ВУЗ: Не указан
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Добавлен: 22.12.2020
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Schreien an und wurde immer schlimmer. Wenn wir jetzt
aufgemacht hätten und alle rausgerannt wären…«
Der Vorsitzende wartete einen Moment. »Hatten
Sie Angst? Hatten Sie Angst, daß die Gefangenen Sie
überwältigen würden?«
»Daß die Gefangenen uns… nein, aber wie hätten wir
da noch mal Ordnung reinbringen sollen? Das hätte ein
Durcheinander gegeben, mit dem wir nicht fertiggeworden
wären. Und wenn sie zu fliehen versucht hätten…«
Wieder wartete der Vorsitzende, aber Hanna sprach
den Satz nicht zu Ende. »Hatten Sie Angst, daß man
Sie im Fall der Flucht verhaften, verurteilen, erschießen
würde?«
»Wir hätten sie doch nicht einfach fliehen lassen
können! Wir waren doch dafür verantwortlich… Ich
meine, wir hatten sie doch die ganze Zeit bewacht,
im Lager und im Zug, das war doch der Sinn, daß wir
sie bewachen und daß sie nicht fliehen. Darum haben
wir nicht gewußt, was wir machen sollen. Wir haben
auch nicht gewußt, wie viele Frauen die nächsten Tage
überleben. Es waren schon so viele gestorben, und die,
die noch lebten, waren auch schon so schwach…«
Hanna merkte, daß sie ihrer Sache mit dem, was sie
sagte, keinen Dienst erwies. Aber sie konnte nichts ande123
res sagen. Sie konnte nur versuchen, das, was sie sagte,
besser zu sagen, besser zu beschreiben und zu erklären.
Aber je mehr sie sagte, desto schlechter sah es um ihre
Sache aus. Weil sie nicht ein noch aus wußte, wandte sie
sich wieder an den Vorsitzenden.
»Was hätten Sie denn gemacht?«
Aber diesmal wußte sie selbst, daß sie keine Antwort
bekommen würde. Sie erwartete keine Antwort. Niemand
erwartete eine Antwort. Der Vorsitzende schüttelte
stumm den Kopf.
Nicht daß man sich die Rat- und Hilflosigkeit, die
Hanna beschrieb, nicht hätte vorstellen können. Die
Nacht, die Kälte, der Schnee, das Feuer, das Schreien der
Frauen in der Kirche, das Verschwinden derer, die den
Aufseherinnen befohlen und sie begleitet hatten – wie
hätte die Situation einfach sein sollen. Aber konnte die
Einsicht, daß die Situation schwierig gewesen war, das
Entsetzen über das, was die Angeklagten getan oder
auch nicht getan hatten, relativieren? Als sei es um einen
Autounfall auf einsamer Straße in kalter Winternacht
gegangen, mit Verletzungen und Totalschaden, wo man
nicht weiß, was tun? Oder um einen Konflikt zwischen
zwei Pflichten, die beide unseren Einsatz verdienen? So
konnte man, aber man wollte sich nicht vorstellen, was
Hanna beschrieb.
»Haben Sie den Bericht geschrieben?«
»Wir haben uns zusammen überlegt, was wir schreiben
sollen. Wir wollten denen, die sich davongemacht hatten,
nichts anhängen. Aber daß wir was falsch gemacht hätten,
wollten wir uns auch nicht anziehen.«
»Sie sagen also, Sie haben zusammen überlegt. Wer hat
geschrieben?«
»Du!« Die andere Angeklagte zeigte wieder mit dem
Finger auf Hanna.
»Nein, ich habe nicht geschrieben. Ist es wichtig, wer
geschrieben hat?«
Ein Staatsanwalt schlug vor, einen Sachverständigen
die Schrift des Berichts und die Schrift der Angeklagten
Schmitz miteinander vergleichen zu lassen.
