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Der andere Hauptanklagepunkt galt der Bombennacht,
mit der alles zu Ende ging. Die Wachmannschaften und
Aufseherinnen hatten die Gefangenen, mehrere hundert
Frauen, in die Kirche eines Dorfs gesperrt, das von den
meisten Einwohnern verlassen worden war. Es fielen nur
ein paar Bomben, vielleicht für eine nahe Eisenbahnlinie
gedacht oder eine Fabrikanlage oder auch nur
abgeworfen, weil sie von einem Angriff auf eine größere
Stadt übrig waren. Die eine traf das Pfarrhaus, in dem die
Wachmannschaften und Aufseherinnen schliefen. Eine
andere schlug in den Kirchturm ein. Zuerst brannte der
Turm, dann das Dach, dann stürzte das Gebälk lodernd in
den Kirchenraum hinab, und das Gestühl fing Feuer. Die
schweren Türen hielten stand. Die Angeklagten hätten sie
aufschließen können. Sie taten es nicht, und die in der
Kirche eingeschlossenen Frauen verbrannten.
104 6
Für Hanna hätte die Verhandlung nicht schlechter laufen
können. Schon bei ihrer Vernehmung zur Person hatte
sie auf das Gericht keinen guten Eindruck gemacht.
Nach der Verlesung der Anklage meldete sie sich, weil
etwas nicht stimme; der Vorsitzende Richter wies sie
irritiert zurecht, vor Eröffnung des Hauptverfahrens
habe sie die Anklage lange genug studieren und ihre
Einwendungen erheben können, jetzt sei man in der
Hauptverhandlung, und was an der Anklage stimme und
nicht stimme, werde die Beweisaufnahme zeigen. Als zu
Beginn der Beweisaufnahme der Vorsitzende Richter
vorschlug, auf die Verlesung der deutschen Fassung
des Buchs der Tochter zu verzichten, da sie, von einem
deutschen Verlag zur Veröffentlichung vorbereitet,
allen Beteiligten im Manuskript zugänglich gemacht
worden war, mußte Hanna von ihrem Anwalt unter
dem irritierten Blick des Vorsitzenden Richters dazu
überredet werden, sich einverstanden zu erklären. Sie
wollte nicht. Sie wollte auch nicht akzeptieren, daß sie
bei einer früheren richterlichen Vernehmung zugegeben
hatte, den Schlüssel zur Kirche gehabt zu haben. Sie habe
den Schlüssel nicht gehabt, niemand habe den Schlüssel
105
gehabt, es habe den einen Schlüssel zur Kirche gar nicht
gegeben, sondern mehrere Schlüssel zu mehreren Türen,
und die hätten von außen in den Schlössern gesteckt.
Aber im Protokoll ihrer richterlichen Vernehmung, von
ihr gelesen und unterschrieben, stand es anders, und
daß sie fragte, warum man ihr etwas anhängen wolle,
machte die Sache nicht besser. Sie fragte nicht laut, nicht
rechthaberisch, aber beharrlich und dabei, wie ich fand,
sicht- und hörbar verwirrt und ratlos, und daß sie davon
redete, man wolle ihr etwas anhängen, meinte sie nicht
als Vorwurf der Rechtsbeugung. Aber der Vorsitzende
Richter verstand es so und reagierte mit Schärfe. Hannas
Anwalt sprang auf und legte los, eifrig und hastig, wurde
gefragt, ob er sich den Vorwurf seiner Mandantin zu eigen
mache, und setzte sich wieder.
