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Добавлен: 22.12.2020

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Der andere Hauptanklagepunkt galt der Bombennacht,

mit der alles zu Ende ging. Die Wachmannschaften und

Aufseherinnen hatten die Gefangenen, mehrere hundert

Frauen, in die Kirche eines Dorfs gesperrt, das von den

meisten Einwohnern verlassen worden war. Es fielen nur

ein paar Bomben, vielleicht für eine nahe Eisenbahnlinie

gedacht oder eine Fabrikanlage oder auch nur

abgeworfen, weil sie von einem Angriff auf eine größere

Stadt übrig waren. Die eine traf das Pfarrhaus, in dem die

Wachmannschaften und Aufseherinnen schliefen. Eine

andere schlug in den Kirchturm ein. Zuerst brannte der

Turm, dann das Dach, dann stürzte das Gebälk lodernd in

den Kirchenraum hinab, und das Gestühl fing Feuer. Die

schweren Türen hielten stand. Die Angeklagten hätten sie

aufschließen können. Sie taten es nicht, und die in der

Kirche eingeschlossenen Frauen verbrannten.

104 6

Für Hanna hätte die Verhandlung nicht schlechter laufen

können. Schon bei ihrer Vernehmung zur Person hatte

sie auf das Gericht keinen guten Eindruck gemacht.

Nach der Verlesung der Anklage meldete sie sich, weil

etwas nicht stimme; der Vorsitzende Richter wies sie

irritiert zurecht, vor Eröffnung des Hauptverfahrens

habe sie die Anklage lange genug studieren und ihre

Einwendungen erheben können, jetzt sei man in der

Hauptverhandlung, und was an der Anklage stimme und

nicht stimme, werde die Beweisaufnahme zeigen. Als zu

Beginn der Beweisaufnahme der Vorsitzende Richter

vorschlug, auf die Verlesung der deutschen Fassung

des Buchs der Tochter zu verzichten, da sie, von einem

deutschen Verlag zur Veröffentlichung vorbereitet,

allen Beteiligten im Manuskript zugänglich gemacht

worden war, mußte Hanna von ihrem Anwalt unter

dem irritierten Blick des Vorsitzenden Richters dazu

überredet werden, sich einverstanden zu erklären. Sie

wollte nicht. Sie wollte auch nicht akzeptieren, daß sie

bei einer früheren richterlichen Vernehmung zugegeben

hatte, den Schlüssel zur Kirche gehabt zu haben. Sie habe

den Schlüssel nicht gehabt, niemand habe den Schlüssel

105

gehabt, es habe den einen Schlüssel zur Kirche gar nicht

gegeben, sondern mehrere Schlüssel zu mehreren Türen,

und die hätten von außen in den Schlössern gesteckt.

Aber im Protokoll ihrer richterlichen Vernehmung, von

ihr gelesen und unterschrieben, stand es anders, und

daß sie fragte, warum man ihr etwas anhängen wolle,

machte die Sache nicht besser. Sie fragte nicht laut, nicht

rechthaberisch, aber beharrlich und dabei, wie ich fand,

sicht- und hörbar verwirrt und ratlos, und daß sie davon

redete, man wolle ihr etwas anhängen, meinte sie nicht

als Vorwurf der Rechtsbeugung. Aber der Vorsitzende

Richter verstand es so und reagierte mit Schärfe. Hannas

Anwalt sprang auf und legte los, eifrig und hastig, wurde

gefragt, ob er sich den Vorwurf seiner Mandantin zu eigen

mache, und setzte sich wieder.