»Meine Schrift? Sie wollen meine Schrift…«
Der Vorsitzende, der Staatsanwalt und Hannas
Verteidiger diskutierten, ob eine Schrift ihre Identität
über mehr als fünfzehn Jahre durchhält und erkennen
läßt. Hanna hörte zu und setzte ein paarmal an, etwas zu
sagen oder zu fragen, war zunehmend alarmiert. Dann
sagte sie: »Sie brauchen keinen Sachverständigen holen.
Ich gebe zu, daß ich den Bericht geschrieben habe.«
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An die freitäglichen Seminarsitzungen habe ich keine
Erinnerung. Auch wenn ich mir die Gerichtsverhandlung
vergegenwärtige, fällt mir nicht ein, was wir
wissenschaftlich bearbeitet haben. Worüber haben wir
gesprochen? Was wollten wir wissen? Wessen hat uns der
Professor belehrt?
Aber ich erinnere mich an die Sonntage. Von den Tagen
im Gericht brachte ich einen mir neuen Hunger nach den
Farben und Gerüchen der Natur mit. An den Freitagen
und Samstagen habe ich das, was ich an den anderen
Wochentagen im Studium versäumte, immerhin soweit
nachgearbeitet, daß ich bei den Übungen mithalten und
das Pensum des Semesters bewältigen konnte. An den
Sonntagen bin ich losgelaufen.
Heiligenberg, Michaelsbasilika, Bismarckturm,
Philosophenweg, Flußufer – ich habe den Weg
von Sonntag zu Sonntag nur geringfügig variiert.
Ich fand genug Vielfalt darin, das von Woche zu
Woche sattere Grün und die Rheinebene mal im
Dunst der Hitze, mal hinter Regenschleiern und
mal unter Gewitterwolken zu sehen und im Wald
die Beeren und die Blumen zu riechen, wenn die
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126 Sonne auf sie brannte, und die Erde und die modernden
Blätter vom vergangenen Jahr, wenn es regnete.
Überhaupt brauche und suche ich nicht viel Vielfalt.
Die nächste Reise ein bißchen weiter als die letzte, der
nächste Urlaub in dem Ort, den ich beim letzten entdeckt
habe und der mir gefallen hat – eine Zeitlang habe ich
gemeint, kühner sein zu müssen, und mich nach Ceylon,
Ägypten und Brasilien gezwungen, ehe ich wieder dazu
überging, mir die vertrauten Regionen noch vertrauter zu
machen. In ihnen sehe ich mehr.
Ich habe die Stelle im Wald wiedergefunden, wo sich mir
Hannas Geheimnis enthüllte. Sie hat nichts Besonderes
und hatte damals nichts Besonderes, keinen eigentümlich
gewachsenen Baum oder Fels, keinen ungewöhnlichen
Blick auf die Stadt und in die Ebene, nichts, was zu
überraschenden Assoziationen einladen würde. Beim
Nachdenken über Hanna, Woche um Woche in denselben
Bahnen kreisend, hatte sich ein Gedanke abgespalten,
hatte seinen eigenen Weg verfolgt und schließlich sein
eigenes Ergebnis hervorgebracht. Als er damit fertig war,
war er damit fertig – es hätte überall sein können oder
jedenfalls überall da, wo die Vertrautheit der Umgebung
und Umstände zuläßt, das Überraschende, das einen nicht
von außen anfällt, sondern innen wächst, wahrzunehmen
und anzunehmen. So war es auf einem Weg, der steil
den Berg hinansteigt, die Fahrstraße überquert, einen
Brunnen passiert und zuerst unter alten, hohen, dunklen
Bäumen und dann durch lichtes Gehölz führt.
Hanna konnte nicht lesen und schreiben.
