewußt, du mußtest wissen,
daß ich nur für dich mitgefahren bin. Wie kannst du
dann glauben, ich hätte dich nicht kennen wollen? Wenn
ich dich nicht hätte kennen wollen, wäre ich gar nicht
mitgefahren.«
»Ach, laß mich. Ich hab dir schon gesagt, was du
machst, ist deine Sache, nicht meine.« Sie hatte sich
so gestellt, daß der Küchentisch zwischen uns war, ihr
Blick, ihre Stimme und ihre Gesten behandelten mich als
Eindringling und forderten mich auf zu gehen.
Ich setzte mich aufs Sofa. Sie hatte mich schlecht
behandelt, und ich hatte sie zur Rede stellen wollen. Aber
ich war gar nicht an sie herangekommen. Statt dessen
hatte sie mich angegriffen. Und ich begann, unsicher zu
werden. Hatte sie vielleicht recht, nicht objektiv, aber
subjektiv? Konnte, mußte sie mich falsch verstehen?
Hatte ich sie verletzt, ohne meine Absicht, gegen meine
Absicht, aber eben doch verletzt?
»Es tut mir leid, Hanna. Alles ist schiefgelaufen. Ich
habe dich nicht kränken wollen, aber es scheint…«
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»Es scheint? Du meinst, es scheint, du hast mich gekränkt?
Du kannst mich nicht kränken, du nicht. Und
gehst du jetzt endlich? Ich habe gearbeitet, ich will baden,
ich will meine Ruhe haben.« Sie sah mich auffordernd an.
Als ich nicht aufstand, zuckte sie mit den Schultern, drehte
sich um, ließ Wasser in die Wanne und zog sich aus.
Jetzt stand ich auf und ging. Ich dachte, ich gehe für
immer. Aber nach einer halben Stunde stand ich wieder
vor der Wohnung. Sie ließ mich herein, und ich nahm
alles auf mich. Ich hatte gedankenlos, rücksichtslos,
lieblos gehandelt. Ich verstand, daß sie gekränkt war. Ich
verstand, daß sie nicht gekränkt war, weil ich sie nicht
kränken konnte. Ich verstand, daß ich sie nicht kränken
konnte, daß sie sich mein Verhalten aber einfach nicht
bieten lassen durfte. Am Ende war ich glücklich, als sie
zugab, daß ich sie verletzt hatte. Also war sie doch nicht so
unberührt und unbeteiligt, wie sie getan hatte.
»Verzeihst du mir?«
Sie nickte.
»Liebst du mich?«
Sie nickte wieder. »Die Wanne ist noch voll. Komm, ich
bade dich.«
Später habe ich mich gefragt, ob sie das Wasser
in der Wanne gelassen hatte, weil sie wußte, daß
ich wiederkommen würde. Ob sie sich ausgezogen
hatte, weil sie wußte, daß mir das nicht aus dem Sinn
gehen und daß es mich zurückbringen würde. Ob
sie nur ein Machtspiel hatte gewinnen wollen. Als
wir uns geliebt hatten und beieinander lagen und
ich ihr erzählte, warum ich in den zweiten statt den
ersten Wagen gestiegen war, neckte sie mich. »Sogar
in der Straßenbahn willst du’s mit mir machen?
Jungchen, Jungchen!« Es war, als sei der Anlaß unseres
Streits eigentlich ohne Bedeutung.
Aber sein Ergebnis hatte Bedeutung. Ich hatte nicht
nur diesen Streit verloren. Ich hatte nach kurzem Kampf
kapituliert, als sie drohte, mich zurückzuweisen, sich
mir zu entziehen. In den kommenden Wochen habe
ich nicht einmal mehr kurz gekämpft. Wenn sie drohte,
habe ich sofort bedingungslos kapituliert. Ich habe alles
auf mich genommen. Ich habe Fehler zugegeben, die ich
nicht begangen hatte, Absichten eingestanden, die ich
nie gehegt hatte. Wenn sie kalt und hart wurde, bettelte
ich darum, daß sie mir wieder gut ist, mir verzeiht, mich
liebt. Manchmal empfand ich, als leide sie selbst unter
ihrem Erkalten und Erstarren. Als sehne sie sich nach
der Wärme meiner Entschuldigungen, Beteuerungen und
Beschwörungen. Manchmal dachte ich, sie triumphiert
einfach über mich. Aber so oder so hatte ich keine Wahl.
