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Добавлен: 22.12.2020

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weiterfährt. Sie ist da, irgendwo hinter einem, und man

könnte hinfahren und sich ihrer versichern. Aber warum

sollte man.

ZWEITER TEIL

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Ich habe die letzten Jahre auf der Schule und die ersten

auf der Universität als glückliche Jahre in Erinnerung.

Zugleich kann ich nur wenig über sie sagen. Sie waren

mühelos; das Abitur und das aus Verlegenheit gewählte

Studium der Rechtswissenschaft fielen mir nicht schwer,

Freundschaften, Liebschaften und Trennungen fielen mir

nicht schwer, nichts fiel mir schwer. Alles fiel mir leicht,

alles wog leicht. Vielleicht ist das Erinnerungspäckchen

deshalb so klein. Oder halte ich es klein? Ich frage mich

auch, ob die glückliche Erinnerung überhaupt stimmt.

Wenn ich länger zurückdenke, kommen mir genug

beschämende und schmerzliche Situationen in den Sinn

und weiß ich, daß ich die Erinnerung an Hanna zwar

verabschiedet, aber nicht bewältigt hatte. Mich nach

Hanna nie mehr demütigen lassen und demütigen, nie

mehr schuldig machen und schuldig fühlen, niemanden

mehr so lieben, daß ihn verlieren weh tut – ich habe

das damals nicht in Deutlichkeit gedacht, aber mit

Entschiedenheit gefühlt.

Ich gewöhnte mir ein großspuriges, überlegenes Gehabe

an, ich präsentierte mich als einen, den nichts berührt,

erschüttert, verwirrt. Ich ließ mich auf nichts ein, und

ich erinnere mich an einen Lehrer, der das durchschaute,

mich darauf ansprach und den ich arrogant abfertigte.

Ich erinnere mich auch an Sophie. Bald nachdem Hanna

die Stadt verlassen hatte, wurde bei Sophie Tuberkulose

diagnostiziert. Sie verbrachte drei Jahre im Sanatorium

und kam zurück, als ich gerade Student geworden war.

Sie fühlte sich einsam, suchte den Kontakt zu alten

Freunden, und ich hatte es nicht schwer, mich in ihr Herz

zu drängen. Nachdem wir zusammen geschlafen hatten,

merkte sie, daß es mir nicht wirklich um sie zu tun war,

und sagte unter Tränen: »Was ist mit dir passiert, was ist

mit dir passiert.« Ich erinnere mich an meinen Großvater,

der mich bei einem meiner letzten Besuche vor seinem

Tod segnen wollte und dem ich erklärte, ich glaube nicht

daran und lege darauf keinen Wert. Daß ich mich nach

solchem Verhalten damals gut gefühlt haben soll, ist mir

schwer vorstellbar. Ich erinnere mich auch daran, daß

ich angesichts kleiner Gesten liebevoller Zuwendung

einen Kloß im Hals spürte, ob die Gesten mir galten oder

jemand anderem. Manchmal genügte eine Szene in einem

Film. Dieses Nebeneinander von Kaltschnäuzigkeit und

Empfindsamkeit war mir selbst suspekt.