Deswegen hatte sie sich vorlesen lassen. Deswegen hatte
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sie mich auf unserer Fahrradtour das Schreiben und
Lesen übernehmen lassen und war am Morgen im Hotel
außer sich gewesen, als sie meinen Zettel gefunden,
meine Erwartung, sie kenne seinen Inhalt, geahnt und
ihre Bloßstellung gefürchtet hatte. Deswegen hatte sie
sich der Beförderung bei der Straßenbahn entzogen; ihre
Schwäche, die sie als Schaffnerin verbergen konnte, wäre
bei der Ausbildung zur Fahrerin offenkundig geworden.
Deswegen hatte sie sich der Beförderung bei Siemens
entzogen und war Aufseherin geworden. Deswegen hatte
sie, um der Konfrontation mit dem Sachverständigen zu
entgehen, zugegeben, den Bericht geschrieben zu haben.
Hatte sie sich deswegen im Prozeß um Kopf und Kragen
geredet? Weil sie das Buch der Tochter wie auch die
Anklage nicht hatte lesen, die Chancen ihrer Verteidigung
nicht hatte sehen und sich nicht entsprechend hatte
vorbereiten können? Hatte sie deswegen ihre Schützlinge
nach Auschwitz geschickt? Um sie, falls sie was gemerkt
haben sollten, stumm zu machen? Und hatte sie deswegen
die Schwachen zu ihren Schützlingen gemacht?
Deswegen? Daß sie sich schämte, nicht lesen und
schreiben zu können, und lieber mich befremdet als
sich bloßgestellt hatte, verstand ich. Scham als Grund
für ausweichendes, abwehrendes, verbergendes und
verstellendes, auch verletzendes Verhalten kannte ich
selbst. Aber Hannas Scham, nicht lesen und schreiben
zu können, als Grund für ihr Verhalten im Prozeß und im
Lager? Aus Angst vor der Bloßstellung als Analphabetin
die Bloßstellung als Verbrecherin? Aus Angst vor der
Bloßstellung als Analphabetin das Verbrechen?
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Wie oft habe ich mir damals und seitdem dieselben
Fragen gestellt. Wenn Hannas Motiv die Angst vor
Bloßstellung war – wieso dann statt der harmlosen
Bloßstellung als Analphabetin die furchtbare als
Verbrecherin? Oder meinte sie, ohne jede Bloßstellung
durch- und davonzukommen? War sie einfach dumm?
Und war sie so eitel und böse, für das Vermeiden einer
Bloßstellung zur Verbrecherin zu werden?
Ich habe es damals und seitdem immer wieder
verworfen. Nein, habe ich mir gesagt, Hanna hatte sich
nicht für das Verbrechen entschieden. Sie hatte sich gegen
die Beförderung bei Siemens entschieden und war in die
Tätigkeit als Aufseherin hineingeraten. Und nein, sie
hatte die Zarten und Schwachen nicht mit dem Transport
nach Auschwitz geschickt, weil sie ihr vorgelesen hatten,
sondern hatte sie fürs Vorlesen ausgewählt, weil sie
ihnen den letzten Monat erträglich machen wollte, ehe
sie ohnehin nach Auschwitz mußten. Und nein, im
Prozeß wog Hanna nicht zwischen der Bloßstellung als
Analphabetin und der Bloßstellung als Verbrecherin
ab. Sie kalkulierte und taktierte nicht. Sie akzeptierte,
daß sie zur Rechenschaft gezogen wurde, wollte nur
nicht überdies bloßgestellt werden. Sie verfolgte nicht
ihr Interesse, sondern kämpfte um ihre Wahrheit, ihre
Gerechtigkeit. Es waren, weil sie sich immer ein bißchen
verstellen mußte, weil sie nie ganz offen, nie ganz sie
selbst sein konnte, eine klägliche Wahrheit und eine
klägliche Gerechtigkeit, aber es waren ihre, und der
Kampf darum war ihr Kampf.
Sie mußte völlig erschöpft sein. Sie kämpfte nicht nur
im Prozeß. Sie kämpfte immer und hatte immer gekämpft,
nicht um zu zeigen, was sie kann, sondern um zu
verbergen, was sie nicht kann. Ein Leben, dessen
Aufbrüche in energischen Rückzügen und dessen Siege in
verheimlichten Niederlagen bestehen.
