ВУЗ: Не указан
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Добавлен: 22.12.2020
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Blick ist müde.
»Sind das Bücher, die dein Vater nur gelesen oder auch
geschrieben hat?«
Ich wußte von einem Kant- und einem Hegel-Buch
meines Vater, suchte und fand beide und zeigte sie ihr.
»Lies mir ein bißchen daraus vor. Willst du nicht,
Jungchen?«
»Ich…« Ich mochte nicht, mochte ihr aber den Wunsch
auch nicht abschlagen. Ich nahm das Kant-Buch meines
Vaters und las ihr daraus vor, eine Passage über Analytik
und Dialektik, die sie und ich gleichermaßen nicht
verstanden. »Langt das?«
Sie sah mich an, als habe sie alles verstanden oder
als komme es nicht darauf an, was man versteht und
was nicht. »Wirst du eines Tages auch solche Bücher
schreiben?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Wirst du andere Bücher schreiben?«
»Ich weiß nicht.«
»Wirst du Stücke schreiben?«
»Ich weiß nicht, Hanna.«
Sie nickte. Dann haben wir den Nachtisch gegessen und
sind zu ihr gegangen. Ich hätte gerne mit ihr in meinem
Bett geschlafen, aber sie wollte nicht. Sie fühlte sich bei
mir zu Hause als Eindringling. Sie sagte es nicht mit
Worten, aber durch die Art, mit der sie in der Küche oder
in der offenen Flügeltür stand, von Zimmer zu Zimmer
ging, die Bücher meines Vaters abschritt und mit mir
beim Essen saß.
Ich schenkte ihr das seidene Nachthemd. Es war
auberginenfarben, hatte dünne Träger, ließ Schultern
und Arme frei und reichte bis an die Knöchel. Es glänzte
und schimmerte. Hanna freute sich, lachte und strahlte.
Sie sah an sich hinab, drehte sich, tanzte ein paar Schritte,
sah sich im Spiegel, betrachtete kurz ihr Spiegelbild und
tanzte weiter. Auch das ist ein Bild, das mir von Hanna
geblieben ist.
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Ich habe den Beginn eines Schuljahres immer als
Einschnitt empfunden. Der Wechsel von der Unter- in
die Obersekunda brachte eine besonders einschneidende
Veränderung. Meine Klasse wurde aufgelöst und auf die
drei Parallelklassen verteilt. Ziemlich viele Schüler hatten
die Schwelle von der Unter- zur Obersekunda nicht
geschafft, und so wurden vier kleine Klassen in drei große
zusammengelegt.
Das Gymnasium, das ich besuchte, hatte lange nur
Jungen aufgenommen. Als auch Mädchen aufgenommen
wurden, waren es zunächst so wenige, daß sie nicht
gleichmäßig auf die Parallelklassen verteilt, sondern
nur einer, später auch zwei und drei Klassen zugewiesen
wurden, bis sie jeweils ein Drittel der Klassenstärke
ausmachten. So viele Mädchen, daß auch meiner alten
Klasse welche zugewiesen worden wären, gab es in meinem
Jahrgang nicht. Wir waren die vierte Parallelklasse, eine
reine Jungenklasse. Deswegen wurden auch wir aufgelöst
und verteilt und nicht eine der anderen Klassen.
Wir erfuhren davon erst bei Beginn des neuen Schuljahrs.
Der Rektor bestellte uns in ein Klassenzimmer und
64 eröffnete uns, daß und wie wir verteilt waren. Zusammen
mit sechs Mitschülern ging ich über die leeren Gänge in
das neue Klassenzimmer. Wir bekamen die Plätze, die
übriggeblieben waren, ich einen in der zweiten Reihe. Es
waren Einzelsitze, aber in drei Kolonnen standen jeweils
zwei nebeneinander. Ich saß in der mittleren Kolonne.