86 Ich sah Hanna im Gerichtssaal wieder.

Es war nicht der erste KZ-Prozeß und keiner der

großen. Der Professor, einer der wenigen, die damals

über die Nazi-Vergangenheit und die einschlägigen

Gerichtsverfahren arbeiteten, hatte ihn zum Gegenstand

eines Seminars gemacht, weil er hoffte, ihn mit Hilfe von

Studenten über die ganze Dauer verfolgen und auswerten

zu können. Ich weiß nicht mehr, was er überprüfen,

bestätigen oder widerlegen wollte. Ich erinnere mich, daß

im Seminar über das Verbot rückwirkender Bestrafung

diskutiert wurde. Genügt es, daß der Paragraph, nach dem

die KZ-Wächter und -Schergen verurteilt werden, schon

zur Zeit ihrer Taten im Strafgesetzbuch stand, oder kommt

es darauf an, wie er zur Zeit ihrer Taten verstanden und

angewandt und daß er damals eben nicht auf sie bezogen

wurde? Was ist das Recht? Was im Buch steht oder was

in der Gesellschaft tatsächlich durchgesetzt und befolgt

wird? Oder ist Recht, was, ob es im Buch steht oder nicht,

durchgesetzt und befolgt werden müßte, wenn alles mit

rechten Dingen zuginge? Der Professor, ein alter Herr,

aus der Emigration zurückgekehrt, aber in der deutschen

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87

Rechtswissenschaft ein Außenseiter geblieben, nahm an

diesen Diskussionen mit all seiner Gelehrsamkeit und

zugleich mit der Distanz dessen teil, der für die Lösung

eines Problems nicht mehr auf Gelehrsamkeit setzt.

»Sehen Sie sich die Angeklagten an – Sie werden keinen

finden, der wirklich meint, er habe damals morden

dürfen.«

Das Seminar begann im Winter, die Gerichtsverhandlung

im Frühjahr. Sie zog sich über viele Wochen hin.

Verhandelt wurde montags bis donnerstags, und für

jeden dieser vier Tage hatte der Professor eine Gruppe

von Studenten eingeteilt, die ein wörtliches Protokoll

führten. Am Freitag war Seminarsitzung und wurden die

Ereignisse der vergangenen Woche aufgearbeitet.

Aufarbeitung! Aufarbeitung der Vergangenheit! Wir

Studenten des Seminars sahen uns als Avantgarde der

Aufarbeitung. Wir rissen die Fenster auf, ließen die Luft

herein, den Wind, der endlich den Staub aufwirbelte,

den die Gesellschaft über die Furchtbarkeiten der

Vergangenheit hatte sinken lassen. Wir sorgten dafür,

daß man atmen und sehen konnte. Auch wir setzten nicht

auf juristische Gelehrsamkeit. Daß verurteilt werden

müsse, stand für uns fest. Ebenso fest stand für uns, daß

es nur vordergründig um die Verurteilung dieses oder

jenes KZ-Wächters und -Schergen ging. Die Generation,

die sich der Wächter und Schergen bedient oder sie nicht

gehindert oder sie nicht wenigstens ausgestoßen hatte,


als sie sie nach 1945 hätte ausstoßen können, stand vor

Gericht, und wir verurteilten sie in einem Verfahren der

Aufarbeitung und Aufklärung zu Scham.

Unsere Eltern hatten im Dritten Reich ganz verschie88

dene Rollen gespielt. Manche Väter waren im Krieg

gewesen, darunter zwei oder drei Offiziere der Wehrmacht

und ein Offizier der Waffen-SS, einige hatten Karrieren in

Justiz und Verwaltung gemacht, wir hatten Lehrer und

Ärzte unter unseren Eltern, und einer hatte einen Onkel,

der hoher Beamter beim Reichsminister des Inneren

gewesen war. Ich bin sicher, daß sie, soweit wir sie gefragt

und sie uns geantwortet haben, ganz Verschiedenes

mitzuteilen hatten. Mein Vater wollte nicht über sich

reden. Aber ich wußte, daß er seine Stelle als Dozent der

Philosophie wegen der Ankündigung einer Vorlesung

über Spinoza verloren und sich und uns als Lektor

eines Verlags für Wanderkarten und -bücher durch den

Krieg gebracht hatte. Wie kam ich dazu, ihn zu Scham

zu verurteilen? Aber ich tat es. Wir alle verurteilten

unsere Eltern zu Scham, und wenn wir sie nur anklagen

konnten, die Täter nach 1945 bei sich, unter sich geduldet

zu haben.