Seltsam berührte mich die Diskrepanz zwischen
dem, was Hanna beim Verlassen meiner Heimatstadt
beschäftigt haben mußte, und dem, was ich mir damals
vorgestellt und ausgemalt hatte. Ich war sicher gewesen,
sie vertrieben, weil verraten und verleugnet zu haben, und
tatsächlich hatte sie sich einfach einer Bloßstellung bei der
Straßenbahn entzogen. Allerdings änderte der Umstand,
daß ich sie nicht vertrieben hatte, nichts daran, daß ich
sie verraten hatte. Also blieb ich schuldig. Und wenn ich
nicht schuldig war, weil der Verrat einer Verbrecherin
nicht schuldig machen kann, war ich schuldig, weil ich
eine Verbrecherin geliebt hatte.
130 Indem Hanna zugab, den Bericht geschrieben zu haben,
hatten die anderen Angeklagten leichtes Spiel. Hanna
habe, wo nicht allein gehandelt, die anderen bedrängt,
bedroht, gezwungen. Sie habe das Kommando an sich
gerissen. Sie habe Feder und Wort geführt. Sie habe
entschieden.
Die Bewohner des Dorfs, die als Zeugen aussagten,
konnten das weder bestätigen noch widerlegen. Sie
hatten gesehen, daß die brennende Kirche von mehreren
Frauen in Uniform bewacht und nicht geöffnet wurde,
und hatten sich daher nicht getraut, sie selbst zu öffnen.
Sie waren den Frauen am nächsten Morgen begegnet, als
sie aufbrachen, und erkannten sie in den Angeklagten
wieder. Aber welche Angeklagte bei der morgendlichen
Begegnung den Ton angegeben hatte, ob überhaupt eine
Angeklagte den Ton angegeben hatte, wußten sie nicht zu
sagen.
»Aber Sie können nicht ausschließen, daß diese
Angeklagte«, der Anwalt einer der anderen Angeklagten
zeigte auf Hanna, »die Entscheidungen traf?«
Sie konnten es nicht, wie sollten sie auch, und angesichts
der anderen Angeklagten, sichtbar älter, müder, feiger und
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bitterer, wollten sie es auch nicht. Im Vergleich mit den
anderen Angeklagten war Hanna die Führerin. Außerdem
entlastete die Existenz einer Führerin die Bewohner des
Dorfs; gegenüber einer straff geführten Einheit auf die
Leistung von Hilfe verzichtet zu haben, machte sich
besser als der Verzicht gegenüber einer Gruppe verwirrter
Frauen.
Hanna kämpfte weiter. Sie gab zu, was stimmte, und
bestritt, was nicht stimmte. Sie bestritt mit zunehmend
verzweifelter Heftigkeit. Sie wurde nicht laut. Aber
schon die Intensität, mit der sie redete, befremdete das
Gericht.
Schließlich gab sie auf. Sie redete nur noch, wenn sie
gefragt wurde, sie antwortete kurz, dürftig, manchmal
fahrig. Wie um sichtbar zu machen, daß sie aufgegeben
hatte, blieb sie jetzt, wenn sie redete, sitzen. Der
Vorsitzende Richter, der ihr zu Beginn der Verhandlung
mehrfach gesagt hatte, sie müsse nicht stehen, sie könne
gerne sitzen, nahm auch das befremdet zur Kenntnis.
Manchmal hatte ich gegen Ende der Verhandlung den
Eindruck, das Gericht habe genug, wolle die Sache
endlich hinter sich bringen, sei schon nicht mehr bei der
Sache, sondern anderswo, wieder in der Gegenwart nach
langen Wochen in der Vergangenheit.