Links von mir saß ein Mitschüler aus meiner alten
Klasse, Rudolf Bargen, ein schwergewichtiger, ruhiger,
verläßlicher Schach- und Hockeyspieler, mit dem ich in
der alten Klasse kaum zu tun gehabt hatte, aber bald gut
Freund war. Rechts von mir saßen jenseits des Gangs die
Mädchen.
Meine Nachbarin war Sophie. Braunhaarig, braunäugig,
sommerlich gebräunt, mit goldenen Härchen auf den
nackten Armen. Als ich mich gesetzt hatte und umsah,
lächelte sie mich an.
Ich lächelte zurück. Ich fühlte mich gut, freute
mich auf den neuen Anfang in der neuen Klasse und
auf die Mädchen. Ich hatte meine Mitschüler in der
Untersekunda beobachtet: Sie hatten, ob sie Mädchen
in der Klasse hatten oder nicht, Angst vor ihnen, wichen
ihnen aus und schnitten vor ihnen auf oder himmelten
sie an. Ich kannte die Frauen und konnte gelassen und
kameradschaftlich sein. Das mochten die Mädchen. Ich
würde in der neuen Klasse mit ihnen zurechtkommen
und dadurch auch bei den Jungen ankommen.
Geht das allen so? Ich fühlte mich, als ich jung war,
immer entweder zu sicher oder zu unsicher. Entweder kam
ich mir völlig unfähig, unansehnlich und nichtswürdig vor,
oder ich meinte, ich sei alles in allem gelungen und mir
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müsse auch alles gelingen. Fühlte ich mich sicher,
dann bewältigte ich die größten Schwierigkeiten.
Aber das kleinste Scheitern genügte, mich von meiner
Nichtswürdigkeit zu überzeugen. Die Wiedergewinnung
der Sicherheit war nie das Resultat von Erfolg; hinter
dem, was ich eigentlich von mir an Leistung erwartete
und von anderen an Anerkennung ersehnte, blieb jeder
Erfolg kläglich zurück, und ob ich diese Kläglichkeit
empfand oder ob mich der Erfolg doch stolz machte, hing
davon ab, wie es mir ging. Mit Hanna ging es mir über
viele Wochen gut – trotz unserer Auseinandersetzungen,
obwohl sie mich immer wieder zurückwies und ich mich
immer wieder erniedrigte. Und so fing auch der Sommer
in der neuen Klasse gut an.
Ich sehe das Klassenzimmer vor mir: vorne rechts
die Tür, an der rechten Wand die Holzleiste mit den
Kleiderhaken, links Fenster an Fenster und dadurch der
Blick auf den Heiligenberg und, wenn wir in den Pausen
an den Fenstern standen, hinunter auf die Straße, den
Fluß und die Wiesen am anderen Ufer, vorne Tafel,
Ständer für Landkarten und Schaubilder und Lehrerpult
und -stuhl auf fußhohem Podest. Die Wände waren bis
in Kopfhöhe in gelber Ölfarbe, darüber weiß gestrichen,
und von der Decke hingen zwei milchige Kugellampen.
Der Raum enthielt nichts Überflüssiges, keine Bilder,
keine Pflanzen, keinen überzähligen Einzelsitz, keinen
Schrank mit vergessenen Büchern und Heften oder
farbiger Kreide. Wenn der Blick schweifte, schweifte er
zum Fenster hinaus oder verstohlen zu Nachbarin und
Nachbar. Wenn Sophie merkte, daß ich sie ansah, wandte
sie sich mir zu und lächelte mich an.
»Berg, daß Sophia ein griechischer Name ist, ist kein
Grund, daß Sie im Griechischunterricht Ihre Nachbarin
studieren. übersetzen Sie!«
Wir übersetzten die Odyssee. Ich hatte sie auf deutsch
gelesen, liebte sie und liebe sie bis heute. Wenn ich
drankam, brauchte ich nur Sekunden, bis ich mich
zurechtfand und übersetzte. Als der Lehrer mich mit
Sophie aufgezogen und die Klasse zu lachen aufgehört
hatte, stotterte ich wegen etwas anderem. Nausikaa,
den Unsterblichen an Wuchs und Aussehen gleichend,
jungfräulich und weißarmig – sollte ich mir dabei Hanna
oder Sophie vorstellen? Es mußte eine von beiden sein.