Hanna wollte es richtig machen. Wo sie meinte, ihr
geschehe Unrecht, widersprach sie, und sie gab zu, was
ihres Erachtens zu Recht behauptet und vorgeworfen
wurde. Sie widersprach beharrlich und gab bereitwillig
zu, als erwerbe sie durch das Zugeben das Recht zum
Widerspruch oder übernehme mit dem Widersprechen
die Pflicht zuzugeben, was sie redlicherweise nicht
bestreiten konnte. Aber sie merkte nicht, daß ihre
Beharrlichkeit den Vorsitzenden Richter ärgerte. Sie
hatte kein Gefühl für den Kontext, für die Regeln, nach
denen gespielt wurde, für die Formeln, nach denen sich
ihre Äußerungen und die der anderen zu Schuld und
Unschuld, Verurteilung und Freispruch verrechneten. Ihr
Anwalt hätte, um ihr fehlendes Gefühl für die Situation
zu kompensieren, mehr Erfahrung und Sicherheit
haben oder auch einfach besser sein müssen. Oder
106 Hanna hätte es ihm nicht so schwer machen dürfen; sie
verweigerte ihm offensichtlich ihr Vertrauen, hatte aber
auch keinen Anwalt ihres Vertrauens gewählt. Ihr Anwalt
war ein Pflichtverteidiger, vom Vorsitzenden bestellt.
Manchmal hatte Hanna eine Art von Erfolg. Ich
erinnere mich an ihre Vernehmung zu den Selektionen im
Lager. Die anderen Angeklagten bestritten, damit irgendwann
irgend etwas zu tun gehabt zu haben. Hanna gab
so bereitwillig zu, daran teilgenommen zu haben, nicht
als einzige, aber wie die anderen und mit ihnen, daß der
Vorsitzende Richter meinte, in sie dringen zu müssen.
»Wie liefen die Selektionen ab?«
Hanna beschrieb, daß sich die Aufseherinnen
verständigt hatten, aus ihren sechs gleich großen
Zuständigkeitsbereichen gleich große Gefangenenzahlen
zu melden, jeweils zehn und insgesamt sechzig, daß die
Zahlen aber bei niedrigem Krankenstand im einen und
hohem im anderen Zuständigkeitsbereich divergieren
konnten und daß alle diensthabenden Aufseherinnen
letztlich gemeinsam beurteilten, wer zurückgeschickt
werden sollte.
»Keine von Ihnen hat sich entzogen, Sie haben alle
gemeinsam gehandelt?«
»Ja.«
»Haben Sie nicht gewußt, daß Sie die Gefangenen in
den Tod schicken?«
»Doch, aber die neuen kamen, und die alten mußten
Platz machen für die neuen.«
»Sie haben also, weil Sie Platz schaffen wollten, gesagt:
Du und du und du mußt zurückgeschickt und umgebracht
werden?«
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Hanna verstand nicht, was der Vorsitzende damit
fragen wollte.
»Ich habe… ich meine… Was hätten Sie denn gemacht?«
Das war von Hanna als ernste Frage gemeint. Sie wußte
nicht, was sie hätte anders machen sollen, anders machen
können, und wollte daher vom Vorsitzenden, der alles zu
wissen schien, hören, was er gemacht hätte.
Einen Moment lang war es still. Es gehört sich in
deutschen Strafverfahren nicht, daß Angeklagte Richtern
Fragen stellen. Aber nun war die Frage gestellt, und
alle warteten auf die Antwort des Richters. Er mußte
antworten, konnte die Frage nicht übergehen oder mit
einer tadelnden Bemerkung, einer zurückweisenden
Gegenfrage wegwischen. Allen war es klar, ihm selbst
war es klar, und ich verstand, warum er den Ausdruck
der Irritation zu seiner Masche gemacht hatte. Er hatte
ihn zu seiner Maske gemacht. Hinter ihr konnte er sich
ein bißchen Zeit nehmen, um die Antwort zu finden. Aber
nicht zuviel; je länger er wartete, desto größer wuchsen
Spannung und Erwartung, desto besser mußte die
Antwort werden.
»Es gibt Sachen, auf die man sich einfach nicht
einlassen darf und von denen man sich, wenn es einen
nicht Leib und Leben kostet, absetzen muß.«
Vielleicht hätte es genügt, wenn er dasselbe gesagt,
dabei aber über Hanna oder auch sich selbst geredet hätte.