Auch ich hatte genug. Aber ich konnte die Sache nicht
hinter mir lassen. Für mich ging die Verhandlung nicht
zu Ende, sondern begann. Ich war Zuschauer gewesen
und plötzlich Teilnehmer geworden, Mitspieler und
Mitentscheider. Ich hatte diese neue Rolle nicht gesucht
und gewählt, aber ich hatte sie, ob ich wollte oder nicht,
ob ich etwas tat oder mich völlig passiv verhielt.
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Etwas tat – es ging nur um eines. Ich konnte zum
Vorsitzenden Richter gehen und ihm sagen, daß Hanna
Analphabetin war. Daß sie nicht die Hauptakteurin und
-schuldige war, zu der die anderen sie machten. Daß ihr
Verhalten im Prozeß nicht besondere Unbelehrbarkeit,
Uneinsichtigkeit oder Dreistigkeit anzeigte, sondern aus
der mangelnden vorherigen Kenntnis der Anklage und
des Manuskripts und wohl auch aus dem Fehlen jeden
strategischen oder taktischen Sinns resultierte. Daß sie in
ihrer Verteidigung erheblich beeinträchtigt war. Daß sie
schuldig, aber nicht so schuldig war, wie es den Anschein
hatte.
Vielleicht würde ich den Vorsitzenden nicht überzeugen.
Aber ich würde ihn zum Nachdenken und Nachforschen
bringen. Am Ende würde sich erweisen, daß ich recht
hatte, und Hanna würde zwar bestraft, aber geringer
bestraft werden. Sie würde zwar ins Gefängnis müssen,
aber früher wieder rauskönnen, früher wieder frei sein
– war es nicht das, worum sie kämpfte?
Ja, sie kämpfte darum, war aber nicht willens, für den
Erfolg den Preis ihrer Bloßstellung als Analphabetin
zu zahlen. Sie würde auch nicht wollen, daß ich ihre
Selbstdarstellung für ein paar Gefängnisjahre verkaufen
würde. Sie konnte solchen Handel selbst machen, sie
machte ihn nicht, also wollte sie ihn nicht. Ihr war ihre
Selbstdarstellung die Gefängnisjahre wert.
Aber war sie’s wirklich wert? Was hatte sie von dieser
verlogenen Selbstdarstellung, die sie fesselte, lähmte,
nicht sich entfalten ließ? Mit der Energie, mit der sie ihre
Lebenslüge aufrechterhielt, hätte sie längst lesen und
schreiben lernen können.
Ich habe damals mit Freunden über das Problem
zu reden versucht. Stell dir vor, jemand rennt in sein
Verderben, absichtlich, und du kannst ihn retten – rettest
du ihn? Stell dir eine Operation vor und einen Patienten,
der Drogen nimmt, mit denen sich die Anästhesie nicht
verträgt, der sich aber schämt, daß er die Drogen nimmt,
und es dem Anästhesisten nicht sagen will – redest du mit
dem Anästhesisten? Stell dir eine Gerichtsverhandlung
vor und einen Angeklagten, der bestraft wird, wenn er
nicht offenbart, daß er Linkshänder ist und daher die
Tat, die mit der rechten Hand ausgeführt wurde, nicht
begangen haben kann, der sich aber schämt, daß er
Linkshänder ist – sagst du dem Richter, was los ist?
Stell dir vor, daß er schwul ist, die Tat als Schwuler
nicht begangen haben kann, sich aber schämt, schwul zu
sein. Es geht nicht darum, ob man sich schämen Sollte,
Linkshänder oder schwul zu sein – stell dir einfach vor,
daß der Angeklagte sich schämt.
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Ich beschloß, mit meinem Vater zu reden. Nicht weil
wir uns so nahe gewesen wären. Mein Vater war
verschlossen, konnte weder uns Kindern seine Gefühle
mitteilen noch etwas mit den Gefühlen anfangen, die wir
ihm entgegenbrachten. Lange vermutete ich hinter dem
unmitteilsamen Verhalten einen Reichtum ungehobener
Schätze. Aber später fragte ich mich, ob da überhaupt
etwas war. Vielleicht war er als junge und junger
Mann reich an Gefühlen gewesen und hatte sie, ihnen
keinen Ausdruck gebend, über die Jahre verdorren und
absterben lassen.