Hanna wollte es richtig machen. Wo sie meinte, ihr

geschehe Unrecht, widersprach sie, und sie gab zu, was

ihres Erachtens zu Recht behauptet und vorgeworfen

wurde. Sie widersprach beharrlich und gab bereitwillig

zu, als erwerbe sie durch das Zugeben das Recht zum

Widerspruch oder übernehme mit dem Widersprechen

die Pflicht zuzugeben, was sie redlicherweise nicht

bestreiten konnte. Aber sie merkte nicht, daß ihre

Beharrlichkeit den Vorsitzenden Richter ärgerte. Sie

hatte kein Gefühl für den Kontext, für die Regeln, nach

denen gespielt wurde, für die Formeln, nach denen sich

ihre Äußerungen und die der anderen zu Schuld und

Unschuld, Verurteilung und Freispruch verrechneten. Ihr

Anwalt hätte, um ihr fehlendes Gefühl für die Situation

zu kompensieren, mehr Erfahrung und Sicherheit

haben oder auch einfach besser sein müssen. Oder

106 Hanna hätte es ihm nicht so schwer machen dürfen; sie

verweigerte ihm offensichtlich ihr Vertrauen, hatte aber

auch keinen Anwalt ihres Vertrauens gewählt. Ihr Anwalt

war ein Pflichtverteidiger, vom Vorsitzenden bestellt.

Manchmal hatte Hanna eine Art von Erfolg. Ich

erinnere mich an ihre Vernehmung zu den Selektionen im

Lager. Die anderen Angeklagten bestritten, damit irgendwann

irgend etwas zu tun gehabt zu haben. Hanna gab

so bereitwillig zu, daran teilgenommen zu haben, nicht

als einzige, aber wie die anderen und mit ihnen, daß der

Vorsitzende Richter meinte, in sie dringen zu müssen.

»Wie liefen die Selektionen ab?«

Hanna beschrieb, daß sich die Aufseherinnen

verständigt hatten, aus ihren sechs gleich großen

Zuständigkeitsbereichen gleich große Gefangenenzahlen

zu melden, jeweils zehn und insgesamt sechzig, daß die

Zahlen aber bei niedrigem Krankenstand im einen und

hohem im anderen Zuständigkeitsbereich divergieren

konnten und daß alle diensthabenden Aufseherinnen

letztlich gemeinsam beurteilten, wer zurückgeschickt

werden sollte.

»Keine von Ihnen hat sich entzogen, Sie haben alle

gemeinsam gehandelt?«

»Ja.«

»Haben Sie nicht gewußt, daß Sie die Gefangenen in

den Tod schicken?«

»Doch, aber die neuen kamen, und die alten mußten

Platz machen für die neuen.«

»Sie haben also, weil Sie Platz schaffen wollten, gesagt:


Du und du und du mußt zurückgeschickt und umgebracht

werden?«

107

Hanna verstand nicht, was der Vorsitzende damit

fragen wollte.

»Ich habe… ich meine… Was hätten Sie denn gemacht?«

Das war von Hanna als ernste Frage gemeint. Sie wußte

nicht, was sie hätte anders machen sollen, anders machen

können, und wollte daher vom Vorsitzenden, der alles zu

wissen schien, hören, was er gemacht hätte.

Einen Moment lang war es still. Es gehört sich in

deutschen Strafverfahren nicht, daß Angeklagte Richtern

Fragen stellen. Aber nun war die Frage gestellt, und

alle warteten auf die Antwort des Richters. Er mußte

antworten, konnte die Frage nicht übergehen oder mit

einer tadelnden Bemerkung, einer zurückweisenden

Gegenfrage wegwischen. Allen war es klar, ihm selbst

war es klar, und ich verstand, warum er den Ausdruck

der Irritation zu seiner Masche gemacht hatte. Er hatte

ihn zu seiner Maske gemacht. Hinter ihr konnte er sich

ein bißchen Zeit nehmen, um die Antwort zu finden. Aber

nicht zuviel; je länger er wartete, desto größer wuchsen

Spannung und Erwartung, desto besser mußte die

Antwort werden.

»Es gibt Sachen, auf die man sich einfach nicht

einlassen darf und von denen man sich, wenn es einen

nicht Leib und Leben kostet, absetzen muß.«

Vielleicht hätte es genügt, wenn er dasselbe gesagt,

dabei aber über Hanna oder auch sich selbst geredet hätte.