Wir Studenten des Seminars entwickelten eine starke

Gruppenidentität. Wir vom KZ-Seminar – zunächst

nannten die anderen Studenten es so und bald auch

wir selbst. Was wir machten, interessierte die anderen

nicht; es befremdete viele, stieß manche geradezu ab. Ich

denke jetzt, daß der Eifer, mit dem wir Furchtbarkeiten

zur Kenntnis nahmen und anderen zur Kenntnis bringen

wollten, tatsächlich abstoßend war. Je furchtbarer die

Ereignisse waren, über die wir lasen und hörten, desto

gewisser wurden wir unseres aufklärerischen und

anklägerischen Auftrags. Auch wenn die Ereignisse uns

den Atem stocken ließen – wir hielten sie triumphierend

hoch. Seht her!

Ich hatte mich aus schlichter Neugier zum Seminar

gemeldet. Es war einmal etwas anderes, nicht

Kaufrecht und nicht Täterschaft und Teilnahme, nicht

Sachsenspiegel und keine rechtsphilosophischen

Altertümer. Das großspurige, überlegene Gehabe, das

ich mir angewöhnt hatte, habe ich auch in das Seminar

mitgebracht. Aber im Laufe des Winters konnte ich mich

immer weniger entziehen – nicht den Ereignissen, über

die wir lasen und hörten, und nicht dem Eifer, der die

Studenten des Seminars ergriff. Zunächst machte ich

mir vor, ich wolle nur den wissenschaftlichen oder auch

den politischen und den moralischen Eifer teilen. Aber

ich wollte mehr, ich wollte das gemeinsame Eifern teilen.

Die anderen mögen mich immer noch als distanziert und

arrogant empfunden haben. Ich selbst hatte während der

Wintermonate das gute Gefühl, dazuzugehören und mit

mir und dem, was ich tat, und denen, mit denen ich’s tat,

im reinen zu sein.

90 Die Gerichtsverhandlung war in einer anderen Stadt, mit

dem Auto eine knappe Stunde entfernt. Ich hatte dort

sonst nie zu tun. Ein anderer Student fuhr. Er war dort

aufgewachsen und kannte sich aus.

Es war Donnerstag. Die Gerichtsverhandlung hatte

am Montag begonnen. Die ersten drei Verhandlungstage

waren mit Befangenheitsanträgen der Verteidiger

vergangen. Wir waren die vierte Gruppe, die mit der

Vernehmung der Angeklagten zur Person den eigentlichen

Beginn der Verhandlung erleben würde.

Unter blühenden Obstbäumen fuhren wir die Bergstraße

entlang. Wir waren in gehobener, beschwingter

Stimmung; endlich konnten wir bewähren, worauf wir

uns vorbereitet hatten. Wir fühlten uns nicht als bloße

Zuschauer, Zuhörer und Protokollanten. Zuschauen,

Zuhören und Protokollieren waren unsere Beiträge zur

Aufarbeitung.

Das Gericht war ein Bau der Jahrhundertwende, aber ohne

den Pomp und die Düsternis, die damalige Gerichtsbauten

oft zeigen. Der Saal, in dem das Schwurgericht tagte,

hatte links eine Reihe großer Fenster, deren Milch-

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glas den Blick nach draußen verwehrte, aber viel Licht

hereinließ. Vor den Fenstern saßen die Staatsanwälte, an

hellen Frühling- und Sommertagen nur in den Umrissen

erkennbar. Das Gericht, drei Richter in schwarzen Roben

und sechs Schöffen, saß an der Stirn des Saals, und rechts

war die Bank der Angeklagten und Verteidiger, wegen der

großen Zahl mit Tischen und Stühlen bis in die Mitte des

Saals vor die Reihen des Publikums verlängert. Einige

Angeklagte und Verteidiger saßen mit dem Rücken zu

uns. Hanna saß mit dem Rücken zu uns. Ich erkannte

sie erst, als sie aufgerufen wurde, aufstand und nach

vorne trat. Natürlich erkannte ich sofort den Namen:

Hanna Schmitz. Dann erkannte ich auch die Gestalt, den

Kopf fremd mit zum Knoten geschlungenen Haaren, den

Nacken, den breiten Rücken und die kräftigen Arme. Sie

hielt sich gerade. Sie stand fest auf beiden Beinen. Sie ließ

ihre Arme locker hängen. Sie trug ein graues Kleid mit

kurzen Ärmeln. Ich erkannte sie, aber ich fühlte nichts.