Aber gerade wegen der Distanz zwischen uns suchte
ich das Gespräch mit ihm. Ich suchte das Gespräch mit
dem Philosophen, der über Kant und Hegel geschrieben
hatte, von denen ich wußte, daß sie sich mit moralischen
Fragen beschäftigt hatten. Er sollte auch in der Lage sein,
mein Problem abstrakt zu erörtern, und sich, anders als
meine Freunde, nicht an den Defiziten meiner Beispiele
aufhalten.
Wenn wir Kinder unseren Vater sprechen wollten, gab
er uns Termine wie seinen Studenten. Er arbeitete zu
Hause und ging in die Universität nur, um seine Kollegs
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und Seminare zu halten. Die Kollegen und Studenten,
die ihn sprechen wollten, kamen zu ihm nach Hause. Ich
erinnere mich an Reihen von Studenten, die im Korridor
an der Wand lehnten und warteten, bis sie an die Reihe
kamen, manche lesend, andere die Stadtansichten
betrachtend, die im Korridor hingen, andere ins Leere
starrend, alle stumm, bis auf einen verlegenen Gruß,
wenn wir Kinder grüßend durch den Flur gingen. Wir
selbst warteten nicht im Flur, wenn unser Vater uns
einen Termin gegeben hatte. Aber auch wir klopften zum
festgesetzten Zeitpunkt an die Tür seines Arbeitszimmers
und wurden hereingerufen.
Ich habe zwei Arbeitszimmer meines Vaters erlebt. Die
Fenster des ersten, in dem Hanna die Bücher mit dem
Finger abgeschritten hat, gingen auf Straßen und Häuser.
Die des zweiten gingen auf die Rheinebene. Das Haus,
in das wir Anfang der sechziger Jahre gezogen und in
dem meine Eltern wohnen geblieben sind, als wir Kinder
groß waren, lag über der Stadt am Hang. Hier wie dort
weiteten die Fenster den Raum nicht in die Welt draußen,
sondern hängten diese in das Zimmer wie Bilder. Das
Arbeitszimmer meines Vaters war ein Gehäuse, in
dem die Bücher, Papiere, Gedanken und der Pfeifenund
Zigarrenrauch eigene, von denen der Außenwelt
verschiedene Druckverhältnisse geschaffen hatten. Sie
waren mir zugleich vertraut und fremd.
Mein Vater ließ mich mein Problem präsentieren, in der
abstrakten Fassung und mit den Beispielen. »Es hat mit
dem Prozeß zu tun, nicht wahr?« Aber er schüttelte den
Kopf, um mir zu bedeuten, daß er keine Antwort erwarte,
136 nicht in mich dringen, von mir nichts wissen wolle, was
ich nicht von mir aus sagte. Dann saß er, den Kopf zur
Seite geneigt, mit den Händen die Armlehnen festhaltend,
und dachte nach. Er sah mich nicht an. Ich betrachtete
ihn, sein graues Haar, seine wie immer schlecht rasierten
Backen, die scharfen Falten zwischen den Augen und von
den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln. Ich wartete.
Als er redete, holte er weit aus. Er belehrte mich über
Person, Freiheit und Würde, über den Menschen als
Subjekt und darüber, daß man ihn nicht zum Objekt
machen dürfe. »Erinnerst du dich nicht mehr, wie es dich
als kleinen Jungen empören konnte, wenn Mama besser
wußte als du, was für dich gut war? Schon wieweit man
das bei Kindern tun darf, ist ein wirkliches Problem. Es
ist ein philosophisches Problem, aber die Philosophie
kümmert sich nicht um die Kinder. Sie hat sie der
Pädagogik überlassen, wo sie schlecht aufgehoben sind.