Davon zu reden, was man muß und was man nicht darf
und was einen was kostet, wurde dem Ernst von Hannas
Frage nicht gerecht. Sie hatte wissen wollen, was sie in
ihrer Situation hätte machen sollen, nicht daß es Sachen
gibt, die man nicht macht. Die Antwort des Richters wirkte
hilflos, kläglich. Alle empfanden es. Sie reagierten mit
enttäuschtem Aufatmen und schauten verwundert auf
Hanna, die den Wortwechsel gewissermaßen gewonnen
hatte. Aber sie selbst blieb in Gedanken.
»Also hätte ich… hätte nicht… hätte ich mich bei
Siemens nicht melden dürfen?«
Das war keine Frage an den Richter. Sie sprach vor sich
hin, fragte sich selbst, zögernd, weil sie sich die Frage
noch nicht gestellt hatte und zweifelte, ob es die richtige
Frage und was die Antwort war.
109
Wie die Beharrlichkeit, mit der Hanna widersprach,
den Vorsitzenden Richter ärgerte, so ärgerte die
Bereitwilligkeit, mit der sie zugab, die anderen
Angeklagten. Für deren Verteidigung, aber auch für
Hannas eigene Verteidigung war sie fatal.
Eigentlich war die Beweislage für die Angeklagten
günstig. Beweismittel für den ersten Hauptanklagepunkt
waren ausschließlich das Zeugnis der überlebenden
Mutter, ihrer Tochter und deren Buch. Eine gute
Verteidigung hätte, ohne die Substanz der Aussagen
von Mutter und Tochter anzugreifen, glaubhaft
bestreiten können, daß gerade die Angeklagten die
Selektionen vorgenommen hatten. Insoweit waren
die Zeugenaussagen nicht präzise und konnten nicht
präzise sein; immerhin gab es einen Kommandanten,
Wachmannschaften, weitere Aufseherinnen und eine
Aufgaben- und Befehlshierarchie, mit der die Gefangenen
nur partiell konfrontiert wurden und die sie nur
entsprechend partiell durchschauen konnten. Ähnlich
war es beim zweiten Anklagepunkt. Mutter und Tochter
waren in der Kirche eingesperrt gewesen und konnten
über das, was draußen passiert war, keine Aussagen ma-
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110 chen. Die Angeklagten konnten zwar nicht vorgeben, nicht
dort gewesen zu sein. Die anderen Zeugen, die damals in
dem Dorf gelebt hatten, hatten mit ihnen gesprochen
und erinnerten sich an sie. Aber diese anderen Zeugen
mußten aufpassen, daß auf sie nicht der Vorwurf fiel,
sie hätten selbst die Gefangenen retten können. Wenn
nur die Angeklagten da waren – konnten dann die
Bewohner des Dorfs die paar Frauen nicht überwältigen
und selbst die Türen der Kirche aufschließen? Mußten sie
nicht auf eine Linie der Verteidigung einschwenken, bei
der die Angeklagten unter einem auch sie, die Zeugen,
entlastenden Zwang handelten? Unter der Gewalt oder
dem Befehl von Wachmannschaften, die doch noch
nicht geflohen waren oder von denen die Angeklagten
immerhin angenommen hatten, sie seien nur kurz weg,
etwa um Verwundete in ein Lazarett zu schaffen, und bald
wieder zurück?
Als die Verteidiger der anderen Angeklagten merkten,
daß solche Strategien an Hannas bereitwilligem Zugeben
scheiterten, stellten sie auf eine Strategie um, die das
bereitwillige Zugeben ausnutzte, Hanna be- und dadurch
die anderen Angeklagten entlastete. Die Verteidiger
taten es mit fachlicher Distanz. Die anderen Angeklagten
sekundierten mit empörten Einwürfen.