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Wenn bei Flugzeugen die Motoren ausfallen, ist das
nicht das Ende des Flugs. Die Flugzeuge fallen nicht wie
Steine vom Himmel. Sie gleiten weiter, die riesengroßen,
mehrstrahligen Passagierflugzeuge eine halbe bis
Dreiviertelstunde lang, um dann beim Versuch des
Landens zu zerschellen. Die Passagiere merken nichts.
Fliegen fühlt sich bei ausgefallenen Motoren nicht anders
an als bei arbeitenden. Es ist leiser, aber nur ein bißchen
leiser: Lauter als die Motoren ist der Wind, der sich an
Rumpf und Flügeln bricht. Irgendwann sind beim Blick
durchs Fenster die Erde oder das Meer bedrohlich nah.
Oder der Film läuft, und die Stewardessen und Stewards
haben die Jalousien geschlossen. Vielleicht empfinden
die Passagiere den ein bißchen leiseren Flug sogar als
besonders angenehm.
Der Sommer war der Gleitflug unserer Liebe. Oder
vielmehr meiner Liebe zu Hanna; über ihre Liebe zu mir
weiß ich nichts.
Wir haben unser Ritual des Vorlesens, Duschens, Liebens
und Beieinanderliegens beibehalten. Ich habe »Krieg und
Frieden« vorgelesen, mit allen Darlegungen Tolstois über
Geschichte, große Männer, Rußland, Liebe und Ehe,
68 es müssen vierzig bis fünfzig Stunden gewesen sein.
Wieder ist Hanna dem Fortgang des Buchs gespannt
gefolgt. Aber es war anders als bisher; sie hielt sich mit
ihren Urteilen zurück, machte Natascha, Andrej und
Pierre nicht zum Teil ihrer Welt, wie sie das mit Luise
und Emillia getan hatte, sondern betrat ihre Welt, wie
man staunend eine ferne Reise tut oder ein Schloß betritt,
in das man eingelassen ist, in dem man verweilen darf,
mit dem man vertraut wird, ohne doch die Scheu je völlig
zu verlieren. Was ich ihr bisher vorgelesen hatte, hatte ich
davor schon gekannt. »Krieg und Frieden« war auch für
mich neu. Wir taten die ferne Reise gemeinsam.
Wir haben Kosenamen füreinander erdacht. Sie begann,
mich nicht mehr nur Jungchen zu nennen, sondern auch,
mit verschiedenen Attributen und Diminutiven, Frosch
oder Kröte, Welpe, Kiesel und Rose. Ich blieb bei Hanna,
bis sie mich fragte: »An was für ein Tier denkst du, wenn
du mich im Arm hältst, die Augen schließt und an Tiere
denkst?« Ich schloß die Augen und dachte an Tiere. Wir
lagen aneinandergeschmiegt, mein Kopf an ihrem Hals,
mein Hals an ihren Brüsten, mein rechter Arm unter ihr
und auf ihrem Rücken und mein linker auf ihrem Po.
Ich strich mit Armen und Händen über ihren breiten
Rücken, ihre harten Schenkel, ihren festen Po und spürte
auch ihre Brüste und ihren Bauch fest an Hals und Brust.
Glatt und weich fühlte sich ihre Haut an und ihr Körper
darunter kraftvoll und verläßlich. Als meine Hand auf
ihrer Wade lag, fühlte sie ein stetiges, zuckendes Spiel der
Muskeln. Es ließ mich an das Zucken der Haut denken,
mit dem Pferde Fliegen zu verscheuchen versuchen. »An
ein Pferd.«
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»Ein Pferd?« Sie löste sich von mir, richtete sich auf
und sah mich an. Sah mich entsetzt an.
»Magst du das nicht? Ich komme drauf, weil du dich
so gut anfühlst, glatt und weich und darunter fest und
stark. Und weil deine Wade zuckt.« Ich erklärte ihr meine
Assoziation.