Die Philosophie hat die Kinder vergessen«, er lächelte
mich an, »für immer vergessen, nicht nur für manchmal,
wie ich euch.«
»Aber…«
»Aber bei Erwachsenen sehe ich schlechterdings
keinerlei Rechtfertigung dafür, das, was ein anderer für
sie für gut hält, über das zu setzen, was sie selbst für sich
für gut halten.«
»Auch nicht, wenn sie später selbst glücklich damit
sind?«
Er schüttelte den Kopf. »Wir reden nicht über Glück,
sondern über Würde und Freiheit. Schon als kleiner
Junge hast du den Unterschied gekannt. Es hat dich nicht
getröstet, daß Mama immer recht hatte.«
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Heute denke ich gerne an das Gespräch mit meinem
Vater zurück. Ich hatte es vergessen, bis ich nach seinem
Tod begann, im Bodensatz der Erinnerung nach schönen
Begegnungen, Erlebnissen und Erfahrungen mit ihm zu
suchen. Als ich es fand, betrachtete ich es verwundert und
beglückt. Damals war ich zunächst verwirrt von meines
Vaters Mischung aus Abstraktion und Anschaulichkeit.
Aber schließlich machte ich mir auf das, was er gesagt
hatte, den Reim, daß ich nicht mit dem Richter reden
mußte, daß ich gar nicht mit ihm reden durfte, und war
erleichtert.
Mein Vater sah es mir an. »So gefällt dir die
Philosophie?«
»Naja, ich wußte nicht, ob man in der Situation, die
ich beschrieben habe, handeln muß, und war eigentlich
nicht glücklich mit der Vorstellung, daß man muß,
und wenn man nun gar nicht handeln darf – ich finde
das…« Ich wußte nicht, was sagen. Erleichternd?
Beruhigend? Angenehm? Das klang nicht nach Moral
und Verantwortung. Ich finde es gut, klang moralisch und
verantwortlich, aber ich konnte nicht sagen, daß ich es
gut, daß ich es mehr als nur erleichternd fand.
»Angenehm?« schlug mein Vater vor.
Ich nickte mit dem Kopf und zuckte mit den Schultern.
»Nein, dein Problem hat keine angenehme Lösung.
Natürlich muß man handeln, wenn die von dir
beschriebene Situation eine Situation zugewachsener
oder übernommener Verantwortung ist. Wenn man weiß,
was für den anderen gut ist und daß er die Augen davor
verschließt, muß man versuchen, ihm die Augen zu öffnen.
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Man muß ihm das letzte Wort lassen, aber man muß
mit ihm reden, mit ihm, nicht hinter seinem Rücken mit
jemand anderem.«
Mit Hanna reden? Was sollte ich ihr sagen? Daß ich
ihre Lebenslüge durchschaut hatte? Daß sie drauf und
dran war, ihr ganzes Leben dieser dummen Lüge zu
opfern? Daß die Lüge das Opfer nicht wert war? Daß
sie darum kämpfen sollte, nicht länger als nötig ins
Gefängnis zu müssen, um danach noch viel mit ihrem
Leben anzufangen? Was eigentlich? Ob viel, etwas
oder wenig – was sollte sie mit ihrem Leben anfangen?
Konnte ich ihr ihre Lebenslüge wegnehmen, ohne ihr
eine Lebensperspektive zu eröffnen? Ich wußte keine
langfristige, und ich wußte auch nicht, wie ich ihr
gegenübertreten und sagen sollte, es sei schon richtig, daß
nach dem, was sie getan hatte, ihre Lebensperspektive
kurz- und mittelfristig Gefängnis heißen würde. Ich
wußte nicht, wie ich ihr gegenübertreten und irgend
etwas sagen sollte. Ich wußte überhaupt nicht, wie ich ihr
gegenübertreten sollte.