Ich fühlte nichts.

Ja, sie wolle stehen. Ja, sie sei am 21. Oktober 1922 bei

Hermannstadt geboren worden und jetzt dreiundvierzig

Jahre alt. Ja, sie habe in Berlin bei Siemens gearbeitet

und sei im Herbst 1943 zur SS gegangen.

»Sie sind freiwillig zur SS gegangen?«


»Ja.«

»Warum?«

Hanna antwortete nicht.

»Stimmt es, daß Sie zur SS gegangen sind, obwohl

Ihnen bei Siemens eine Stelle als Vorarbeiterin angeboten

worden war?«

92 Hannas Verteidiger sprang auf. »Was heißt hier

obwohl‹? Was soll die Unterstellung, eine Frau hätte

lieber bei Siemens Vorarbeiterin zu werden als zur SS zu

gehen? Nichts rechtfertigt es, die Entscheidung meiner

Mandantin zum Gegenstand einer solchen Frage zu

machen.«

Er setzte sich. Er war der einzige junge Verteidiger, die

anderen waren alt, einige, wie sich bald zeigte, alte Nazis.

Hannas Verteidiger vermied deren Jargon und Thesen.

Aber er war von einem hastigen Eifer, der seiner Mandantin

ebenso schadete wie die nationalsozialistischen Tiraden

seiner Kollegen deren Mandantinnen. Er erreichte zwar,

daß der Vorsitzende irritiert schaute und die Frage,

warum Hanna zur SS gegangen war, nicht weiterverfolgte.

Aber es blieb der Eindruck, daß sie es mit Bedacht und

ohne Not getan hatte. Daß ein Beisitzender Hanna fragte,

was für eine Arbeit sie bei der SS erwartet habe, und daß

Hanna erklärte, die SS habe bei Siemens, aber auch in

anderen Betrieben Frauen für den Einsatz im Wachdienst

geworben, dafür habe sie sich gemeldet und dafür sei sie

eingestellt worden, änderte am negativen Eindruck nichts

mehr.

Der Vorsitzende ließ sich von Hanna einsilbig

bestätigen, daß sie bis Frühjahr 1944 in Auschwitz und

bis Winter 1944/1945 in einem kleinen Lager bei Krakau

eingesetzt war, daß sie mit den Gefangenen nach Westen

aufgebrochen und dort auch angekommen war, daß sie

bei Kriegsende in Kassel gewesen war und seitdem hier

und dort gelebt hatte. Acht Jahre hatte sie in meiner

Heimatstadt gewohnt; es war die längste Zeit, die sie an

ein und demselben Ort verbracht hatte.

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»Soll der häufige Wechsel des Wohnorts die

Fluchtgefahr begründen?« Der Anwalt zeigte offen seine

Ironie.

»Meine Mandantin hat sich bei jedem Wohnortwechsel

polizeilich ab- und angemeldet. Nichts spricht dafür, daß

sie fliehen, nichts gibt es, was sie verdunkeln könnte.

Erschien es dem Haftrichter angesichts der Schwere der

vorgeworfenen Tat und angesichts der Gefahr öffentlicher

Erregung nicht erträglich, meine Mandantin in Freiheit

zu lassen? Das, hohes Gericht, ist ein Nazi-Haftgrund; er

ist von den Nazis eingeführt und nach den Nazis wieder

beseitigt worden. Es gibt ihn nicht mehr.« Der Anwalt

redete mit dem maliziösen Behagen, mit dem jemand

eine pikante Wahrheit präsentiert.