Sie sah auf das Muskelspiel ihrer Waden. »Pferd«, sie
schüttelte den Kopf, »ich weiß nicht…«
Das war nicht ihre Art. Sie war sonst völlig eindeutig,
entweder in Zustimmung oder in Ablehnung. Ich war
unter ihrem entsetzten Blick bereit gewesen, wenn’s sein
mußte, alles zurückzunehmen, mich anzuklagen und sie
um Entschuldigung zu bitten. Aber jetzt versuchte ich,
sie mit dem Pferd zu versöhnen. »Ich könnte Cheval
zu dir sagen oder Hottehüh oder Equinchen oder
Bukeffelchen. Ich denke bei Pferd nicht an Pferdegebiß
oder Pferdeschädel oder was immer dir nicht gefällt,
sondern an etwas Gutes, Warmes, Weiches, Starkes. Du
bist kein Häschen oder Kätzchen, und Tigerin – da ist was
drin, was Böses, was du auch nicht bist.«
Sie legte sich auf den Rücken, die Arme hinter dem Kopf.
Jetzt richtete ich mich auf und sah sie an. Ihr Blick ging
ins Leere. Nach einer Weile wandte sie mir ihr Gesicht zu.
Sein Ausdruck war von eigentümlicher Innigkeit. »Doch,
ich mag, wenn du Pferd zu mir sagst oder die anderen
Pferdenamen – erklärst du sie mir?«
Einmal sind wir zusammen in der Nachbarstadt im
Theater gewesen und haben »Kabale und Liebe« gesehen.
Es war Hannas erster Theaterbesuch, und sie genoß alles,
von der Aufführung bis zum Sekt in der Pause. Ich legte
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meinen Arm um ihre Taille, und mir war egal, was die
Leute von uns als Paar denken mochten. Ich war stolz
darauf, daß es mir egal war. Zugleich wußte ich, daß es
mir im Theater in meiner Heimatstadt nicht egal gewesen
wäre. Wußte sie es auch?
Sie wußte, daß mein Leben im Sommer nicht mehr
nur um sie, die Schule und das Lernen kreiste. Immer
öfter kam ich, wenn ich am späten Nachmittag zu
ihr kam, aus dem Schwimmbad. Dort trafen sich die
Klassenkameradinnen und -kameraden, machten
zusammen Schulaufgaben, spielten Fuß- und Volleyball
und Skat und flirteten. Dort fand das gesellschaftliche
Leben der Klasse statt, und es bedeutete mir viel,
dabeizusein und dazuzugehören. Daß ich, je nach Hannas
Arbeit, später als die anderen kam oder früher ging,
war meinem Ansehen nicht abträglich, sondern machte
mich interessant. Ich wußte das. Ich wußte auch, daß
ich nichts verpaßte, und hatte doch oft das Gefühl, es
passiere, gerade wenn ich nicht dabei war, Wunder weiß
was. Ob ich lieber im Schwimmbad wäre als bei Hanna,
habe ich mich lange nicht zu fragen gewagt. Aber an
meinem Geburtstag im Juli wurde ich im Schwimmbad
gefeiert und nur bedauernd gehengelassen und von
einer erschöpften Hanna schlecht gelaunt empfangen.
Sie wußte nicht, daß mein Geburtstag war. Als ich nach
ihrem gefragt und sie mir den 21. Oktober genannt hatte,
hatte sie mich nach meinem nicht gefragt. Sie war auch
nicht schlechter gelaunt als sonst, wenn sie erschöpft
war. Aber mich ärgerte ihre schlechte Laune, und ich
wünschte mich weg, ins Schwimmbad, zu den Klassenkameradinnen
und -kameraden, zur Leichtigkeit unseres
Redens, Scherzens, Spielens und Flirtens. Als auch ich
schlecht gelaunt reagierte, wir in Streit gerieten und
Hanna mich wie Luft behandelte, kam wieder die Angst,
sie zu verlieren, und ich erniedrigte und entschuldigte
mich, bis sie mich zu sich nahm. Aber ich war voll Groll.
