ВУЗ: Не указан
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Добавлен: 22.12.2020
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Neben diesen Bildern sah ich die anderen. Hanna, die in
der Küche die Strümpfe anzieht, die vor der Badewanne
das Frottiertuch hält, die mit wehendem Rock auf dem
Fahrrad fährt, die im Arbeitszimmer meines Vaters steht,
die vor dem Spiegel tanzt, die im Schwimmbad zu mir
herüberschaut, Hanna, die mir zuhört, die zu mir redet,
die mich anlacht, die mich liebt. Schlimm war, wenn die
Bilder durcheinander gerieten. Hanna, die mich mit den
kalten Augen und dem schmalen Mund liebt, die mir
wortlos beim Vorlesen zuhört und am Ende mit der Hand
gegen die Wand schlägt, die zu mir redet und deren Gesicht
zur Fratze wird. Das schlimmste waren die Träume,
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in denen mich die harte, herrische, grausame Hanna
sexuell erregte und von denen ich in Sehnsucht, Scham
und Empörung aufwachte. Und in der Angst, wer ich
eigentlich sei.
Ich wußte, daß die phantasierten Bilder armselige
Klischees waren. Sie wurden der Hanna, die ich erlebt
hatte und erlebte, nicht gerecht. Gleichwohl waren sie
von großer Kraft. Sie zersetzten die erinnerten Bilder von
Hanna und verbanden sich mit den Bildern vom Lager,
die ich im Kopf hatte.
Wenn ich heute an die Jahre damals denke, fällt
mir auf, wie wenig Anschauung es eigentlich gab, wie
wenig Bilder, die das Leben und Morden in den Lagern
vergegenwärtigten. Wir kannten von Auschwitz das Tor
mit seiner Inschrift, die mehrstöckigen Holzpritschen,
die Haufen von Haar und Brillen und Koffern, von
Birkenau den Eingangsbau mit Turm, Seitenflügeln
und Durchfahrt für die Züge und aus Bergen-Belsen
die Leichenberge, die die Alliierten bei der Befreiung
vorgefunden und photographiert hatten. Wir kannten
einige Berichte von Häftlingen, aber viele Berichte sind
bald nach dem Krieg erschienen und dann erst wieder
in den achtziger Jahren aufgelegt worden und gehörten
dazwischen nicht in die Programme der Verlage.
Heute sind so viele Bücher und Filme vorhanden,
daß die Welt der Lager ein Teil der gemeinsamen
vorgestellten Welt ist, die die gemeinsame wirkliche
vervollständigt. Die Phantasie kennt sich in ihr aus,
und seit der Fernsehserie »Holocaust« und Spielfilmen
wie »Sophies Wahl« und besonders »Schindlers
Liste« bewegt sie sich auch in ihr, nimmt nicht nur
wahr, sondern ergänzt und schmückt aus. Damals hat
die Phantasie sich kaum bewegt; sie hat gemeint, zu der
Erschütterung, die der Welt der Lager geschuldet werde,
passe die Bewegung der Phantasie nicht. Die paar Bilder,
die sie alliierten Photographien und Häftlingsberichten
verdankte, betrachtete sie wieder und wieder, bis sie zu
Klischees erstarrten.
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Ich beschloß wegzufahren. Wenn ich von heute auf
morgen nach Auschwitz hätte fahren können, hätte ich es
gemacht. Aber ein Visum zu bekommen, dauerte Wochen.
So bin ich zum Struthof ins Elsaß gefahren. Es war das
nächste Konzentrationslager. Ich hatte noch nie eines
gesehen. Ich wollte die Klischees mit der Wirklichkeit
austreiben.
Ich bin getrampt und erinnere mich an eine Fahrt in
einem Lastwagen, dessen Fahrer eine Flasche Bier nach
der anderen leerte, und an einen Mercedes-Fahrer, der
mit weißen Handschuhen steuerte. Hinter Straßburg
hatte ich Glück; der Wagen fuhr nach Schirmeck, einer
kleinen Stadt unweit vom Struthof.