Ich erschrak. Ich merkte, daß ich Hannas Haft als

natürlich und richtig empfunden hatte. Nicht wegen

der Anklage, der Schwere des Vorwurfs und der Stärke

des Verdachts, wovon ich noch gar nichts Genaues

wußte, sondern weil sie in der Zelle raus aus meiner

Welt, raus aus meinem Leben war. Ich wollte sie weit

weg von mir haben, so unerreichbar, daß sie die bloße

Erinnerung bleiben konnte, die sie in den vergangenen

Jahren für mich geworden und gewesen war. Wenn der

Anwalt Erfolg hätte, würde ich gewärtigen müssen, ihr

zu begegnen, und ich würde mir klarwerden müssen,

wie ich ihr begegnen wollte und sollte. Und ich sah nicht,

wie er keinen Erfolg haben könnte. Wenn Hanna bisher

nicht zu fliehen versucht hatte, warum sollte sie es jetzt

versuchen? Und was konnte sie verdunkeln? Andere

Haftgründe gab es damals nicht.

Der Vorsitzende wirkte wieder irritiert, und ich begann

zu begreifen, daß das seine Masche war. Wann immer er

eine Äußerung für obstruktiv und ärgerlich hielt, setzte er

die Brille ab, betastete den Äußernden mit kurzsichtigem,

unsicherem Blick, runzelte die Stirn und überging

entweder die Äußerung, oder er begann mit »Sie meinen

also« oder »Sie wollen also sagen« und wiederholte die

Äußerung in einer Weise, die keinen Zweifel daran ließ,

daß er nicht gewillt war, sich mit ihr zu beschäftigen, und

daß es keinen Zweck hatte, ihn dazu zu drängen.

»Sie meinen also, der Haftrichter hat dem Umstand,

daß die Angeklagte auf kein Schreiben und keine

Ladung reagiert hat, nicht vor der Polizei, nicht vor dem

Staatsanwalt und nicht vor dem Richter erschienen ist,

eine falsche Bedeutung zugemessen? Sie wollen einen

Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls stellen?«

Der Anwalt stellte den Antrag, und das Gericht lehnte

den Antrag ab.

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Ich habe keinen Tag der Gerichtsverhandlung

ausgelassen. Die anderen Studenten wunderten sich.

Der Professor begrüßte, daß einer von uns dafür sorgte,

daß die nächste Gruppe erfuhr, was die letzte gehört und

gesehen hatte.

Nur einmal sah Hanna ins Publikum und zu mir hin.

Sonst wandte sie den Blick an allen Verhandlungstagen

zur Gerichtsbank, wenn sie von einer Wachtmeisterin

hereingeführt wurde und wenn sie ihren Platz

eingenommen hatte. Das wirkte hochmütig, und

hochmütig wirkte auch, daß sie nicht mit den anderen

Angeklagten und kaum mit ihrem Anwalt sprach. Die

anderen Angeklagten redeten miteinander allerdings

desto weniger, je länger die Gerichtsverhandlung dauerte.

Sie standen in den Verhandlungspausen mit Verwandten

und Freunden zusammen, winkten und riefen ihnen zu,

wenn sie sie morgens im Publikum sahen. Hanna blieb in


den Verhandlungspausen an ihrem Platz sitzen.

So sah ich sie von hinten. Ich sah ihren Kopf, ihren

Nacken, ihre Schultern. Ich las ihren Kopf, ihren Nacken,

ihre Schultern. Wenn es um sie ging, hielt sie den Kopf

besonders hoch. Wenn sie sich ungerecht behandelt, ver-

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96 leumdet, angegriffen fühlte und um eine Erwiderung

rang, rollte sie die Schultern nach vorne, und der Nacken

schwoll, ließ die Muskelstränge stärker heraus- und

hervortreten. Die Erwiderungen mißlangen regelmäßig,

und regelmäßig sanken die Schultern herab. Sie zuckte

nie mit den Schultern, schüttelte auch nie den Kopf.