Ich konnte mit ihr nicht darüber reden. Das Reden über
unser Streiten führte nur zu weiterem Streit. Ein- oder
zweimal habe ich ihr lange Briefe geschrieben. Aber sie
reagierte nicht, und als ich nachfragte, fragte sie zurück:
»Fängst du schon wieder an?«
51
11
Nicht daß Hanna und ich nach dem ersten Tag der
Osterferien nicht mehr glücklich gewesen wären. Wir
waren nie glücklicher als in jenen Aprilwochen. So
verstellt dieser erste Streit und überhaupt unser Streiten
war – alles, was unser Ritual des Vorlesens, Duschens,
Liebens und Beieinanderliegens öffnete, tat uns gut.
Außerdem hatte sie sich mit ihrem Vorwurf, ich hätte sie
nicht kennen wollen, festgelegt. Wenn ich mich mit ihr
zeigen wollte, konnte sie keine prinzipiellen Einwände
erheben. »Also wolltest du doch nicht mit mir gesehen
werden« – das mochte sie sich nicht sagen lassen müssen.
So fuhren wir in der Woche nach Ostern mit dem Fahrrad
weg, vier Tage Wimpfen, Amorbach und Miltenberg.
Ich weiß nicht mehr, was ich meinen Eltern gesagt
habe. Daß ich die Fahrt mit meinem Freund Matthias
mache? Mit einer Gruppe? Daß ich einen ehemaligen
Klassenkameraden besuche? Vermutlich war meine
Mutter besorgt, wie immer, und fand mein Vater, wie
immer, sie solle sich keine Sorgen machen. Hatte ich
nicht gerade die Klasse geschafft, was mir niemand
zugetraut hatte?
Während ich krank war, hatte ich mein Taschengeld
52 nicht ausgegeben. Aber das würde nicht reichen, wenn
ich auch für Hanna zahlen wollte. Also bot ich meine
Briefmarkensammlung im Briefmarkengeschäft bei
der Heiliggeistkirche zum Verkauf. Es war das einzige
Geschäft, das an der Tür den Ankauf von Sammlungen
anzeigte. Der Verkäufer sah meine Alben durch und bot
mir sechzig Mark. Ich wies ihn auf mein Prunkstück
hin, eine geradegeschnittene ägyptische Marke mit
einer Pyramide, die im Katalog mit vierhundert Mark
verzeichnet war. Er zuckte mit den Schultern. Wenn ich so
an meiner Sammlung hinge, sollte ich sie vielleicht besser
behalten. Dürfte ich sie überhaupt verkaufen? Was sagten
meine Eltern dazu? Ich versuchte zu handeln. Wenn die
Marke mit der Pyramide doch nicht wertvoll sei, würde
ich sie einfach behalten. Dann könne er mir nur noch
dreißig Mark geben. Also sei die Marke mit der Pyramide
doch wertvoll? Am Ende bekam ich siebzig Mark. Ich
fühlte mich betrogen, aber es war mir gleichgültig.
Nicht nur ich hatte Reisefieber. Zu meinem Erstaunen
war auch Hanna schon Tage vor der Reise unruhig. Sie
überlegte hin und her, was sie mitnehmen sollte, und
packte die Satteltaschen und den Rucksack, die ich für sie
besorgt hatte, um und um. Als ich ihr auf der Karte die
Route zeigen wollte, die ich mir überlegt hatte, wollte sie
nichts hören und nichts sehen. »Ich bin jetzt zu aufgeregt.