»Sie haben gesagt, Sie hätten gewußt, daß Sie die
Gefangenen in den Tod schicken – das gilt nur für Sie,
nicht wahr? Was Ihre Kolleginnen gewußt haben, können
Sie nicht wissen. Sie können es vielleicht vermuten, aber
letztlich nicht beurteilen, nicht wahr?«
Hanna wurde vom Anwalt einer anderen Angeklagten
befragt.
111
»Aber wir alle wußten…«
»›Wir‹, ›wir alle‹, zu sagen ist einfacher, als ›Ich‹ zu
sagen, ›ich allein‹, nicht wahr? Stimmt es, daß Sie, Sie
allein, im Lager Ihre Schützlinge hatten, junge Mädchen
jeweils, eines für eine Weile und dann für eine Weile ein
anderes?«
Hanna zögerte. »Ich glaube, daß ich nicht die einzige
war, die…«
»Du dreckige Lügnerin! Deine Lieblinge – das war
deines, deines allein!« Eine andere Angeklagte, eine
derbe Frau, nicht ohne gluckenhafte Behäbigkeit und
zugleich mit gehässigem Mundwerk, war sichtbar erregt.
»Könnte es sein, daß Sie ›wissen‹ sagen, wo Sie
allenfalls glauben können, und ›glauben‹, wo Sie einfach
erfinden?« Der Anwalt schüttelte den Kopf, als nehme
er ihre bejahende Antwort bekümmert zur Kenntnis.
»Stimmt es auch, daß alle Ihre Schützlinge, wenn Sie
ihrer überdrüssig waren, in den nächsten Transport nach
Auschwitz kamen?«
Hanna antwortete nicht.
»Das war Ihre spezielle, Ihre persönliche Selektion,
nicht wahr? Sie wollen sie nicht mehr wahrhaben, Sie
wollen sie verstecken hinter etwas, was alle gemacht
haben. Aber…«
»0 Gott!« Die Tochter, die sich nach ihrer Vernehmung
unter die Zuschauer gesetzt hatte, schlug die Hände
vors Gesicht. »Wie habe ich das vergessen können?«
Der Vorsitzende Richter fragte sie, ob sie ihre Aussage
ergänzen wolle. Sie wartete nicht, bis sie nach vorne
gerufen wurde. Sie stand auf und redete von ihrem Platz
unter den Zuschauern aus.
112
»Ja, sie hatte Lieblinge, immer eine von den jungen,
schwachen und zarten, und die nahm sie unter ihren
Schutz und sorgte, daß sie nicht arbeiten mußten, brachte
sie besser unter und versorgte und verköstigte sie besser,
und abends holte sie sie zu sich. Und die Mädchen
durften nicht sagen, was sie abends mit ihnen machte,
und wir dachten, daß sie mit ihnen… auch weil sie alle
in den Transport kamen, als hätte sie mit ihnen ihren
Spaß und sie dann sattgehabt. Aber so war es gar nicht,
und eines Tages hat doch eines geredet, und wir haben
gewußt, daß die Mädchen ihr vorgelesen haben, Abend
um Abend um Abend. Das war besser, als wenn sie… auch
besser, als wenn sie sich an dem Bau zu Tode gearbeitet
hätten, ich muß gedacht haben, daß es besser war, sonst
hätte ich es nicht vergessen können. Aber war es besser?«
Sie setzte sich.
Hanna drehte sich um und sah mich an. Ihr Blick fand
mich sofort, und so merkte ich, daß sie die ganze Zeit
gewußt hatte, daß ich da war. Sie sah mich einfach an.
Ihr Gesicht bat um nichts, warb um nichts, versicherte
oder versprach nichts. Es bot sich dar. Ich erkannte, wie
angespannt und erschöpft sie war. Sie hatte Ringe unter
den Augen, und in jeder Backe führte eine Falte von oben
nach unten, die ich nicht kannte, die noch nicht tief war,
sie aber schon wie eine Narbe zeichnete. Als ich unter
ihrem Blick rot wurde, wandte sie ihn ab und kehrte sich
wieder der Gerichtsbank zu.