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Dann habe ich begonnen, sie zu verraten.
Nicht daß ich Geheimnisse preisgegeben oder Hanna
bloßgestellt hätte. Ich habe nichts offenbart, was ich
hätte verschweigen müssen. Ich habe verschwiegen, was
ich hätte offenbaren müssen. Ich habe mich nicht zu ihr
bekannt. Ich weiß, das Verleugnen ist eine unscheinbare
Variante des Verrats. Von außen ist nicht zu sehen, ob
einer verleugnet oder nur Diskretion übt, Rücksicht
nimmt, Peinlichkeiten und Ärgerlichkeiten meidet.
Aber der, der sich nicht bekennt, weiß es genau. Und der
Beziehung entzieht das Verleugnen ebenso den Boden
wie die spektakulären Varianten des Verrats.
Ich weiß nicht mehr, wann ich Hanna erstmals
verleugnet habe. Aus der Kameradschaft der
sommerlichen Nachmittage im Schwimmbad
entwickelten sich Freundschaften. Außer meinem
Banknachbarn, den ich aus der alten Klasse kannte,
mochte ich in der neuen Klasse besonders Holger
Schlüter, der sich wie ich für Geschichte und Literatur
interessierte und mit dem der Umgang rasch vertraut
wurde. Vertraut wurde er bald auch mit Sophie, die
wenige Straßen weiter wohnte und mit der ich daher
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den Weg zum Schwimmbad gemeinsam hatte. Zunächst
sagte ich mir, die Vertrautheit mit den Freunden sei noch
nicht groß genug, um von Hanna zu erzählen. Dann fand
ich nicht die richtige Gelegenheit, die richtige Stunde, das
richtige Wort. Schließlich war es zu spät, von Hanna zu
erzählen, sie mit den anderen jugendlichen Geheimnissen
zu präsentieren. Ich sagte mir, so spät von ihr zu erzählen,
müsse den falschen Eindruck erwecken, ich hätte Hanna
so lange verschwiegen, weil unsere Beziehung nicht recht
sei und ich ein schlechtes Gewissen hätte. Aber was ich
mir auch vormachte – ich wußte, daß ich Hanna verriet,
wenn ich tat, als ließe ich die Freunde wissen, was in
meinem Leben wichtig war, und über Hanna schwieg.
Daß sie merkten, daß ich nicht ganz offen war, machte
es nicht besser. An einem Abend gerieten Sophie und ich
bei der Heimfahrt in ein Gewitter und stellten uns im
Neuenheimer Feld, in dem damals noch nicht Gebäude
der Universität, sondern Felder und Gärten lagen, unter
das Vordach eines Gartenhauses. Es blitzte und donnerte,
stürmte und regnete in dichten, schweren Tropfen.
Zugleich fiel die Temperatur um wohl fünf Grad. Wir
froren, und ich legte den Arm um sie.
»Du?« Sie sah mich nicht an, sondern hinaus in den
Regen.
»Ja?«
»Du warst doch lange krank, Gelbsucht. Ist es das, was
dir zu schaffen macht? Hast du Angst, daß du nicht mehr
richtig gesund wirst? Haben die Ärzte was gesagt? Und
mußt du jeden Tag in die Klinik, Blut austauschen oder
Infusionen kriegen?«
Hanna als Krankheit. Ich schämte mich. Aber von
Hanna reden konnte ich erst recht nicht. »Nein, Sophie.
Ich bin nicht mehr krank. Meine Leberwerte sind normal,
und in einem Jahr dürfte ich sogar Alkohol trinken, wenn
ich wollte, aber ich will nicht. Was mir…« Ich mochte,
wo es um Hanna ging, nicht sagen: was mir zu schaffen
macht. »Warum ich später komme oder früher gehe, ist
was anderes.«
»Möchtest du nicht darüber reden, oder möchtest du
eigentlich schon und weißt nicht, wie?«
Mochte ich nicht, oder wußte ich nicht, wie? Ich konnte
es selbst nicht sagen. Aber wie wir da standen, unter
den Blitzen, dem hell und nah knatternden Donner und
dem prasselnden Regen gemeinsam frierend, einander
ein bißchen wärmend, hatte ich das Gefühl, daß ich ihr,
gerade ihr von Hanna erzählen müßte. »Vielleicht kann
ich ein andermal darüber reden.«
Aber es kam nie dazu.