Als ich dem Fahrer sagte, wohin genau ich unterwegs
war, schwieg er. Ich sah zu ihm hinüber, konnte in seinem
Gesicht aber nicht lesen, warum er mitten in lebhafter
Unterhaltung plötzlich verstummt war. Er war mittleren
Alters, hatte ein hageres Gesicht, ein dunkelrotes Mutteroder
Brandmal an der rechten Schläfe und strähnig
gekämmtes, akkurat gescheiteltes schwarzes Haar. Er sah
konzentriert auf die Straße.
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Vor uns liefen die Vogesen in Hügeln aus. Wir fuhren
durch Weinberge in ein sich weit öffnendes, sachte
ansteigendes Tal. Links und rechts wuchs Mischwald die
Hänge hinauf, manchmal gab’s einen Steinbruch, eine
backsteingemauerte Fabrikhalle mit gefaltetem Dach, ein
altes Sanatorium, eine große Villa mit vielen Türmchen
zwischen hohen Bäumen. Mal links, mal rechts begleitete
uns eine Eisenbahnlinie.
Dann redete er wieder. Er fragte mich, warum ich denn
Struthof besuche, und ich erzählte vom Verfahren und
von meinem Mangel an Anschauung.
»Ah, Sie wollen verstehen, warum Menschen so
furchtbare Sachen machen können.« Er klang ein bißchen
ironisch. Aber vielleicht war es auch nur die mundartliche
Färbung von Stimme und Sprache. Ehe ich antworten
konnte, redete er weiter. »Was wollen Sie eigentlich
verstehen? Daß man aus Leidenschaft mordet, aus Liebe
oder Haß oder für Ehre oder Rache, verstehen Sie?«
Ich nickte.
»Sie verstehen auch, daß man mordet, um reich zu
werden oder mächtig? Daß man im Krieg mordet oder bei
einer Revolution?«
Ich nickte wieder. »Aber…«
»Aber die, die in den Lagern gemordet wurden, hatten
denen, die sie gemordet haben, nichts getan? Wollen Sie
das sagen? Wollen Sie sagen, daß es keinen Grund zum
Haß gab und keinen Krieg?«
Ich wollte nicht wieder nicken. Was er sagte, stimmte,
aber nicht, wie er es sagte.
»Sie haben recht, es gab keinen Krieg und keinen Grund
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zum Haß. Aber auch der Henker haßt den, den er
hinrichtet, nicht und richtet ihn doch hin. Weil es ihm
befohlen wurde? Sie denken, daß er es tut, weil es ihm
befohlen wurde? Und Sie denken, daß ich jetzt von Befehl
und Gehorsam rede und davon, daß den Mannschaften
in den Lagern befohlen wurde und daß sie gehorchen
mußten?« Er lachte verächtlich. »Nein, ich rede nicht von
Befehl und Gehorsam. Der Henker befolgt keine Befehle.
Er tut seine Arbeit, haßt die nicht, die er hinrichtet, rächt
sich nicht an ihnen, bringt sie nicht um, weil sie ihm im
Weg stehen oder ihn bedrohen oder angreifen. Sie sind
ihm völlig gleichgültig. Sie sind ihm so gleichgültig, daß
er sie ebensogut töten wie nicht töten kann.«
Er sah mich an. »Kein ›aber‹? Kommen Sie, sagen
Sie, daß ein Mensch einem anderen so gleichgültig nicht
sein darf. Haben Sie das nicht gelernt? Solidarität mit
allem, was Menschenantlitz trägt? Würde des Menschen?
Ehrfurcht vor dem Leben?«
Ich war empört und hilflos. Ich suchte nach einem
Wort, einem Satz, der das, was er gesagt hatte, auslöschen
und ihm die Sprache verschlagen würde.