Davon zu reden, was man muß und was man nicht darf

und was einen was kostet, wurde dem Ernst von Hannas

Frage nicht gerecht. Sie hatte wissen wollen, was sie in

ihrer Situation hätte machen sollen, nicht daß es Sachen

gibt, die man nicht macht. Die Antwort des Richters wirkte

hilflos, kläglich. Alle empfanden es. Sie reagierten mit

enttäuschtem Aufatmen und schauten verwundert auf

Hanna, die den Wortwechsel gewissermaßen gewonnen

hatte. Aber sie selbst blieb in Gedanken.

»Also hätte ich… hätte nicht… hätte ich mich bei

Siemens nicht melden dürfen?«

Das war keine Frage an den Richter. Sie sprach vor sich

hin, fragte sich selbst, zögernd, weil sie sich die Frage

noch nicht gestellt hatte und zweifelte, ob es die richtige

Frage und was die Antwort war.

109

Wie die Beharrlichkeit, mit der Hanna widersprach,

den Vorsitzenden Richter ärgerte, so ärgerte die

Bereitwilligkeit, mit der sie zugab, die anderen

Angeklagten. Für deren Verteidigung, aber auch für

Hannas eigene Verteidigung war sie fatal.

Eigentlich war die Beweislage für die Angeklagten

günstig. Beweismittel für den ersten Hauptanklagepunkt

waren ausschließlich das Zeugnis der überlebenden

Mutter, ihrer Tochter und deren Buch. Eine gute

Verteidigung hätte, ohne die Substanz der Aussagen

von Mutter und Tochter anzugreifen, glaubhaft

bestreiten können, daß gerade die Angeklagten die

Selektionen vorgenommen hatten. Insoweit waren

die Zeugenaussagen nicht präzise und konnten nicht

präzise sein; immerhin gab es einen Kommandanten,

Wachmannschaften, weitere Aufseherinnen und eine

Aufgaben- und Befehlshierarchie, mit der die Gefangenen

nur partiell konfrontiert wurden und die sie nur

entsprechend partiell durchschauen konnten. Ähnlich

war es beim zweiten Anklagepunkt. Mutter und Tochter

waren in der Kirche eingesperrt gewesen und konnten

über das, was draußen passiert war, keine Aussagen ma-

7

110 chen. Die Angeklagten konnten zwar nicht vorgeben, nicht

dort gewesen zu sein. Die anderen Zeugen, die damals in

dem Dorf gelebt hatten, hatten mit ihnen gesprochen

und erinnerten sich an sie. Aber diese anderen Zeugen

mußten aufpassen, daß auf sie nicht der Vorwurf fiel,

sie hätten selbst die Gefangenen retten können. Wenn

nur die Angeklagten da waren – konnten dann die

Bewohner des Dorfs die paar Frauen nicht überwältigen

und selbst die Türen der Kirche aufschließen? Mußten sie

nicht auf eine Linie der Verteidigung einschwenken, bei

der die Angeklagten unter einem auch sie, die Zeugen,

entlastenden Zwang handelten? Unter der Gewalt oder

dem Befehl von Wachmannschaften, die doch noch

nicht geflohen waren oder von denen die Angeklagten

immerhin angenommen hatten, sie seien nur kurz weg,

etwa um Verwundete in ein Lazarett zu schaffen, und bald

wieder zurück?

Als die Verteidiger der anderen Angeklagten merkten,

daß solche Strategien an Hannas bereitwilligem Zugeben

scheiterten, stellten sie auf eine Strategie um, die das

bereitwillige Zugeben ausnutzte, Hanna be- und dadurch

die anderen Angeklagten entlastete. Die Verteidiger

taten es mit fachlicher Distanz. Die anderen Angeklagten

sekundierten mit empörten Einwürfen.