Sie war zu angespannt, als daß sie sich die Leichtigkeit

eines Schulterzuckens oder Kopfschüttelns erlaubt hätte.

Sie erlaubte sich auch nicht, den Kopf schief zu halten,

sinken zu lassen oder aufzustützen. Sie saß wie gefroren.

So sitzen mußte weh tun.

Manchmal stahlen sich Haarsträhnen aus dem straffen

Knoten, kräuselten sich, hingen auf den Nacken herab

und strichen im Luftzug über ihn hin. Manchmal trug

Hanna ein Kleid, dessen Ausschnitt weit genug war, um

das Muttermal an der linken oberen Schulter zu zeigen.

Dann erinnerte ich mich, wie ich die Haare von diesem

Nacken gepustet und wie ich dieses Muttermal und

diesen Nacken geküßt hatte. Aber das Erinnern war ein

Registrieren. Ich fühlte nichts.

Während der wochenlangen Gerichtsverhandlung fühlte

ich nichts, war mein Gefühl wie betäubt. Ich provozierte

es gelegentlich, stellte mir Hanna bei dem, was ihr

vorgeworfen wurde, so deutlich vor, wie ich nur konnte,

und auch bei dem, was mir das Haar auf ihrem Nacken

und das Muttermal auf ihrer Schulter in Erinnerung

riefen. Es war, wie wenn die Hand den Arm kneift, der

von der Spritze taub ist. Der Arm weiß nicht, daß er von

der Hand gekniffen wird, die Hand weiß, daß sie den Arm

kneift, und das Gehirn hält beides im ersten Moment

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nicht auseinander. Aber im zweiten unterscheidet es

wieder genau. Vielleicht hat die Hand so fest gekniffen,

daß diese Stelle eine Weile lang blaß ist. Dann kehrt das

Blut zurück, und die Stelle kriegt wieder Farbe. Aber das

Gefühl kehrt darum noch nicht zurück.

Wer hatte mir die Spritze gegeben? Ich mir selbst,

weil ich es ohne Betäubung nicht ausgehalten hätte? Die

Betäubung wirkte nicht nur im Gerichtssaal und nicht nur

so, daß ich Hanna erleben konnte, als sei es ein anderer, der

sie geliebt und begehrt hatte, jemand, den ich gut kannte,

der aber nicht ich war. Ich stand auch bei allem anderen

neben mir und sah mir zu, sah mich in der Universität, mit

Eltern und Geschwistern, mit den Freunden funktionieren,

war aber innerlich nicht beteiligt.