»Ich habe einmal«, fuhr er fort, »eine Photographie von
Erschießungen von Juden in Rußland gesehen. Die Juden
warten nackt in einer langen Reihe, einige stehen am
Rand einer Grube, und hinter ihnen stehen Soldaten mit
Gewehren und schießen sie ins Genick. Das geschieht in
einem Steinbruch, und über den Juden und Soldaten, auf
einem Sims in der Wand, sitzt ein Offizier, läßt die Beine
baumeln und raucht eine Zigarette. Er kuckt ein bißchen
verdrießlich. Vielleicht geht es ihm nicht schnell genug
voran. Er hat aber auch etwas Zufriedenes, sogar
Vergnügtes im Gesicht, vielleicht weil immerhin das
Tagwerk geschieht und bald Feierabend ist. Er haßt die
Juden nicht. Er ist nicht…«
»Waren Sie das? Haben Sie auf dem Sims gesessen
und…«
Er hielt an. Er war ganz bleich, und das Mal an seiner
Schläfe leuchtete. »Raus!«
Ich stieg aus. Er wendete so, daß ich einen Sprung zur
Seite machen mußte. Ich hörte ihn noch in den nächsten
Kurven. Dann war es still.
Ich ging die Straße bergan. Kein Auto überholte mich,
keines kam mir entgegen. Ich hörte Vögel, den Wind in
den Bäumen, manchmal das Rauschen eines Bachs. Ich
atmete erlöst. Nach einer Viertelstunde hatte ich das
Konzentrationslager erreicht.
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Ich bin unlängst noch mal hingefahren. Es war Winter,
ein klarer, kalter Tag. Hinter Schirmeck war der Wald
verschneit, weiß bepuderte Bäume und weiß bedeckter
Boden. Das Gelände des Konzentrationslagers, ein
längliches Areal auf abfallender Bergterrasse mit
weitem Blick über die Vogesen, lag weiß in der hellen
Sonne. Das graublau gestrichene Holz der zwei- und
dreistöckigen Wachtürme und der einstöckigen Baracken
kontrastierte freundlich mit dem Schnee. Gewiß, da
gab es das maschendrahtverhauene Tor mit dem Schild
»Konzentrationslager Struthof-Natzweiler« und den um
das Lager laufenden doppelten Stacheldrahtzaun. Aber
der Boden zwischen den verbliebenen Baracken, auf dem
ursprünglich weitere Baracken dicht an dicht gedrängt
standen, ließ unter der glitzernden Schneedecke vom
Lager nichts mehr erkennen. Er hätte ein Rodelhang für
Kinder sein können, die in den freundlichen Baracken
mit den gemütlichen Sprossenfenstern Winterferien
machen und gleich zu Kuchen und heißer Schokolade
hereingerufen werden.
Das Lager war geschlossen. Ich stapfte durch den
Schnee darum herum und holte mir nasse Füße. Ich
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konnte das ganze Gelände gut einsehen und erinnerte
mich, wie ich es damals, bei meinem ersten Besuch, auf
Stufen, die zwischen den Grundmauern der abgetragenen
Baracken hinabführten, abgegangen war. Ich erinnerte
mich auch an Krematoriumsöfen, die damals in einer
Baracke gezeigt worden waren, und daran, daß eine
andere Baracke ein Zellenbau gewesen war. Ich erinnerte
mich an meinen damaligen vergeblichen Versuch, mir
ein volles Lager und Häftlinge und Wachmannschaften
und das Leiden konkret vorzustellen. Ich versuchte es
wirklich, schaute auf eine Baracke, schloß die Augen und
reihte Baracke an Baracke. Ich durchmaß eine Baracke,
errechnete aus dem Prospekt die Belegung und stellte
mir die Enge vor. Ich erfuhr, daß die Stufen zwischen den
Baracken zugleich als Appellplatz dienten, und füllte sie
beim Blick vom unteren zum oberen Ende des Lagers mit
Reihen von Rücken. Aber es war alles vergeblich, und ich
hatte das Gefühl kläglichen, beschämenden Versagens.