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Ich habe nie erfahren, was Hanna machte, wenn sie
weder arbeitete noch wir zusammen waren. Fragte ich
danach, wies sie meine Frage zurück. Wir hatten keine
gemeinsame Lebenswelt, sondern sie gab mir in ihrem
Leben den Platz, den sie mir geben wollte. Damit hatte
ich mich zu begnügen. Wenn ich mehr haben und nur
schon mehr wissen wollte, war’s vermessen. Waren wir
besonders glücklich zusammen und fragte ich aus dem
Gefühl, jetzt sei alles möglich und erlaubt, dann konnte
es vorkommen, daß sie meiner Frage auswich, statt sie
zurückzuweisen. »Was du alles wissen willst, Jungchen!«
Oder sie nahm meine Hand und legte sie auf ihren Bauch.
»Möchtest du, daß er Löcher kriegt?« Oder sie zählte
an ihren Fingern. »Ich muß waschen, ich muß bügeln,
ich muß fegen, ich muß wischen, ich muß kaufen, ich
muß kochen, ich muß die Pflaumen schütteln, auflesen,
nach Hause tragen und schnell einkochen, sonst ißt
der Kleine«, sie nahm den kleinen Finger ihrer Linken
zwischen den rechten Daumen und Zeigefinger, »sonst
ißt er sie ganz allein auf.«
Ich habe sie auch nie zufällig getroffen, auf der Straße
oder in einem Geschäft oder im Kino, wohin sie, wie sie
76 sagte, gerne und oft ging und wohin ich in den ersten
Monaten immer wieder mit ihr zusammen gehen wollte,
aber sie wollte nicht. Manchmal redeten wir über Filme,
die wir beide gesehen hatten. Sie ging eigentümlich
wahllos ins Kino und sah alles, vom deutschen Kriegsund
Heimatfilm über den Wildwestfilm bis zur Nouvelle
vague, und ich mochte, was aus Hollywood kam, egal
ob’s im alten Rom oder im Wilden Westen spielte. Einen
Wildwestfilm liebten wir beide besonders; Richard
Widmark spielt einen Sheriff, der am nächsten Morgen
ein Duell bestehen muß und nur verlieren kann und am
Abend an die Tür von Dorothy Malone klopft, die ihm
vergebens zu fliehen geraten hat. Sie macht auf. »Was
willst du jetzt? Dein ganzes Leben in einer Nacht?«
Hanna neckte mich manchmal, wenn ich zu ihr kam und
voller Verlangen war. »Was willst du jetzt? Dein ganzes
Leben in einer Stunde?«
Ich sah Hanna nur einmal unverabredet. Es war Ende
Juli oder Anfang August, die letzten Tage vor den großen
Ferien.
Hanna war tagelang in sonderbarer Stimmung gewesen,
launisch und herrisch und zugleich spürbar unter einem
Druck, der sie aufs äußerste quälte und empfindlich,
verletzlich machte. Sie nahm, sie hielt sich zusammen, als
müsse sie verhindern, unter dem Druck zu zerspringen.
Auf meine Frage, was sie quäle, reagierte sie unwirsch. Ich
kam damit nicht gut zurecht. Immerhin spürte ich nicht
nur meine Zurückweisung, sondern auch ihre Hilflosigkeit
und versuchte, für sie dazusein und sie zugleich in Ruhe zu
lassen. Eines Tages war der Druck weg. Zuerst dachte ich,
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Hanna sei wieder wie immer. Wir hatten nach dem
Ende von »Krieg und Frieden« nicht sogleich ein neues
Buch begonnen, ich hatte versprochen, mich darum zu
kümmern, und hatte mehrere Bücher zur Auswahl dabei.