»Sie haben gesagt, Sie hätten gewußt, daß Sie die

Gefangenen in den Tod schicken – das gilt nur für Sie,

nicht wahr? Was Ihre Kolleginnen gewußt haben, können

Sie nicht wissen. Sie können es vielleicht vermuten, aber

letztlich nicht beurteilen, nicht wahr?«

Hanna wurde vom Anwalt einer anderen Angeklagten

befragt.

111

»Aber wir alle wußten…«

»›Wir‹, ›wir alle‹, zu sagen ist einfacher, als ›Ich‹ zu

sagen, ›ich allein‹, nicht wahr? Stimmt es, daß Sie, Sie

allein, im Lager Ihre Schützlinge hatten, junge Mädchen

jeweils, eines für eine Weile und dann für eine Weile ein


anderes?«

Hanna zögerte. »Ich glaube, daß ich nicht die einzige

war, die…«

»Du dreckige Lügnerin! Deine Lieblinge – das war

deines, deines allein!« Eine andere Angeklagte, eine

derbe Frau, nicht ohne gluckenhafte Behäbigkeit und

zugleich mit gehässigem Mundwerk, war sichtbar erregt.

»Könnte es sein, daß Sie ›wissen‹ sagen, wo Sie

allenfalls glauben können, und ›glauben‹, wo Sie einfach

erfinden?« Der Anwalt schüttelte den Kopf, als nehme

er ihre bejahende Antwort bekümmert zur Kenntnis.

»Stimmt es auch, daß alle Ihre Schützlinge, wenn Sie

ihrer überdrüssig waren, in den nächsten Transport nach

Auschwitz kamen?«

Hanna antwortete nicht.

»Das war Ihre spezielle, Ihre persönliche Selektion,

nicht wahr? Sie wollen sie nicht mehr wahrhaben, Sie

wollen sie verstecken hinter etwas, was alle gemacht

haben. Aber…«

»0 Gott!« Die Tochter, die sich nach ihrer Vernehmung

unter die Zuschauer gesetzt hatte, schlug die Hände

vors Gesicht. »Wie habe ich das vergessen können?«

Der Vorsitzende Richter fragte sie, ob sie ihre Aussage

ergänzen wolle. Sie wartete nicht, bis sie nach vorne

gerufen wurde. Sie stand auf und redete von ihrem Platz

unter den Zuschauern aus.

112

»Ja, sie hatte Lieblinge, immer eine von den jungen,

schwachen und zarten, und die nahm sie unter ihren

Schutz und sorgte, daß sie nicht arbeiten mußten, brachte

sie besser unter und versorgte und verköstigte sie besser,

und abends holte sie sie zu sich. Und die Mädchen

durften nicht sagen, was sie abends mit ihnen machte,

und wir dachten, daß sie mit ihnen… auch weil sie alle

in den Transport kamen, als hätte sie mit ihnen ihren

Spaß und sie dann sattgehabt. Aber so war es gar nicht,

und eines Tages hat doch eines geredet, und wir haben

gewußt, daß die Mädchen ihr vorgelesen haben, Abend

um Abend um Abend. Das war besser, als wenn sie… auch

besser, als wenn sie sich an dem Bau zu Tode gearbeitet

hätten, ich muß gedacht haben, daß es besser war, sonst

hätte ich es nicht vergessen können. Aber war es besser?«

Sie setzte sich.

Hanna drehte sich um und sah mich an. Ihr Blick fand

mich sofort, und so merkte ich, daß sie die ganze Zeit

gewußt hatte, daß ich da war. Sie sah mich einfach an.

Ihr Gesicht bat um nichts, warb um nichts, versicherte

oder versprach nichts. Es bot sich dar. Ich erkannte, wie

angespannt und erschöpft sie war. Sie hatte Ringe unter

den Augen, und in jeder Backe führte eine Falte von oben

nach unten, die ich nicht kannte, die noch nicht tief war,

sie aber schon wie eine Narbe zeichnete. Als ich unter

ihrem Blick rot wurde, wandte sie ihn ab und kehrte sich

wieder der Gerichtsbank zu.