Bei der Rückfahrt fand ich weiter unten am Hang ein
kleines, einem Restaurant gegenüber gelegenes Haus
als Gaskammer ausgewiesen. Es war weiß gestrichen,
hatte sandsteingefaßte Türen und Fenster und hätte
eine Scheune oder ein Schuppen sein können oder ein
Wohngebäude für Dienstboten. Auch dieses Haus war
geschlossen, und ich erinnerte mich nicht, damals im
Inneren gewesen zu sein. Ich bin nicht ausgestiegen.
Ich saß eine Weile bei laufendem Motor im Wagen und
schaute. Dann fuhr ich weiter.
Zuerst scheute ich mich, auf dem Heimweg durch die
Dörfer des Elsaß zu mäandern und ein Restaurant fürs
Mittagessen zu suchen. Aber die Scheu verdankte sich
150 nicht einer echten Empfindung, sondern Überlegungen,
wie man sich nach dem Besuch eines Konzentrationslagers
zu fühlen habe. Ich merkte es selbst, zuckte die Schultern
und fand in einem Dorf am Hang der Vogesen das
Restaurant »Au Petit Garçon«. Von meinem Tisch aus
hatte ich den Blick in die Ebene. »Jungchen« hatte mich
Hanna genannt.
Bei meinem ersten Besuch bin ich auf dem Gelände des
Konzentrationslagers herumgelaufen, bis es schloß. Danach
habe ich mich unter das Denkmal gesetzt, das oberhalb
des Lagers steht, und auf das Gelände hinabgeschaut.
In mir fühlte ich eine große Leere, als hätte ich nach der
Anschauung nicht da draußen, sondern in mir gesucht und
feststellen müssen, daß in mir nichts zu finden ist.
Dann wurde es dunkel. Ich mußte eine Stunde warten,
bis mich ein kleiner offener Lastwagen auf die Ladefläche
aufsitzen ließ und in das nächste Dorf mitnahm, und gab
auf, am selben Tag zurückzutrampen. Ich fand ein billiges
Zimmer in einem Dorfgasthof und aß in der Gaststube ein
dünnes Steak mit Pommes frites und Erbsen.
An einem Nachbartisch spielten lärmend vier Männer
Karten. Die Tür ging auf, und grußlos kam ein kleiner
alter Mann herein. Er trug kurze Hosen und hatte
ein Holzbein. An der Theke verlangte er Bier. Dem
Nachbartisch kehrte er seinen Rücken und seinen viel
zu großen kahlen Schädel zu. Die Kartenspieler legten
die Karten hin, griffen in die Aschenbecher, nahmen
die Kippen, warfen und trafen. Der Mann an der Theke
flatterte mit den Händen um seinen Hinterkopf, als wolle
er Fliegen abwehren. Der Wirt stellte ihm das Bier hin.
Niemand sagte etwas.
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Ich hielt es nicht aus, sprang auf und trat an den
Nachbartisch. »Hören Sie auf!« Ich zitterte vor Empörung.
In dem Moment humpelte der Mann in hüpfenden
Sprüngen heran, nestelte an seinem Bein, hatte das
Holzbein plötzlich in beiden Händen, schlug es krachend
auf den Tisch, daß die Gläser und Aschenbecher tanzten,
und ließ sich auf den freien Stuhl fallen. Dabei lachte er mit
zahnlosem Mund ein quiekendes Lachen, und die anderen
lachten mit, ein dröhnendes Bierlachen. »Hören Sie auf«,
lachten sie und zeigten auf mich, »hören Sie auf.«
In der Nacht stürmte der Wind ums Haus. Mir war
nicht kalt, und das Heulen des Winds, das Knarren des
Baums vor dem Fenster und das gelegentliche Schlagen
eines Ladens waren nicht so laut, daß ich darum
nicht hätte schlafen können. Aber ich wurde innerlich
immer unruhiger, bis ich auch äußerlich am ganzen
Körper zitterte. Ich hatte Angst, nicht als Erwartung
eines schlimmen Ereignisses, sondern als körperliche
Befindlichkeit. Ich lag da, hörte auf den Wind, war
erleichtert, wenn er schwächer und leiser wurde,
fürchtete sein erneutes Anschwellen und wußte nicht,
wie ich am nächsten Morgen aufstehen, zurücktrampen,
weiterstudieren und eines Tages Beruf und Frau und
Kinder haben sollte.