Nach einer Weile meinte ich, ein ähnliches Betäubtsein

auch bei anderen beobachten zu können. Nicht bei den

Anwälten, die während der ganzen Verhandlung von

derselben polternden, rechthaberischen Streitsucht,

pedantischen Schärfe oder auch lärmenden,

kaltschnäuzigen Unverschämtheit waren, je nach

persönlichem und politischem Temperament. Zwar

erschöpfte die Verhandlung sie; am Abend waren sie

müder oder auch schriller. Aber über Nacht hatten sie

sich wieder aufgeladen oder aufgeblasen und dröhnten

und zischten am nächsten Morgen wie am Morgen

zuvor. Die Staatsanwälte versuchten mitzuhalten

und ebenfalls Tag um Tag denselben kämpferischen

Einsatz zu zeigen. Aber es gelang ihnen nicht, zunächst

nicht, weil die Gegenstände und die Ergebnisse der

Verhandlung sie zu sehr entsetzten, dann, weil die

Betäubung zu wirken begann. Am stärksten wirkte sie bei

98 den Richtern und Schöffen. In den ersten Verhandlungswochen

nahmen sie die Schrecklichkeiten, die manchmal

unter Tränen, manchmal mit versagender Stimme,

manchmal gehetzt oder verstört berichtet und bestätigt

wurden, mit sichtbarer Erschütterung oder auch

mühsamer Fassung zur Kenntnis. Später wurden die

Gesichter wieder normal, konnten einander lächelnd

eine Bemerkung zuflüstern oder auch einen Hauch von

Ungeduld zeigen, wenn ein Zeuge vom Hölzchen aufs

Stöckchen kam. Als in der Verhandlung eine Reise nach

Israel besprochen wurde, wo eine Zeugin vernommen

werden sollte, kam Reisefreude auf. Stets aufs neue

entsetzt waren die anderen Studenten. Sie kamen jede

Woche nur einmal zur Verhandlung, und jedesmal

vollzog er sich erneut: der Einbruch des Schrecklichen in

den Alltag. Ich, Tag um Tag bei der Verhandlung dabei,

beobachtete ihre Reaktion mit Distanz.

Wie der KZ-Häftling, der Monat um Monat überlebt

und sich gewöhnt hat und das Entsetzen der neu

Ankommenden gleichmütig registriert. Mit derselben

Betäubung registriert, mit der er das Morden

und Sterben selbst wahrnimmt. Alle Literatur der

Überlebenden berichtet von dieser Betäubung, unter

der die Funktionen des Lebens reduziert, das Verhalten

teilnahms- und rücksichtslos und Vergasung und

Verbrennung alltäglich wurden. Auch in den spärlichen

Äußerungen der Täter begegnen die Gaskammern

und Verbrennungsöfen als alltägliche Umwelt, die

Täter selbst auf wenige Funktionen reduziert, in ihrer

Rücksichts- und Teilnahmslosigkeit, ihrer Stumpfheit

wie betäubt oder betrunken. Die Angeklagten


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kamen mir vor, als seien sie noch immer und für immer

in dieser Betäubung befangen, in ihr gewissermaßen

versteinert.

Schon damals, als mich diese Gemeinsamkeit des

Betäubtseins beschäftigte und auch, daß die Betäubung

sich nicht nur auf Täter und Opfer gelegt hatte, sondern

auch auf uns legte, die wir als Richter oder Schöffen,

Staatsanwälte oder Protokollanten später damit zu tun

hatten, als ich dabei Täter, Opfer, Tote, Lebende, Überlebende

und Nachlebende miteinander verglich, war mir

nicht wohl, und wohl ist mir auch jetzt nicht. Darf man

derart vergleichen? Wenn ich in einem Gespräch Ansätze

eines solchen Vergleichs machte, betonte ich zwar stets,

daß der Vergleich den Unterschied, ob man in die Welt des

KZ gezwungen wurde oder sich in sie begeben hatte, ob

man gelitten oder Leiden zugefügt hatte, nicht relativiere,

daß der Unterschied vielmehr von der allergrößten, alles

entscheidenden Wichtigkeit sei. Aber ich stieß selbst dann

auf Befremden oder Empörung, wenn ich dies nicht erst

in Reaktion auf die Einwände der anderen ausführte, sondern

noch ehe die anderen etwas einwenden konnten.

Zugleich frage ich mich und habe mich schon

damals zu fragen begonnen: Was sollte und soll

meine Generation der Nachlebenden eigentlich mit

den Informationen über die Furchtbarkeiten der

Vernichtung der Juden anfangen? Wir sollen nicht

meinen, begreifen zu können, was unbegreiflich ist,

dürfen nicht vergleichen, was unvergleichlich ist,

dürfen nicht nachfragen, weil der Nachfragende die

Furchtbarkeiten, auch wenn er sie nicht in Frage stellt,

doch zum Gegenstand der Kommunikation macht und

nicht als etwas nimmt, vor dem er nur in Entsetzen,

Scham und Schuld verstummen kann. Sollen wir nur

in Entsetzen, Scham und Schuld verstummen? Zu

welchem Ende? Nicht daß sich der Aufarbeitungs- und

Aufklärungseifer, mit dem ich am Seminar teilgenommen

hatte, in der Verhandlung einfach verloren hätte. Aber

daß einige wenige verurteilt und bestraft und daß wir,

die nachfolgende Generation, in Entsetzen, Scham und

Schuld verstummen würden – das sollte es sein?