Der Vorsitzende Richter wollte von dem Anwalt, der

Hanna befragt hatte, wissen, ob er noch Fragen an

die Angeklagte habe. Er wollte es von Hannas Anwalt

wissen.

Frag sie, dachte ich. Frag sie, ob sie die schwachen und

zarten Mädchen gewählt hat, weil sie die Arbeit auf dem

Bau ohnehin nicht verkrafteten, weil sie ohnehin mit dem

nächsten Transport nach Auschwitz kamen und weil sie

ihnen den letzten Monat erträglich machen wollte. Sag’s,

Hanna. Sag, daß du ihnen den letzten Monat erträglich

machen wolltest. Daß das der Grund war, die Zarten und

Schwachen zu wählen. Daß es keinen anderen Grund gab,

keinen geben konnte.

Aber der Anwalt fragte Hanna nicht, und sie sprach

nicht von sich aus.

114 Die deutsche Fassung des Buchs, das die Tochter über

ihre Zeit im Lager geschrieben hatte, erschien erst nach

dem Prozeß. Während des Prozesses war das Manuskript

zwar schon vorhanden, aber nur den Prozeßbeteiligten

zugänglich. Ich mußte das Buch auf Englisch lesen, damals

ein ungewohntes und mühsames Unterfangen. Und wie

stets schaffte die fremde Sprache, die nicht beherrscht

und mit der gekämpft wird, ein eigentümliches Zugleich

von Distanz und Nähe. Man hat sich das Buch besonders

gründlich erarbeitet und doch nicht zu eigen gemacht. Es

bleibt so fremd, wie die Sprache fremd ist.

Jahre später habe ich es wiedergelesen und entdeckt,

daß das Buch selbst Distanz schafft. Es lädt nicht zur

Identifikation ein und macht niemanden sympathisch,

weder Mutter noch Tochter, noch die, mit denen beide in

verschiedenen Lagern und schließlich in Auschwitz und bei

Krakau das Schicksal geteilt haben. Die Barackenältesten,

Aufseherinnen und Wachmannschaften läßt es gar nicht

erst so viel Gesicht und Gestalt gewinnen, daß man sich

zu ihnen verhalten, sie besser oder schlechter finden

könnte. Es atmet die Betäubung, die ich schon zu be-

8

115

schreiben versucht habe. Aber das Vermögen, zu

registrieren und zu analysieren, hat die Tochter unter

der Betäubung nicht verloren. Und sie hat sich nicht

korrumpieren lassen, nicht durch Selbstmitleid und

nicht durch das Selbstbewußtsein, das sie spürbar daraus

gezogen hat, daß sie überlebt und die Jahre in den Lagern

nicht nur verkraftet, sondern literarisch gestaltet hat. Sie

schreibt über sich und ihr pubertäres, altkluges und, wenn

es sein muß, durchtriebenes Verhalten mit derselben

Nüchternheit, mit der sie alles andere beschreibt.

Hanna kommt im Buch weder mit Namen noch sonst


erkennbar und identifizierbar vor. Manchmal glaubte

ich, sie in einer Aufseherin zu erkennen, die jung, schön

und in der Erfüllung ihrer Aufgaben von gewissenloser

Gewissenhaftigkeit geschildert wurde, aber ich war nicht

sicher. Wenn ich die anderen Angeklagten betrachtete,

konnte nur Hanna die geschilderte Aufseherin sein. Aber

es hatte weitere Aufseherinnen gegeben. In einem Lager

hatte die Tochter eine Aufseherin erlebt, die »Stute«

genannt wurde, ebenfalls jung, schön und tüchtig, aber

grausam und unbeherrscht. An die erinnerte sie die

Aufseherin im Lager. Hatten auch andere den Vergleich

gezogen? Wußte Hanna davon, erinnerte sie sich daran

und war sie darum betroffen, als ich sie mit einem Pferd

verglich?