Ich wollte Hannas Verbrechen zugleich verstehen und
verurteilen. Aber es war dafür zu furchtbar. Wenn ich
versuchte, es zu verstehen, hatte ich das Gefühl, es nicht
mehr so zu verurteilen, wie es eigentlich verurteilt gehörte.
Wenn ich es so verurteilte, wie es verurteilt gehörte, blieb
kein Raum fürs Verstehen. Aber zugleich wollte ich
Hanna verstehen; sie nicht zu verstehen, bedeutete, sie
wieder zu verraten. Ich bin damit nicht fertiggeworden.
Beidem wollte ich mich stellen: dem Verstehen und dem
Verurteilen. Aber beides ging nicht.
Der nächste Tag war wieder ein wunderschöner
Sommertag. Das Trampen ging leicht, und ich war in
wenigen Stunden zurück. Ich lief durch die Stadt, als
sei ich lange weggewesen; mir waren die Straßen und
Häuser und Menschen fremd. Aber die fremde Welt der
Konzentrationslager war mir darum nicht nähergerückt.
Meine Eindrücke vom Struthof gesellten sich den wenigen
Bildern von Auschwitz und Birkenau und Bergen-Belsen
zu, die ich schon hatte, und erstarrten mit ihnen.
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Ich bin dann doch noch zum Vorsitzenden Richter
gegangen. Zu Hanna zu gehen, schaffte ich nicht. Aber
nichts zu tun, hielt ich auch nicht aus.
Warum ich nicht schaffte, mit Hanna zu reden?
Sie hatte mich verlassen, hatte mich getäuscht, war
nicht die gewesen, die ich in ihr gesehen oder auch in
sie hineinphantasiert hatte. Und wer war ich für sie
gewesen? Der kleine Vorleser, den sie benutzt, der kleine
Beischläfer, mit dem sie ihren Spaß gehabt hatte? Hätte
sie mich auch ins Gas geschickt, wenn sie mich nicht hätte
verlassen können, aber loswerden wollen?
Warum ich nicht aushielt, nichts zu tun? Ich sagte mir,
ich müsse ein Fehlurteil verhindern. Ich müsse dafür
sorgen, daß Gerechtigkeit geschieht, ungeachtet Hannas
Lebenslüge, Gerechtigkeit sozusagen für und gegen
Hanna. Aber es ging mir nicht wirklich um Gerechtigkeit.
Ich konnte Hanna nicht lassen, wie sie war oder sein
wollte. Ich mußte an ihr rummachen, irgendeine Art von
Einfluß und Wirkung auf sie haben, wenn nicht direkt,
dann indirekt.
Der Vorsitzende Richter kannte unsere Seminargruppe
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und war gerne bereit, mich nach einer Sitzung zu
einem Gespräch zu empfangen. Ich klopfte, wurde
hereingerufen, begrüßt und aufgefordert, mich auf
den Stuhl vor dem Schreibtisch zu setzen. Er saß in
Hemdsärmeln hinter dem Schreibtisch. Die Robe hing
über Rücken- und Seitenlehnen seines Stuhls; er hatte
sich in der Robe hingesetzt und sie dann hinabgleiten
lassen. Er wirkte entspannt, ein Mann, der sein Tagwerk
vollbracht hat und damit zufrieden ist. Ohne den
irritierten Gesichtsausdruck, hinter dem er sich während
der Verhandlung verschanzte, hatte er ein nettes,
intelligentes, harmloses Beamtengesicht. Er plauderte
drauflos und fragte mich nach diesem und jenem. Was
unsere Seminargruppe über das Verfahren denke, was
unser Professor mit den Protokollen vorhabe, in welchem
Semester wir seien, in welchem Semester ich sei, warum
ich Jura studiere und wann ich Examen machen wolle. Ich
solle mich auf keinen Fall zu spät zum Examen melden.