Der Vorsitzende Richter wollte von dem Anwalt, der
Hanna befragt hatte, wissen, ob er noch Fragen an
die Angeklagte habe. Er wollte es von Hannas Anwalt
wissen.
Frag sie, dachte ich. Frag sie, ob sie die schwachen und
zarten Mädchen gewählt hat, weil sie die Arbeit auf dem
Bau ohnehin nicht verkrafteten, weil sie ohnehin mit dem
nächsten Transport nach Auschwitz kamen und weil sie
ihnen den letzten Monat erträglich machen wollte. Sag’s,
Hanna. Sag, daß du ihnen den letzten Monat erträglich
machen wolltest. Daß das der Grund war, die Zarten und
Schwachen zu wählen. Daß es keinen anderen Grund gab,
keinen geben konnte.
Aber der Anwalt fragte Hanna nicht, und sie sprach
nicht von sich aus.
114 Die deutsche Fassung des Buchs, das die Tochter über
ihre Zeit im Lager geschrieben hatte, erschien erst nach
dem Prozeß. Während des Prozesses war das Manuskript
zwar schon vorhanden, aber nur den Prozeßbeteiligten
zugänglich. Ich mußte das Buch auf Englisch lesen, damals
ein ungewohntes und mühsames Unterfangen. Und wie
stets schaffte die fremde Sprache, die nicht beherrscht
und mit der gekämpft wird, ein eigentümliches Zugleich
von Distanz und Nähe. Man hat sich das Buch besonders
gründlich erarbeitet und doch nicht zu eigen gemacht. Es
bleibt so fremd, wie die Sprache fremd ist.
Jahre später habe ich es wiedergelesen und entdeckt,
daß das Buch selbst Distanz schafft. Es lädt nicht zur
Identifikation ein und macht niemanden sympathisch,
weder Mutter noch Tochter, noch die, mit denen beide in
verschiedenen Lagern und schließlich in Auschwitz und bei
Krakau das Schicksal geteilt haben. Die Barackenältesten,
Aufseherinnen und Wachmannschaften läßt es gar nicht
erst so viel Gesicht und Gestalt gewinnen, daß man sich
zu ihnen verhalten, sie besser oder schlechter finden
könnte. Es atmet die Betäubung, die ich schon zu be-
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115
schreiben versucht habe. Aber das Vermögen, zu
registrieren und zu analysieren, hat die Tochter unter
der Betäubung nicht verloren. Und sie hat sich nicht
korrumpieren lassen, nicht durch Selbstmitleid und
nicht durch das Selbstbewußtsein, das sie spürbar daraus
gezogen hat, daß sie überlebt und die Jahre in den Lagern
nicht nur verkraftet, sondern literarisch gestaltet hat. Sie
schreibt über sich und ihr pubertäres, altkluges und, wenn
es sein muß, durchtriebenes Verhalten mit derselben
Nüchternheit, mit der sie alles andere beschreibt.
Hanna kommt im Buch weder mit Namen noch sonst
erkennbar und identifizierbar vor. Manchmal glaubte
ich, sie in einer Aufseherin zu erkennen, die jung, schön
und in der Erfüllung ihrer Aufgaben von gewissenloser
Gewissenhaftigkeit geschildert wurde, aber ich war nicht
sicher. Wenn ich die anderen Angeklagten betrachtete,
konnte nur Hanna die geschilderte Aufseherin sein. Aber
es hatte weitere Aufseherinnen gegeben. In einem Lager
hatte die Tochter eine Aufseherin erlebt, die »Stute«
genannt wurde, ebenfalls jung, schön und tüchtig, aber
grausam und unbeherrscht. An die erinnerte sie die
Aufseherin im Lager. Hatten auch andere den Vergleich
gezogen? Wußte Hanna davon, erinnerte sie sich daran
und war sie darum betroffen, als ich sie mit einem Pferd
verglich?