Das Lager bei Krakau war für Mutter und Tochter die

letzte Station nach Auschwitz. Es war ein Fortschritt; die

Arbeit war schwer, aber leichter, das Essen war besser,

und es war besser, zu sechs Frauen in einem Raum als zu

hundert in einer Baracke zu schlafen. Und es war wärmer;

die Frauen konnten auf dem Weg von der Fabrik ins Lager

116 Holz aufsammeln und mitnehmen. Es gab die Angst vor

den Selektionen. Aber auch sie war nicht so schlimm

wie in Auschwitz. Sechzig Frauen wurden jeden Monat

zurückgeschickt, sechzig von rund zwölfhundert; da hatte

man selbst dann eine Überlebenserwartung von zwanzig

Monaten, wenn man nur durchschnittliche Kräfte besaß,

und man konnte immerhin hoffen, stärker als der

Durchschnitt zu sein. Überdies durfte man erwarten, daß

der Krieg schon in weniger als zwanzig Monaten zu Ende

sein würde.

Das Elend begann mit der Auflösung des Lagers und

dem Aufbruch der Gefangenen nach Westen. Es war

Winter, es schneite, und die Kleidung, in der die Frauen

in der Fabrik gefroren und es im Lager einigermaßen

ausgehalten hatten, war ganz unzureichend, und noch

unzureichender war das Schuhwerk, oft Lappen und

Zeitungspapier, so gebunden, daß sie beim Stehen und

Gehen zusammenhielten, aber nicht so zu binden, daß

sie lange Märsche über Schnee und Eis hätten aushalten

können. Die Frauen marschierten auch nicht nur; sie

wurden gehetzt, mußten laufen. »Todesmarsch?« fragt

die Tochter im Buch und antwortet: »Nein, Todestrab,

Todesgalopp.« Viele brachen unterwegs zusammen,

andere standen nach den Nächten in einer Scheune oder

auch nur an einer Mauer nicht mehr auf. Nach einer

Woche war fast die Hälfte der Frauen tot.

Die Kirche war ein besseres Obdach als die Scheunen

und Mauern, die die Frauen davor gehabt hatten. Wenn sie

an verlassenen Höfen vorbeigekommen waren und übernachtet

hatten, hatten die Wachmannschaften und Aufse117

herinnen die Wohngebäude für sich genommen. Hier, im

weitgehend verlassenen Dorf, konnten sie das Pfarrhaus

für sich nehmen und den Gefangenen immer noch mehr

als eine Scheune oder Mauer lassen. Daß sie es taten und

daß es im Dorf sogar einen warmen Sud zu essen gab,

erschien wie die Verheißung eines Endes des Elends. So

schliefen die Frauen ein. Wenig später fielen die Bomben.

Solange nur der Turm brannte, war das Feuer in der

Kirche zu hören, aber nicht zu sehen. Als die Turmspitze

brach und in den Dachstuhl schlug, dauerte es noch mal

Minuten, bis der Schein des Feuers zu sehen war. Dann

tropften auch schon die Flammen herab und entzündeten

Kleider, herabstürzende brennende Balken setzten das

Gestühl und die Kanzel in Brand, und binnen kurzem

krachte der Dachstuhl ins Kirchenschiff und brannte alles

lichterloh.

Die Tochter meint, die Frauen hätten sich retten

können, wenn sie sich sofort gemeinsam daran gemacht

hätten, eine der Türen aufzubrechen. Aber bis sie gemerkt

hatten, was passiert war, was passieren würde und daß

ihnen nicht aufgeschlossen wurde, war es zu spät. Es war

dunkle Nacht, als der Einschlag der Bombe sie aufweckte.