Ich beantwortete alle Fragen. Dann hörte ich ihm zu,
wie er mir von seinem Studium und seinem Examen
erzählte. Er hatte alles richtig gemacht. Er hatte zur
rechten Zeit und mit gehörigem Erfolg die erforderlichen
Übungen und Seminare und schließlich das Examen
absolviert. Er war gerne Jurist und Richter, und wenn er,
was er gemacht hatte, noch mal machen müßte, würde er
es ebenso machen.
Das Fenster stand offen. Auf dem Parkplatz wurden
Türen zugeschlagen und Motoren angelassen. Ich hörte
den Wagen nach, bis ihr Geräusch vom Rauschen des Verkehrs
geschluckt wurde. Dann spielten und lärmten Kinder
auf dem leeren Parkplatz. Manchmal war ein Wort
ganz deutlich zu vernehmen: ein Name, ein Schimpfwort,
ein Zuruf.
Der Vorsitzende Richter stand auf und verabschiedete
mich. Ich könne gerne wiederkommen, wenn ich weitere
Fragen hätte. Auch wenn ich Rat im Studium bräuchte.
Und unsere Seminargruppe solle ihn ihre Aus- und
Bewertung des Verfahrens wissen lassen.
Ich ging über den leeren Parkplatz. Von einem größeren
Jungen ließ ich mir den Weg zum Bahnhof beschreiben.
Unsere Fahrgemeinschaft war gleich nach der Sitzung
zurückgefahren, und ich mußte den Zug nehmen. Es war
ein Feierabend- und Bummelzug; er hielt Station um
Station, Leute stiegen ein und aus, ich saß am Fenster,
umgeben von immer anderen Mitreisenden, Gesprächen,
Gerüchen. Draußen zogen Häuser vorbei, Straßen,
Autos, Bäume und in der Ferne die Berge, Burgen und
Steinbrüche. Ich nahm alles wahr und fühlte nichts. Ich
war nicht mehr gekränkt, von Hanna verlassen, getäuscht
und benutzt worden zu sein. Ich mußte auch nicht mehr
an ihr rummachen. Ich spürte, wie sich die Betäubung,
unter der ich den Entsetzlichkeiten der Verhandlung
gefolgt war, auf die Gefühle und Gedanken der letzten
Wochen legte. Daß ich darüber froh gewesen wäre, wäre
viel zu viel gesagt. Aber ich empfand, daß es richtig war.
Daß es mir ermöglichte, in meinen Alltag zurückzukehren
und in ihm weiterzuleben.
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Ende Juni wurde das Urteil verkündet. Hanna bekam
lebenslänglich. Die anderen bekamen zeitliche
Freiheitsstrafen.
Der Gerichtssaal war voll wie zu Beginn der
Verhandlung. Justizpersonal, Studenten meiner und
der örtlichen Universität, eine Schulklasse, Journalisten
aus dem In- und Ausland und die, die sich immer in
Gerichtssälen einfinden. Es war laut. Als die Angeklagten
hereingeführt wurden, achtete zunächst niemand auf sie.
Aber dann verstummten die Besucher. Als erste wurden
die still, die ihre Plätze vorne bei den Angeklagten hatten.
Sie stießen ihre Nachbarn an und drehten sich zu denen
um, die ihre Plätze hinter ihnen hatten. »Schaut doch«,
tuschelten sie, und die, die schauten, wurden auch
still, stießen ihre Nachbarn an, drehten sich zu ihren
Hintermännern um und tuschelten »schaut doch«. Und
schließlich war es ganz still im Gerichtssaal.