Aber sie wollte nicht. »Laß mich dich baden,
Jungchen.«
Es war nicht die sommerliche Schwüle, die sich beim
Betreten der Küche wie ein schweres Gewebe auf mich
gelegt hatte. Hanna hatte den Badeofen angemacht.
Sie ließ das Wasser einlaufen, gab ein paar Tropfen
Lavendel dazu und wusch mich. Die blaßblaue, geblümte
Kittelschürze, unter der sie keine Wäsche trug, klebte in
der heißen, feuchten Luft an ihrem schwitzenden Körper.
Sie erregte mich sehr. Als wir uns liebten, hatte ich das
Gefühl, sie wolle mich zu Empfindungen jenseits alles
bisher Empfundenen treiben, dahin, wo ich’s nicht mehr
aushalten konnte. Auch ihre Hingabe war einzig. Nicht
rückhaltlos; ihren Rückhalt hat sie nie preisgegeben. Aber
es war, als wolle sie mit mir zusammen ertrinken.
»Jetzt ab zu deinen Freunden.« Sie verabschiedete
mich, und ich fuhr. Die Hitze stand zwischen den Häusern,
lag über den Feldern und Gärten und flimmerte über dem
Asphalt. Ich war benommen. Im Schwimmbad drang das
Geschrei der spielenden und planschenden Kinder an
mein Ohr, als komme es aus ferner Ferne. Überhaupt
ging ich durch die Welt, als gehöre sie nicht zu mir und
ich nicht zu ihr. Ich tauchte in das chlorige, milchige
Wasser und hatte kein Bedürfnis, wieder aufzutauchen.
Ich lag bei den anderen, hörte ihnen zu und fand, was sie
redeten, lächerlich und nichtig.
Irgendwann war die Stimmung verflogen. Irgendwann
wurde es ein normaler Nachmittag im Schwimmbad mit
Hausaufgaben und Volleyball und Tratsch und Flirt.
Ich habe keine Erinnerung daran, womit ich gerade
beschäftigt war, als ich aufblickte und sie sah.
Sie stand zwanzig bis dreißig Meter entfernt, in Shorts
und offener, in der Taille geknoteter Bluse, und schaute
zu mir herüber. Ich schaute zurück. Ich konnte über die
Entfernung den Ausdruck ihres Gesichts nicht lesen. Ich
bin nicht aufgesprungen und zu ihr gelaufen. Mir ging
durch den Kopf, warum sie im Schwimmbad ist, ob sie
von mir und mit mir gesehen werden will, ob ich mit
ihr gesehen werden will, daß wir uns noch nie zufällig
getroffen haben, was ich tun soll. Dann stand ich auf. In
dem kurzen Moment, in dem ich dabei meinen Blick von
ihr ließ, ist sie gegangen.
Hanna in Shorts und geknoteter Bluse, mir ihr Gesicht
zugewandt, das ich nicht lesen kann – auch das ist ein
Bild, das ich von ihr habe.
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17
Am nächsten Tag war sie weg. Ich kam zur üblichen
Stunde und klingelte. Ich sah durch die Tür, alles sah aus
wie sonst, und ich hörte die Uhr ticken.
Wieder setzte ich mich auf die Treppenstufen. In den
ersten Monaten hatte ich immer gewußt, auf welchen
Strecken sie eingesetzt war, auch wenn ich sie nie mehr
zu begleiten oder auch nur abzuholen versucht hatte.
Irgendwann hatte ich nicht mehr danach gefragt, mich
nicht mehr dafür interessiert. Es fiel mir erst jetzt auf.
Von der Telephonzelle am Wilhelmsplatz rief ich
die Straßen- und Bergbahngesellschaft an, wurde ein
paarmal weiterverbunden und erfuhr, daß Hanna Schmitz
nicht zur Arbeit gekommen war. Ich ging zurück in die
Bahnhofstraße, fragte in der Schreinerei im Hof nach
dem Eigentümer des Hauses und bekam einen Namen
und eine Adresse in Kirchheim. Ich fuhr dorthin.