Eine Weile lang hörten sie nur ein befremdliches,

beängstigendes Geräusch im Turm und waren ganz still,

um das Geräusch besser hören und deuten zu können.

Daß es das Prasseln und Knattern eines Feuers, daß es

Feuerschein war, was ab und zu hell hinter den Fenstern

zuckte, daß der Schlag, den es über ihren Köpfen tat, das

Übergreifen des Feuers vom Turm aufs Dach bedeutete

die Frauen begriffen es erst, als der Dachstuhl sichtbar

brannte. Sie begriffen es und schrien auf, schrien in

Entsetzen, schrien um Hilfe, stürzten zu den Türen,

rüttelten daran, schlugen dagegen, schrien.

Als der brennende Dachstuhl ins Kirchenschiff krachte,

hegte die Hülle der Mauern das Feuer wie ein Kamin. Die

meisten Frauen sind nicht erstickt, sondern in den hell

und laut lodernden Flammen verbrannt. Am Ende hatte

das Feuer sogar die eisenbeschlagenen Kirchentüren

durchbrannt, durchglüht. Aber das war Stunden später.

Mutter und Tochter überlebten, weil die Mutter aus

den falschen Gründen das Richtige tat. Als die Frauen

in Panik gerieten, konnte sie es nicht mehr unter ihnen

aushalten. Sie floh auf die Empore. Daß sie dort den

Flammen näher war, war ihr egal, sie wollte nur allein

sein, weg von den schreienden, hin und her drängenden,

brennenden Frauen. Die Empore war schmal, so schmal,


daß sie vom brennenden Gebälk kaum getroffen wurde.

Mutter und Tochter standen an die Wand gepreßt und

sahen und hörten das Wüten des Feuers. Sie trauten

sich am nächsten Tag nicht hinunter und hinaus. In

der Dunkelheit der folgenden Nacht fürchteten sie, die

Stufen der Treppe und den Weg zu verfehlen. Als sie im

Morgengrauen des übernächsten Tags aus der Kirche

kamen, begegneten sie einigen Bewohnern des Dorfs, die

sie fassungs- und wortlos anstarrten, ihnen aber Kleider

und Essen gaben und sie ziehen ließen.

119

»Warum haben Sie nicht aufgeschlossen?«

Der Vorsitzende Richter stellte einer Angeklagten nach

der anderen dieselbe Frage. Eine Angeklagte nach der

anderen gab dieselbe Antwort. Sie habe nicht aufschließen

können. Warum? Sie sei beim Einschlag der Bombe ins

Pfarrhaus verwundet worden. Oder sie habe unter dem

Schock des Einschlags gestanden. Oder sie habe sich

nach dem Einschlag der Bombe um die verwundeten

Wachmannschaften und anderen Aufseherinnen

gekümmert, sie aus den Trümmern geborgen, verbunden,

versorgt. Sie habe nicht an die Kirche gedacht, sei nicht

in der Nähe der Kirche gewesen, habe den Brand in der

Kirche nicht gesehen und die Rufe aus der Kirche nicht

gehört.

Der Vorsitzende Richter machte einer Angeklagten

nach der anderen denselben Vorhalt. Der Bericht lese

sich anders. Das war mit Bedacht vorsichtig formuliert.

Zu sagen, daß es im Bericht, der sich in den Akten der SS

gefunden hatte, anders stand, wäre falsch gewesen. Aber

richtig war, daß er sich anders las. Er erwähnte namentlich,

wer im Pfarrhaus getötet und wer verwundet worden

war, wer die Verwundeten mit dem Lastwagen in ein

9

120 Lazarett transportiert und wer den Transport im

Kübelwagen begleitet hatte. Er erwähnte, daß

Aufseherinnen zurückgeblieben waren, um das Ende der

Brände abzuwarten, ein Übergreifen zu verhindern und

Fluchtversuche im Schutz der Brände zu unterbinden. Er

erwähnte den Tod der Gefangenen.