Du machst das schon richtig, Jungchen.«
Wir brachen am Ostermontag auf. Die Sonne schien,
und sie schien vier Tage lang. Morgens war es frisch, und
tags wurde es warm, nicht zu warm fürs Fahrradfahren,
aber warm genug zum Picknicken. Die Wälder waren
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Teppiche in Grün, mit gelbgrünen, hellgrünen,
flaschengrünen, blau- und schwarzgrünen Tupfern,
Flecken und Flächen. In der Rheinebene blühten schon
die ersten Obstbäume. Im Odenwald gingen gerade die
Forsythien auf.
Oft konnten wir nebeneinander fahren. Dann zeigten
wir uns, was wir sahen: die Burg, den Angler, das Schiff
auf dem Fluß, das Zelt, die Familie im Gänsemarsch am
Ufer, den amerikanischen Straßenkreuzer mit offenem
Verdeck. Wenn wir eine andere Richtung und Straße
nahmen, mußte ich vorausfahren; sie wollte sich um
Richtungen und Straßen nicht kümmern. Sonst fuhr,
wenn der Verkehr zu dicht war, mal sie hinter mir, mal ich
hinter ihr. Sie hatte ein Fahrrad mit verdeckten Speichen
und verdecktem Tretwerk und Zahnrad und trug ein
blaues Kleid, dessen weiter Rock im Fahrtwind flatterte.
Ich brauchte eine Weile, bis ich nicht mehr fürchtete, der
Rock werde in die Speichen oder ins Zahnrad geraten
und sie werde stürzen. Danach sah ich sie gerne vor mir
herfahren.
Wie hatte ich mich auf die Nächte gefreut. Ich hatte mir
vorgestellt, daß wir uns lieben, einschlafen, aufwachen,
uns wieder lieben, wieder einschlafen, wieder aufwachen
und so fort, Nacht für Nacht. Aber nur in der ersten Nacht
bin ich noch mal aufgewacht. Sie lag mit dem Rücken zu
mir, ich beugte mich über sie und küßte sie, und sie drehte
sich auf den Rücken, nahm mich in sich auf und hielt
mich in ihren Armen. »Mein Jungchen, mein Jungchen.«
Dann schlief ich auf ihr ein. Die anderen Nächte schliefen
wir durch, müde vom Fahren, von Sonne und Wind. Wir
liebten uns am Morgen.
54 Hanna überließ mir nicht nur die Wahl der Richtungen
und Straßen. Ich suchte die Gasthöfe aus, in denen wir
über Nacht blieben, trug uns als Mutter und Sohn in
die Meldezettel ein, die sie nur noch unterschrieb, und
wählte auf der Speisekarte nicht nur für mich, sondern
auch für sie das Essen aus. »Ich mag’s, mich mal um
nichts zu kümmern.«
Den einzigen Streit hatten wir in Amorbach. Ich war
früh aufgewacht, hatte mich leise angezogen und aus dem
Zimmer gestohlen. Ich wollte das Frühstück hochbringen
und wollte auch schauen, ob ich schon ein offenes
Blumengeschäft finde und eine Rose für Hanna kriege.
Ich hatte ihr einen Zettel auf den Nachttisch gelegt.
»Guten Morgen! Hole Frühstück, bin gleich wieder
zurück« – oder so ähnlich. Als ich wiederkam, stand sie
im Zimmer, halb angezogen, zitternd vor Wut, weiß im
Gesicht.
»Wie kannst du einfach so gehen!«
Ich setzte das Tablett mit Frühstück und Rose ab und
wollte sie in die Arme nehmen. »Hanna…«
»Faß mich nicht an.« Sie hatte den schmalen ledernen
Gürtel in der Hand, den sie um ihr Kleid tat, machte einen
Schritt zurück und zog ihn mir durchs Gesicht. Meine
Lippe platzte, und ich schmeckte Blut. Es tat nicht weh.
Ich war furchtbar erschrocken. Sie holte noch mal aus.