Das Lager bei Krakau war für Mutter und Tochter die
letzte Station nach Auschwitz. Es war ein Fortschritt; die
Arbeit war schwer, aber leichter, das Essen war besser,
und es war besser, zu sechs Frauen in einem Raum als zu
hundert in einer Baracke zu schlafen. Und es war wärmer;
die Frauen konnten auf dem Weg von der Fabrik ins Lager
116 Holz aufsammeln und mitnehmen. Es gab die Angst vor
den Selektionen. Aber auch sie war nicht so schlimm
wie in Auschwitz. Sechzig Frauen wurden jeden Monat
zurückgeschickt, sechzig von rund zwölfhundert; da hatte
man selbst dann eine Überlebenserwartung von zwanzig
Monaten, wenn man nur durchschnittliche Kräfte besaß,
und man konnte immerhin hoffen, stärker als der
Durchschnitt zu sein. Überdies durfte man erwarten, daß
der Krieg schon in weniger als zwanzig Monaten zu Ende
sein würde.
Das Elend begann mit der Auflösung des Lagers und
dem Aufbruch der Gefangenen nach Westen. Es war
Winter, es schneite, und die Kleidung, in der die Frauen
in der Fabrik gefroren und es im Lager einigermaßen
ausgehalten hatten, war ganz unzureichend, und noch
unzureichender war das Schuhwerk, oft Lappen und
Zeitungspapier, so gebunden, daß sie beim Stehen und
Gehen zusammenhielten, aber nicht so zu binden, daß
sie lange Märsche über Schnee und Eis hätten aushalten
können. Die Frauen marschierten auch nicht nur; sie
wurden gehetzt, mußten laufen. »Todesmarsch?« fragt
die Tochter im Buch und antwortet: »Nein, Todestrab,
Todesgalopp.« Viele brachen unterwegs zusammen,
andere standen nach den Nächten in einer Scheune oder
auch nur an einer Mauer nicht mehr auf. Nach einer
Woche war fast die Hälfte der Frauen tot.
Die Kirche war ein besseres Obdach als die Scheunen
und Mauern, die die Frauen davor gehabt hatten. Wenn sie
an verlassenen Höfen vorbeigekommen waren und übernachtet
hatten, hatten die Wachmannschaften und Aufse117
herinnen die Wohngebäude für sich genommen. Hier, im
weitgehend verlassenen Dorf, konnten sie das Pfarrhaus
für sich nehmen und den Gefangenen immer noch mehr
als eine Scheune oder Mauer lassen. Daß sie es taten und
daß es im Dorf sogar einen warmen Sud zu essen gab,
erschien wie die Verheißung eines Endes des Elends. So
schliefen die Frauen ein. Wenig später fielen die Bomben.
Solange nur der Turm brannte, war das Feuer in der
Kirche zu hören, aber nicht zu sehen. Als die Turmspitze
brach und in den Dachstuhl schlug, dauerte es noch mal
Minuten, bis der Schein des Feuers zu sehen war. Dann
tropften auch schon die Flammen herab und entzündeten
Kleider, herabstürzende brennende Balken setzten das
Gestühl und die Kanzel in Brand, und binnen kurzem
krachte der Dachstuhl ins Kirchenschiff und brannte alles
lichterloh.
Die Tochter meint, die Frauen hätten sich retten
können, wenn sie sich sofort gemeinsam daran gemacht
hätten, eine der Türen aufzubrechen. Aber bis sie gemerkt
hatten, was passiert war, was passieren würde und daß
ihnen nicht aufgeschlossen wurde, war es zu spät. Es war
dunkle Nacht, als der Einschlag der Bombe sie aufweckte.