Ich fragte meinen Vater: »Und was ist, wenn man nicht
mit ihm reden kann?«
Er sah mich zweifelnd an, und ich wußte selbst, daß
die Frage neben der Sache lag. Es gab nichts mehr zu
moralisieren. Ich mußte mich nur noch entscheiden.
»Ich habe dir nicht helfen können.« Mein Vater stand
auf und ich auch. »Nein, du mußt nicht gehen, mir tut
nur der Rücken weh.« Er stand krumm, die Hände auf die
Nieren gepreßt. »Ich kann nicht sagen, daß es mir leid tut,
daß ich dir nicht helfen kann. Als der Philosoph, meine
ich, als den du mich gefragt hast. Als Vater finde ich die
Erfahrung, meinen Kindern nicht helfen zu können,
schier unerträglich.«
Ich wartete, aber er redete nicht weiter. Ich fand, er
mache es sich leicht; ich wußte, wann er sich mehr um
uns hätte kümmern und wie er uns mehr hätte helfen
können. Dann dachte ich, daß er das vielleicht selbst weiß
und wirklich schwer daran trägt. Aber so oder so konnte
ich ihm nichts sagen. Ich wurde verlegen und hatte das
Gefühl, daß auch er verlegen war.
»Ja, dann…«
»Du kannst jederzeit kommen.« Mein Vater sah mich
an.
Ich glaubte ihm nicht und nickte.
140 13
Im Juni flog das Gericht für zwei Wochen nach Israel.
Die dortige Vernehmung war eine Sache weniger Tage.
Aber Richter und Staatsanwälte verbanden das justizielle
mit dem touristischen Ereignis, Jerusalem und Tel Aviv,
Negev und Rotes Meer. Das war dienst-, urlaubs- und
kostenrechtlich sicher in Ordnung. Gleichwohl fand ich
es bizarr.
Ich hatte geplant, die zwei Wochen ganz ans Studium
zu wenden. Aber es lief nicht so, wie ich es mir vorgestellt
und vorgenommen hatte. Ich konnte mich nicht aufs
Lernen konzentrieren, nicht auf die Professoren und
nicht auf die Bücher. Wieder und wieder schweiften
meine Gedanken ab und verloren sich in Bildern.
Ich sah Hanna bei der brennenden Kirche, mit hartem
Gesicht, schwarzer Uniform und Reitpeitsche. Mit der
Reitpeitsche zeichnet sie Kringel in den Schnee und schlägt
gegen die Stiefelschäfte. Ich sah sie, wie sie sich vorlesen
läßt. Sie hört aufmerksam zu, stellt keine Fragen und
macht keine Bemerkungen. Als die Stunde vorbei ist, teilt
sie der Vorleserin mit, daß sie morgen mit dem Transport
nach Auschwitz geht. Die Vorleserin, ein schmächti141
ges Geschöpf mit schwarzen Haarstoppeln und kurzsichtigen
Augen, beginnt zu weinen. Hanna schlägt mit
der Hand gegen die Wand, und zwei Frauen treten
ein, auch sie Häftlinge in gestreiftem Gewand, und
zerren die Vorleserin raus. Ich sah Hanna Lagerstraßen
entlanggehen und in Häftlingsbaracken treten und
Bauarbeiten überwachen. Sie tut alles mit demselben
harten Gesicht, mit kalten Augen und schmalem Mund,
und die Häftlinge ducken sich, beugen sich über die
Arbeit, drücken sich an die Wand, in die Wand, wollen in
der Wand verschwinden. Manchmal sind viele Häftlinge
angetreten oder laufen hierhin und dorthin oder formen
Reihen oder marschieren, und Hanna steht dazwischen
und schreit Kommandos, das schreiende Gesicht eine
häßliche Fratze, und hilft mit der Reitpeitsche nach. Ich
sah den Kirchturm ins Kirchendach schlagen und die
Funken stieben und hörte die Verzweiflung der Frauen.
Ich sah die ausgebrannte Kirche am nächsten Morgen.