»Frau Schmitz? Die ist heute morgen ausgezogen.«
»Und ihre Möbel?«
»Das sind nicht ihre Möbel.«
»Seit wann hat sie in der Wohnung gewohnt?«
»Was geht das Sie an?« Die Frau, die sich mit mir durch
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ein Fenster in der Tür unterhalten hatte, machte das
Fenster zu.
Im Verwaltungsgebäude der Straßen- und Bergbahngesellschaft
fragte ich mich zur Personalabteilung durch.
Der Zuständige war freundlich und besorgt.
»Sie hat heute morgen angerufen, rechtzeitig, daß wir
die Vertretung organisieren konnten, und gesagt, daß sie
nicht mehr kommt. Gar nicht mehr.« Er schüttelte den
Kopf. »Vor vierzehn Tagen saß sie hier, auf Ihrem Stuhl,
und ich habe ihr angeboten, daß wir sie zur Fahrerin
ausbilden, und sie schmeißt alles hin.«
Erst Tage später habe ich daran gedacht, zum
Einwohnermeldeamt zu gehen. Sie hatte sich nach
Hamburg abgemeldet, ohne Angabe einer Anschrift.
Tagelang war mir schlecht. Ich achtete darauf, daß
Eltern und Geschwister nichts merkten. Bei Tisch redete
ich ein bißchen mit, aß ein bißchen mit und schaffte es,
wenn ich mich übergeben mußte, bis zum Klo. Ich ging
in die Schule und ins Schwimmbad. Dort verbrachte
ich die Nachmittage an einer abgelegenen Stelle, wo
mich niemand suchte. Mein Körper sehnte sich nach
Hanna. Aber schlimmer als die körperliche Sehnsucht
war das Gefühl der Schuld. Warum war ich, als sie da
stand, nicht sofort aufgesprungen und zu ihr gelaufen!
In der einen kleinen Situation bündelte sich für mich die
Halbherzigkeit der letzten Monate, aus der heraus ich
sie verleugnet, verraten hatte. Zur Strafe dafür war sie
gegangen.
Manchmal versuchte ich, mir einzureden, daß nicht sie
es war, die ich gesehen hatte. Wie konnte ich sicher sein,
daß sie es war, wo ich doch das Gesicht nicht richtig erkannt
hatte? Hätte ich, wenn sie es gewesen war, ihr
Gesicht nicht erkennen müssen? Konnte ich also nicht
sicher sein, daß sie es nicht gewesen sein konnte?
Aber ich wußte, daß sie es war. Sie stand und sah – und
es war zu spät.
83
Nachdem Hanna die Stadt verlassen hatte, dauerte es
eine Weile, bis ich aufhörte, überall nach ihr Ausschau zu
halten, bis ich mich daran gewöhnte, daß die Nachmittage
ihre Gestalt verloren hatten, und bis ich Bücher ansah
und aufschlug, ohne mich zu fragen, ob sie zum Vorlesen
geeignet wären. Es dauerte eine Weile, bis mein Körper
sich nicht mehr nach ihrem sehnte; manchmal merkte
ich selbst, wie meine Arme und Beine im Schlaf nach ihr
tasteten, und mehrmals gab mein Bruder bei Tisch zum
besten, ich hätte im Schlaf »Hanna« gerufen. Ich erinnere
mich auch an Schulstunden, in denen ich nur von ihr
träumte, nur an sie dachte. Das Gefühl einer Schuld, das
mich in den ersten Wochen gequält hatte, verlor sich.
Ich mied ihr Haus, nahm andere Wege, und nach einem
halben Jahr zog meine Familie in einen anderen Stadtteil.
Nicht daß ich Hanna vergessen hätte. Aber irgendwann
hörte die Erinnerung an sie auf, mich zu begleiten. Sie
blieb zurück, wie eine Stadt zurückbleibt, wenn der Zug