Eine Weile lang hörten sie nur ein befremdliches,
beängstigendes Geräusch im Turm und waren ganz still,
um das Geräusch besser hören und deuten zu können.
Daß es das Prasseln und Knattern eines Feuers, daß es
Feuerschein war, was ab und zu hell hinter den Fenstern
zuckte, daß der Schlag, den es über ihren Köpfen tat, das
Übergreifen des Feuers vom Turm aufs Dach bedeutete
– die Frauen begriffen es erst, als der Dachstuhl sichtbar
brannte. Sie begriffen es und schrien auf, schrien in
Entsetzen, schrien um Hilfe, stürzten zu den Türen,
rüttelten daran, schlugen dagegen, schrien.
Als der brennende Dachstuhl ins Kirchenschiff krachte,
hegte die Hülle der Mauern das Feuer wie ein Kamin. Die
meisten Frauen sind nicht erstickt, sondern in den hell
und laut lodernden Flammen verbrannt. Am Ende hatte
das Feuer sogar die eisenbeschlagenen Kirchentüren
durchbrannt, durchglüht. Aber das war Stunden später.
Mutter und Tochter überlebten, weil die Mutter aus
den falschen Gründen das Richtige tat. Als die Frauen
in Panik gerieten, konnte sie es nicht mehr unter ihnen
aushalten. Sie floh auf die Empore. Daß sie dort den
Flammen näher war, war ihr egal, sie wollte nur allein
sein, weg von den schreienden, hin und her drängenden,
brennenden Frauen. Die Empore war schmal, so schmal,
daß sie vom brennenden Gebälk kaum getroffen wurde.
Mutter und Tochter standen an die Wand gepreßt und
sahen und hörten das Wüten des Feuers. Sie trauten
sich am nächsten Tag nicht hinunter und hinaus. In
der Dunkelheit der folgenden Nacht fürchteten sie, die
Stufen der Treppe und den Weg zu verfehlen. Als sie im
Morgengrauen des übernächsten Tags aus der Kirche
kamen, begegneten sie einigen Bewohnern des Dorfs, die
sie fassungs- und wortlos anstarrten, ihnen aber Kleider
und Essen gaben und sie ziehen ließen.
119
»Warum haben Sie nicht aufgeschlossen?«
Der Vorsitzende Richter stellte einer Angeklagten nach
der anderen dieselbe Frage. Eine Angeklagte nach der
anderen gab dieselbe Antwort. Sie habe nicht aufschließen
können. Warum? Sie sei beim Einschlag der Bombe ins
Pfarrhaus verwundet worden. Oder sie habe unter dem
Schock des Einschlags gestanden. Oder sie habe sich
nach dem Einschlag der Bombe um die verwundeten
Wachmannschaften und anderen Aufseherinnen
gekümmert, sie aus den Trümmern geborgen, verbunden,
versorgt. Sie habe nicht an die Kirche gedacht, sei nicht
in der Nähe der Kirche gewesen, habe den Brand in der
Kirche nicht gesehen und die Rufe aus der Kirche nicht
gehört.
Der Vorsitzende Richter machte einer Angeklagten
nach der anderen denselben Vorhalt. Der Bericht lese
sich anders. Das war mit Bedacht vorsichtig formuliert.
Zu sagen, daß es im Bericht, der sich in den Akten der SS
gefunden hatte, anders stand, wäre falsch gewesen. Aber
richtig war, daß er sich anders las. Er erwähnte namentlich,
wer im Pfarrhaus getötet und wer verwundet worden
war, wer die Verwundeten mit dem Lastwagen in ein
9
120 Lazarett transportiert und wer den Transport im
Kübelwagen begleitet hatte. Er erwähnte, daß
Aufseherinnen zurückgeblieben waren, um das Ende der
Brände abzuwarten, ein Übergreifen zu verhindern und
Fluchtversuche im Schutz der Brände zu unterbinden. Er
erwähnte den Tod der Gefangenen.