Aber sie schlug nicht noch mal. Sie ließ den Arm sinken
und den Gürtel fallen und weinte. Ich hatte sie noch nie
weinen sehen. Ihr Gesicht verlor alle Form. Aufgerissene
Augen, aufgerissener Mund, die Lider nach den ersten
Tränen verquollen, rote Flecken auf Wange und Hals. Aus
ihrem Mund kamen krächzende, kehlige Laute, ähnlich
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dem tonlosen Schrei, wenn wir uns liebten. Sie stand da
und sah mich durch ihre Tränen an.
Ich hätte sie in meine Arme nehmen sollen. Aber ich
konnte nicht. Ich wußte nicht, was tun. Bei uns zu Hause
weinte man nicht so. Man schlug nicht, nicht mit der
Hand und erst recht nicht mit einem Lederriemen. Man
redete. Aber was sollte ich sagen?
Sie machte zwei Schritte zu mir, warf sich an meine
Brust, schlug mit den Fäusten auf mich ein, klammerte
sich an mich. Jetzt konnte ich sie halten. Ihre Schultern
zuckten, sie schlug mit der Stirn an meine Brust. Dann
seufzte sie tief und kuschelte sich in meine Arme.
»Frühstücken wir?« Sie löste sich von mir. »Mein
Gott, Jungchen, wie siehst du aus!« Sie holte ein nasses
Handtuch und säuberte meinen Mund und mein Kinn.
»Und das Hemd ist voller Blut.« Sie zog mir das Hemd
aus, dann die Hose und dann zog sie sich aus, und wir
liebten uns.
»Was war eigentlich los? Warum warst du so wütend?«
Wir lagen beieinander, so befriedigt und zufrieden, daß
ich dachte, jetzt werde sich alles klären.
»Was war los, was war los – wie dumm du immer fragst.
Du kannst nicht einfach so gehen.«
»Aber ich habe dir doch einen Zettel…«
»Zettel?«
Ich setzte mich. Da, wo ich den Zettel auf den
Nachttisch gelegt hatte, lag er nicht mehr. Ich stand auf,
suchte neben und unter dem Nachttisch, unter dem Bett,
im Bett. Ich fand ihn nicht. »Ich versteh das nicht. Ich
hatte dir einen Zettel geschrieben, daß ich Frühstück hole
und gleich zurück bin.«
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»Hast du? Ich seh keinen Zettel.«
»Du glaubst mir nicht?«
»Ich will dir gerne glauben. Aber ich seh keinen Zettel.«
Wir stritten nicht mehr. War ein Windstoß gekommen,
hatte den Zettel genommen und irgend- und nirgendwo
hingetragen? War alles ein Mißverständnis gewesen, ihre
Wut, meine geplatzte Lippe, ihr wundes Gesicht, meine
Hilflosigkeit?
Hätte ich weitersuchen sollen, nach dem Zettel,
nach der Ursache von Hannas Wut, nach der Ursache
meiner Hilflosigkeit? »Lies noch was vor, Jungchen!«
Sie schmiegte sich an mich, und ich nahm Eichendorffs
»Taugenichts« und fuhr fort, wo ich beim letztenmal
geendet hatte. Der »Taugenichts« las sich leicht vor,
leichter als »Emilia Galotti« und »Kabale und Liebe«.
Hanna folgte wieder mit gespannter Anteilnahme. Sie
mochte die eingestreuten Gedichte. Sie mochte die
Verkleidungen, Verwechslungen, Verwicklungen und
Nachstellungen, in die sich der Held in Italien verstrickt.
Zugleich nahm sie ihm übel, daß er ein Taugenichts ist,
nichts leistet, nichts kann und auch nichts können will.
Sie war hin und her gerissen und konnte noch Stunden,
nachdem ich mit dem Vorlesen aufgehört hatte, mit
Fragen kommen. »Zolleinnehmer – war das kein guter
Beruf?«
Wieder ist der Bericht über unseren Streit so ausführlich
geraten, daß ich auch von unserem Glück berichten will.