Ich weiß nicht, ob Hanna wußte, wie sie aussah, ob sie
vielleicht sogar so aussehen wollte. Sie trug ein schwarzes
Kostüm und eine weiße Bluse, und der Schnitt des Kostüms
und die Krawatte zur Bluse ließen sie aussehen, als
trage sie eine Uniform. Ich habe die Uniform der Frauen,
die für die SS arbeiteten, nie gesehen. Aber ich meinte,
und alle Besucher meinten, sie vor uns zu haben, die
Uniform, die Frau, die in ihr für die SS arbeitete, die alles
das tat, wessen Hanna angeklagt war.
Die Besucher fingen wieder zu tuscheln an. Viele waren
hörbar empört. Sie fanden das Verfahren, das Urteil und
auch sich, die sie zur Verkündung des Urteils gekommen
waren, von Hanna verhöhnt. Sie wurden lauter, und einige
riefen Hanna zu, was sie von ihr hielten. Bis das Gericht in
den Saal kam und der Vorsitzende nach irritiertem Blick
auf Hanna das Urteil verkündete. Hanna hörte stehend
zu, in gerader Haltung und ohne jede Bewegung. Bei der
Verlesung der Begründung des Urteils saß sie. Ich wandte
den Blick nicht von ihrem Kopf und Nacken.
Die Verlesung dauerte mehrere Stunden. Als die
Verhandlung beendet war und die Angeklagten abgeführt
wurden, wartete ich, ob Hanna zu mir schauen würde.
Ich saß da, wo ich immer gesessen hatte. Aber sie schaute
geradeaus und durch alles hindurch. Ein hochmütiger,
verletzter, verlorener und unendlich müder Blick. Ein
Blick, der niemanden und nichts sehen will.
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Den Sommer nach dem Prozeß verbrachte ich im Lesesaal
der Universitätsbibliothek. Ich kam, wenn der Lesesaal
öffnete, und ging, wenn er schloß. An den Wochenenden
lernte ich zu Hause. Ich lernte so ausschließlich, so
besessen, daß die Gefühle und Gedanken, die der Prozeß
betäubt hatte, betäubt blieben. Ich vermied Kontakte. Ich
zog zu Hause aus und mietete ein Zimmer. Die wenigen
Bekannten, die mich im Lesesaal oder bei gelegentlichen
Kinobesuchen ansprachen, stieß ich zurück.
Im Wintersemester verhielt ich mich kaum anders.
Trotzdem wurde ich gefragt, ob ich mit einer Gruppe
von Studenten über Weihnachten auf eine Skihütte
mitkommen wolle. Verwundert sagte ich zu.
Ich war kein guter Skifahrer. Aber ich fuhr gerne und
schnell und hielt mit den guten Skifahrern mit. Manchmal
riskierte ich bei Abfahrten, denen ich eigentlich nicht
gewachsen war, Stürze und Brüche. Das tat ich bewußt.
Das andere Risiko, das ich einging und das sich schließlich
erfüllte, nahm ich überhaupt nicht wahr.
Mir war nie kalt. Während die anderen in Pullovern und
Jacken Ski fuhren, fuhr ich im Hemd. Die anderen schüt-
DRITTER TEIL
1
160 telten darüber den Kopf, zogen mich damit auf. Aber auch
ihre besorgten Warnungen nahm ich nicht ernst. Ich fror
eben nicht. Als ich anfing zu husten, schob ich’s auf die
österreichischen Zigaretten. Als ich anfing zu fiebern,
genoß ich den Zustand. Ich war schwach und zugleich
leicht, und die Sinneseindrücke waren wohltuend
gedämpft, wattig, füllig. Ich schwebte.