Daß die Namen der Angeklagten nicht unter den

aufgeführten Namen waren, sprach dafür, daß die

Angeklagten zu den zurückgebliebenen Aufseherinnen

gehört hatten. Daß die Aufseherinnen zurückgeblieben

waren, um Fluchtversuche zu verhindern, sprach dafür,

daß mit der Bergung der Verwundeten aus dem Pfarrhaus

und der Abfahrt des Transports ins Lazarett nicht schon

alles vorbei war. Die zurückgebliebenen Aufseherinnen

hatten, so las es sich, den Brand in der Kirche toben

lassen und die Türen der Kirche geschlossen gehalten.

Unter den zurückgebliebenen Aufseherinnen waren, so

las es sich, die Angeklagten gewesen.

Nein, sagte eine Angeklagte nach der anderen, so sei es

nicht gewesen. Der Bericht sei falsch. Das sehe man schon

daran, daß er von der Aufgabe der zurückgebliebenen

Aufseherinnen rede, ein Übergreifen der Brände zu

verhindern. Wie hätten sie diese Aufgabe erfüllen sollen.

Sie sei Unsinn, und ebenso sei die andere Aufgabe,

Fluchtversuche im Schutz der Brände zu verhindern,

Unsinn. Fluchtversuche? Als sie sich nicht mehr um die

eigenen hätten kümmern müssen und um die anderen, die

Gefangenen, hätten kümmern können, sei nichts mehr zu

fliehen gewesen. Nein, der Bericht verkenne ganz und gar,

was sie in der Nacht gemacht, geleistet und gelitten hätten.

121

Wie es zu einem derart falschen Bericht kommen könne?

Sie wüßten es auch nicht.

Bis die behäbig-gehässige Angeklagte dran war. Sie

wußte es. »Fragen Sie die da!« Sie zeigte mit dem Finger

auf Hanna. »Sie hat den Bericht geschrieben. Sie ist an

allem schuld, sie allein, und mit dem Bericht hat sie das

vertuschen und uns reinziehen wollen.«

Der Vorsitzende fragte Hanna. Aber es war seine letzte

Frage. Seine erste Frage war: »Warum haben Sie nicht

aufgeschlossen?«

»Wir waren… wir hatten…« Hanna suchte nach der

Antwort. »Wir wußten uns nicht anders zu helfen.«

»Sie wußten sich nicht anders zu helfen?«

»Einige von uns waren tot, und die anderen haben

sich davongemacht. Sie haben gesagt, daß sie die

Verwundeten ins Lazarett schaffen und wiederkommen,

aber sie wußten, daß sie nicht wiederkommen, und wir

haben es auch gewußt. Vielleicht sind sie auch gar nicht

ins Lazarett gefahren, so schlimm verletzt waren die

Verwundeten nicht. Wir wären auch mitgefahren, aber

sie haben gesagt, die Verwundeten brauchen den Platz,

und sie haben sowieso nichts… waren sowieso nicht

scharf darauf, so viele Frauen mit dabei zu haben. Ich

weiß nicht, wohin sie sind.«

»Was haben Sie gemacht?«

»Wir haben nicht gewußt, was wir machen sollen. Es

ging alles so schnell, und das Pfarrhaus hat gebrannt und

der Kirchturm, und die Männer und Autos waren eben

noch da, und dann waren sie weg, und auf einmal waren

wir allein mit den Frauen in der Kirche. Irgendwas an

122 Waffen haben sie zurückgelassen, aber wir haben nicht

damit umgehen können, und wenn wir’s gekonnt hätten –

was hätte uns das geholfen, uns paar Frauen? Wie hätten

wir die vielen Frauen bewachen sollen? So ein Zug streckt

sich lange hin, auch wenn man ihn zusammenhält, und so

eine lange Strecke zu bewachen, braucht man viel mehr

als uns paar.« Hanna machte eine Pause. »Dann fing das