101

In der zweiten Woche wurde die Anklage verlesen.

Die Verlesung dauerte eineinhalb Tage – eineinhalb

Tage Konjunktiv. Die Angeklagte zu eins habe…, sie

habe ferner…, weiter habe sie…, dadurch habe sie den

Tatbestand des Paragraphen soundsoviel erfüllt, ferner

habe sie diesen Tatbestand und jenen Tatbestand…. sie

habe auch rechtswidrig und schuldhaft gehandelt. Hanna

war die Angeklagte zu vier.

Die fünf angeklagten Frauen waren Aufseherinnen

in einem kleinen Lager bei Krakau gewesen, einem

Außenlager von Auschwitz. Sie waren im Frühjahr

1944 von Auschwitz dorthin versetzt worden; sie

ersetzten Aufseherinnen, die bei einer Explosion in

der Fabrik getötet oder verletzt worden waren, in der

die Frauen des Lagers arbeiteten. Ein Anklagepunkt

galt ihrem Verhalten in Auschwitz, trat aber hinter

den anderen Anklagepunkten zurück. Ich weiß ihn

nicht mehr. Betraf er gar nicht Hanna, sondern nur

die anderen Frauen? War er von geringer Bedeutung,

im Vergleich mit den anderen Anklagepunkten oder

auch für sich? Erschien es einfach unerträglich,

jemanden, der in Auschwitz gewesen und dessen man

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102

habhaft war, nicht wegen seines Verhaltens in Auschwitz

anzuklagen?

Natürlich hatten die fünf Angeklagten das Lager

nicht geführt. Es gab einen Kommandanten,

Wachmannschaften und weitere Aufseherinnen. Die

meisten Wachmannschaften und Aufseherinnen hatten

die Bomben nicht überlebt, die eines Nachts den Zug

der Gefangenen nach Westen beendeten. Einige hatten

sich in derselben Nacht abgesetzt und waren ebenso

unauffindbar wie der Kommandant, der sich schon

davongemacht hatte, als der Zug nach Westen aufbrach.

Von den Gefangenen hatte eigentlich keine die Nacht

der Bomben überleben sollen. Aber es gab doch zwei

Überlebende, Mutter und Tochter, und die Tochter

hatte ein Buch über das Lager und den Zug nach Westen

geschrieben und in Amerika veröffentlicht. Polizei und

Staatsanwaltschaft hatten nicht nur die fünf Angeklagten,

sondern auch einige Zeugen aufgespürt, die in dem Dorf

gelebt hatten, in dem die Bomben den Zug der Gefangenen

nach Westen beendeten. Die wichtigsten Zeugen waren

die Tochter, die nach Deutschland gekommen, und die

Mutter, die in Israel geblieben war. Zur Vernehmung der

Mutter fuhren Gericht, Staatsanwälte und Verteidiger

nach Israel – der einzige Abschnitt der Verhandlung, den

ich nicht miterlebt habe.

Der eine Hauptanklagepunkt galt den Selektionen im

Lager. Jeden Monat wurden aus Auschwitz rund sechzig

neue Frauen geschickt und waren ebenso viele nach

Auschwitz zurückzuschicken, abzüglich derer, die in der

Zwischenzeit gestorben waren. Allen war klar, daß die

Frauen in Auschwitz umgebracht wurden; es wurden

die zurückgeschickt, die bei der Arbeit in der Fabrik

nicht mehr eingesetzt werden konnten. Es war eine

Munitionsfabrik, in der zwar die eigentliche Arbeit nicht

schwer war, in der die Frauen aber zur eigentlichen Arbeit

kaum kamen, sondern bauen mußten, weil die Explosion

im Frühjahr schlimme Schäden hinterlassen hatte.