Dann bekam ich hohes Fieber und wurde ins
Krankenhaus gebracht. Als ich es verließ, war die
Betäubung vorbei. Alle Fragen, Ängste, Anklagen und
Selbstvorwürfe, alles Entsetzen und aller Schmerz, die
während des Prozesses aufgebrochen und gleich wieder
betäubt worden waren, waren wieder da und blieben auch
da. Ich weiß nicht, welche Diagnose Mediziner stellen,
wenn jemand nicht friert, obwohl er frieren müßte. Meine
eigene Diagnose ist, daß die Betäubung sich meiner
körperlich bemächtigen mußte, ehe sie mich loslassen,
ehe ich sie loswerden konnte.
Als ich das Studium beendet und das
Referendariat begonnen hatte, kam der Sommer der
Studentenbewegung. Ich interessierte mich für Geschichte
und Soziologie und war als Referendar noch genug in
der Universität, um alles mitzukriegen. Mitkriegen hieß
nicht mitmachen – Hochschule und Hochschulreform
waren mir letztlich ebenso gleichgültig wie Vietkong und
Amerikaner. Was das dritte und eigentliche Thema der
Studentenbewegung anging, die Auseinandersetzung mit
der nationalsozialistischen Vergangenheit, spürte ich
eine solche Distanz zu den anderen Studenten, daß ich
nicht mit ihnen agitieren und demonstrieren wollte.
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Manchmal denke ich, daß die Auseinandersetzung mit
der nationalsozialistischen Vergangenheit nicht der Grund,
sondern nur der Ausdruck des Generationenkonflikts
war, der als treibende Kraft der Studentenbewegung zu
spüren war. Die Erwartungen der Eltern, von denen sich
jede Generation befreien muß, waren damit, daß diese
Eltern im Dritten Reich oder spätestens nach dessen
Ende versagt hatten, einfach erledigt. Wie sollten die, die
die nationalsozialistischen Verbrechen begangen oder
bei ihnen zugesehen oder von ihnen weggesehen oder
die nach 1945 die Verbrecher unter sich toleriert oder
sogar akzeptiert hatten, ihren Kindern etwas zu sagen
haben. Aber andererseits war die nationalsozialistische
Vergangenheit ein Thema auch für Kinder, die ihren
Eltern nichts vorwerfen konnten oder wollten. Für
sie war die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen
Vergangenheit nicht die Gestalt eines
Generationenkonflikts, sondern das eigentliche Problem.
Was immer es mit Kollektivschuld moralisch und
juristisch auf sich haben oder nicht auf sich haben
mag – für meine Studentengeneration war sie eine
erlebte Realität. Sie galt nicht nur dem, was im Dritten
Reich geschehen war. Daß jüdische Grabsteine mit
Hakenkreuzen beschmiert wurden, daß so viele alte
Nazis bei den Gerichten, in der Verwaltung und an
den Universitäten Karriere gemacht hatten, daß die
Bundesrepublik den Staat Israel nicht anerkannte,
daß Emigration und Widerstand weniger überliefert
wurden als das Leben in der Anpassung – das alles
erfüllte uns mit Scham, selbst wenn wir mit dem Finger
auf die Schuldigen zeigen konnten. Der Fingerzeig
162
auf die Schuldigen befreite nicht von der Scham. Aber er
überwand das Leiden an ihr. Er setzte das passive Leiden
an der Scham in Energie, Aktivität, Aggression um.
Und die Auseinandersetzung mit schuldigen Eltern war
besonders energiegeladen.
Ich konnte auf niemanden mit dem Finger zeigen. Auf
meine Eltern schon darum nicht, weil ich ihnen nichts
vorwerfen konnte. Der aufklärerische Eifer, in dem ich
seinerzeit als Teilnehmer des KZ-Seminars meinen Vater
zu Scham verurteilt hatte, war mir vergangen, peinlich
geworden. Das aber, was andere aus meinem sozialen
Umfeld getan hatten und womit sie schuldig geworden
waren, war allemal weniger schlimm, als was Hanna
getan hatte. Ich mußte eigentlich auf Hanna zeigen. Aber