Daß die Namen der Angeklagten nicht unter den
aufgeführten Namen waren, sprach dafür, daß die
Angeklagten zu den zurückgebliebenen Aufseherinnen
gehört hatten. Daß die Aufseherinnen zurückgeblieben
waren, um Fluchtversuche zu verhindern, sprach dafür,
daß mit der Bergung der Verwundeten aus dem Pfarrhaus
und der Abfahrt des Transports ins Lazarett nicht schon
alles vorbei war. Die zurückgebliebenen Aufseherinnen
hatten, so las es sich, den Brand in der Kirche toben
lassen und die Türen der Kirche geschlossen gehalten.
Unter den zurückgebliebenen Aufseherinnen waren, so
las es sich, die Angeklagten gewesen.
Nein, sagte eine Angeklagte nach der anderen, so sei es
nicht gewesen. Der Bericht sei falsch. Das sehe man schon
daran, daß er von der Aufgabe der zurückgebliebenen
Aufseherinnen rede, ein Übergreifen der Brände zu
verhindern. Wie hätten sie diese Aufgabe erfüllen sollen.
Sie sei Unsinn, und ebenso sei die andere Aufgabe,
Fluchtversuche im Schutz der Brände zu verhindern,
Unsinn. Fluchtversuche? Als sie sich nicht mehr um die
eigenen hätten kümmern müssen und um die anderen, die
Gefangenen, hätten kümmern können, sei nichts mehr zu
fliehen gewesen. Nein, der Bericht verkenne ganz und gar,
was sie in der Nacht gemacht, geleistet und gelitten hätten.
121
Wie es zu einem derart falschen Bericht kommen könne?
Sie wüßten es auch nicht.
Bis die behäbig-gehässige Angeklagte dran war. Sie
wußte es. »Fragen Sie die da!« Sie zeigte mit dem Finger
auf Hanna. »Sie hat den Bericht geschrieben. Sie ist an
allem schuld, sie allein, und mit dem Bericht hat sie das
vertuschen und uns reinziehen wollen.«
Der Vorsitzende fragte Hanna. Aber es war seine letzte
Frage. Seine erste Frage war: »Warum haben Sie nicht
aufgeschlossen?«
»Wir waren… wir hatten…« Hanna suchte nach der
Antwort. »Wir wußten uns nicht anders zu helfen.«
»Sie wußten sich nicht anders zu helfen?«
»Einige von uns waren tot, und die anderen haben
sich davongemacht. Sie haben gesagt, daß sie die
Verwundeten ins Lazarett schaffen und wiederkommen,
aber sie wußten, daß sie nicht wiederkommen, und wir
haben es auch gewußt. Vielleicht sind sie auch gar nicht
ins Lazarett gefahren, so schlimm verletzt waren die
Verwundeten nicht. Wir wären auch mitgefahren, aber
sie haben gesagt, die Verwundeten brauchen den Platz,
und sie haben sowieso nichts… waren sowieso nicht
scharf darauf, so viele Frauen mit dabei zu haben. Ich
weiß nicht, wohin sie sind.«
»Was haben Sie gemacht?«
»Wir haben nicht gewußt, was wir machen sollen. Es
ging alles so schnell, und das Pfarrhaus hat gebrannt und
der Kirchturm, und die Männer und Autos waren eben
noch da, und dann waren sie weg, und auf einmal waren
wir allein mit den Frauen in der Kirche. Irgendwas an
122 Waffen haben sie zurückgelassen, aber wir haben nicht
damit umgehen können, und wenn wir’s gekonnt hätten –
was hätte uns das geholfen, uns paar Frauen? Wie hätten
wir die vielen Frauen bewachen sollen? So ein Zug streckt
sich lange hin, auch wenn man ihn zusammenhält, und so
eine lange Strecke zu bewachen, braucht man viel mehr
als uns paar.« Hanna machte eine Pause. »Dann fing das