Der Streit hat unser Verhältnis zueinander inniger
gemacht. Ich hatte sie weinen sehen, Hanna, die auch
weinte, war mir näher als Hanna, die nur stark war. Sie
begann, eine sanfte Seite zu zeigen, die ich noch nicht gekannt
hatte. Sie hat meine geplatzte Lippe, bis sie heilte,
immer wieder betrachtet und zart berührt.
Wir liebten uns anders. Lange hatte ich mich ganz
ihrer Führung, ihrem Besitzergreifen überlassen. Dann
hatte auch ich von ihr Besitz zu nehmen gelernt. Auf
und seit unserer Fahrt haben wir nicht mehr nur Besitz
voneinander ergriffen.
Ich habe ein Gedicht, das ich damals geschrieben habe.
Als Gedicht ist es nichts wert. Ich habe damals für Rilke
und für Benn geschwärmt, und ich erkenne, daß ich
beiden zugleich nacheifern wollte. Aber ich erkenne auch
wieder, wie nah wir einander damals waren. Hier ist das
Gedicht:
Wenn wir uns öffnen
du dich mir und ich dir mich,
wenn wir versinken
in mich du und ich in dich,
wenn wir vergehen
du mir in und dir in ich.
Dann
bin ich ich
und bist du du.
58 12
Während ich keine Erinnerungen an die Lügen habe,
die ich meinen Eltern zur Fahrt mit Hanna präsentierte,
erinnere ich mich an den Preis, den ich zahlen mußte,
damit ich in der letzten Ferienwoche alleine zu Hause
bleiben konnte. Ich weiß nicht mehr, wohin meine Eltern,
die große Schwester und der große Bruder verreisten. Das
Problem war die kleine Schwester. Sie sollte in die Familie
einer Freundin. Aber wenn ich zu Hause bliebe, wollte sie
auch zu Hause bleiben. Das wollten meine Eltern nicht.
Also sollte auch ich in die Familie eines Freundes.
Im Rückblick finde ich beachtlich, daß meine Eltern
bereit waren, mich Fünfzehnjährigen eine Woche lang
alleine zu Hause zu lassen. Hatten sie die Selbständigkeit
bemerkt, die durch die Begegnung mit Hanna in mir
gewachsen war? Oder hatten sie einfach registriert, daß ich
trotz der Monate der Krankheit die Klasse geschafft hatte,
und daraus geschlossen, daß ich verantwortungsbewußter
und vertrauenswürdiger war, als ich bisher hatte erkennen
lassen? Ich erinnere mich auch nicht, daß ich wegen der
vielen Stunden, die ich damals bei Hanna verbrachte, zur
Rechenschaft gezogen worden wäre. Meine Eltern nah59
men mir anscheinend ab, daß ich, wieder gesund, viel
mit Freunden zusammen sein, zusammen lernen und
zusammen Freizeit verbringen wollte. Überdies sind vier
Kinder ein Rudel, bei dem die Aufmerksamkeit der Eltern
nicht allen gelten kann, sondern sich auf das konzentriert,
das gerade besondere Probleme machte. Ich hatte lange
genug Probleme gemacht; meine Eltern waren erleichtert,
daß ich gesund und in die nächste Klasse versetzt war.
Als ich meine kleine Schwester fragte, was sie haben
wolle, damit sie zu ihrer Freundin gehe, während ich zu
Hause bliebe, verlangte sie Jeans, wir sagten damals Blue
Jeans oder Nietenhosen, und einen Nicki, einen samtenen
Pullover. Das verstand ich. Jeans waren damals noch
etwas Besonderes, Schickes, und überdies versprachen
sie die Befreiung von Fischgrätanzügen und großblumig
gemusterten Kleidern. Wie ich die Sachen meines Onkels
auftragen mußte, mußte meine kleine Schwester die Sachen
der großen Schwester auftragen. Aber ich hatte kein Geld.
»Dann klau sie!« Meine kleine Schwester schaute
gleichmütig.
Es war verblüffend einfach. Ich probierte
verschiedene Jeans an, nahm auch ein Paar ihrer
Größe in die Umkleidekabine und trug es unter der
weit geschnittenen Anzughose am Bauch aus dem
Geschäft. Den Nicki klaute ich im Kaufhof. Am einen
Tag schlenderten meine kleine Schwester und ich in
der Modeabteilung von Stand zu Stand, bis wir den
richtigen Stand und den richtigen Nicki gefunden hatten.
Am nächsten Tag ging ich eilenden, entschlossenen
Schritts durch die Abteilung, griff den Pullover,
barg ihn unter der Anzugsjacke und war auch schon
60 draußen. Am Tag darauf klaute ich für Hanna ein seidenes
Nachthemd, wurde vom Kaufhofdetektiv gesehen, rannte
wie um mein Leben und entkam mit Mühe und Not. Ich
habe den Kaufhof jahrelang nicht betreten.
Seit den gemeinsamen Nächten auf unserer Fahrt
hatte ich jede Nacht Sehnsucht danach, sie neben mir zu
spüren, mich an sie zu kuscheln, meinen Bauch an ihren
Po und meine Brust an ihren Rücken, meine Hand auf
ihre Brüste zu legen, beim nächtlichen Aufwachen sie mit
dem Arm zu suchen, zu finden, ein Bein über ihre Beine
zu schieben und das Gesicht an ihre Schulter zu drücken.
Eine Woche alleine zu Hause war sieben Nächte mit
Hanna.
An einem Abend habe ich sie eingeladen und für sie
gekocht. Sie stand in der Küche, als ich letzte Hand ans
Essen legte. Sie stand in der offenen Flügeltür zwischen
Eß- und Wohnzimmer, als ich auftrug. Sie saß am runden
Eßtisch, wo sonst mein Vater saß. Sie sah sich um.
Ihr Blick tastete alles ab, die Biedermeiermöbel, den
Flügel, die alte Standuhr, die Bilder, die Regale mit den
Büchern, Geschirr und Besteck auf dem Tisch. Als ich sie
alleine gelassen hatte, um den Nachtisch fertigzumachen,
fand ich sie nicht am Tisch wieder. Sie war von Zimmer zu
Zimmer gegangen und stand im Arbeitszimmer meines
Vaters. Ich lehnte mich leise an den Türpfosten und sah ihr
zu. Sie ließ ihren Blick über die Bücherregale wandern, die
die Wände füllten, als lese sie einen Text. Dann ging sie zu
einem Regal, fuhr in Brusthöhe mit dem Zeigefinger der
rechten Hand langsam die Buchrücken entlang, ging zum
nächsten Regal, fuhr mit dem Finger weiter, Buchrücken
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um Buchrücken, und schritt das ganze Zimmer ab. Beim
Fenster blieb sie stehen, sah in die Dunkelheit, auf den
Widerschein der Bücherregale und auf ihr Spiegelbild.
Es ist eines der Bilder von Hanna, die mir geblieben
sind. Ich habe sie gespeichert, kann sie auf eine
innere Leinwand projizieren und auf ihr betrachten,
unverändert, unverbraucht. Manchmal denke ich lange
nicht an sie. Aber immer kommen sie mir wieder in
den Sinn, und dann kann es sein, daß ich sie mehrfach
hintereinander auf die innere Leinwand projizieren und
betrachten muß. Eines ist Hanna, die in der Küche die
Strümpfe anzieht. Ein anderes ist Hanna, die vor der
Badewanne steht und mit ausgebreiteten Händen das
Frottiertuch hält. Ein weiteres ist Hanna, die Fahrrad
fährt und deren Rock im Fahrtwind weht. Dann ist da
das Bild von Hanna im Arbeitszimmer meines Vaters.
Sie hat ein blau-weiß gestreiftes Kleid an, ein damals so
genanntes Hemdblusenkleid. In ihm sieht sie jung aus.
Sie ist mit dem Finger die Bücherrücken entlanggefahren
und hat ins Fenster gekuckt. Jetzt dreht sie sich zu mir
um, schnell genug, daß der Rock einen kurzen Augenblick
um ihre Beine schwingt, ehe er wieder glatt hängt. Ihr